Ein anständiges Zittern im Bauch hatte der Sin’dor natürlich dennoch sehr wohl, als er einige Tage später zum Blackrock Mountain aufbrach. Schließlich wollte er nicht einfach eben mal in Brill oder Fairbreeze Village einen Einkauf erledigen. Die Blackrock Orcs waren übelst berüchtigt, und Stian hatte nicht vor, sich auch nur mit einem einzigen von ihnen anzulegen. Nein, das Ganze musste völlig lautlos von sich gehen, sonst konnte er gleich aufgeben und sich von den Blackrocks abschlachten lassen. Er hatte sich mit ausreichend Blitz- und Blendepulver eingedeckt und etliche Bandagen und Heiltränke eingepackt, aber wenn es soweit kam, dass er letzteres würde anwenden müssen, wäre es wahrscheinlich ohnehin schon zu spät. Und dennoch, dennoch… Trotz der Gefahr, oder vielleicht gerade wegen ihr, fühlte der Schurke sich auf seiner Schleichtour durch den Blackrock Spire seltsam beschwingt. Etliche Male musste er dicht an feindlichen Orcs vorbei, und etliche Male hielten diese inne und wandten lauschend den Kopf, doch Stian verhielt sich in diesen Fällen totenstill, wagte nicht einmal zu atmen, und nach einer Weile drehten sie sich wieder weg und nahmen ihre vorigen Tätigkeiten wieder auf. Alle… bis auf einen besonders gründlichen Krieger, der sich nicht beruhigte, sondern nachsehen kam… und Stian in der dunklen Ecke entdeckte, in der er zur Bewegungslosigkeit erstarrt war. Natürlich schlug der Orc Alarm und stellte sich dem Blutelfen zum Kampf, und als dieser sah, dass etliche andere Gegner angerannt kamen, blieb ihm nichts anderes übrig, als das Blitzpulver anzuwenden und sich auf gut Goblinisch zu empfehlen. Glücklicherweise klappte der Trick: Die Orcs starrten ausnahmslos in den hellen Schein und den Rauch, und Stian konnte indessen an ihnen vorbei in eine andere dunkle Ecke verschwinden. Wie nicht anders zu erwarten, bliesen die Blackrocks sofort zur Jagd auf den Eindringling, aber ihre Suche brachte nichts ein, und irgendwann gaben sie es auf. Puuuh. Das war gerade noch einmal gutgegangen…
Hinter den Wohnstätten der Ocrs begann Spinnengebiet. Das war sogar noch schwieriger zu durchquerendes Gelände als die Orc-Behausungen, denn die riesigen Arachniden huschten auf völlig unvorhersehbare Weise hin und her, und es bedeutete keine geringe Anstrengung, ihnen so aus dem Weg zu gehen, dass sie den schleichenden Schurken nicht bemerkten und somit auch nicht angriffen. Eine auffällig große Spinne im Besonderen versperrte Stian den Weg: ‚Mother Smolderweb‘ sollte dieses Riesenvieh heißen, hatte Kibler ihm erzählt, und ihn ausdrücklich vor ihr gewarnt. Nun, dieser Warnung hätte es kaum bedurft, denn die gigantische Arachnide jagte dem Sin’dor gewaltigen Respekt ein, und er machte einen so großen Umweg um sie herum, wie es in der beengten Höhle nur irgendwie ging.
Aber endlich war er hindurch, hatte das Spinnengebiet hinter sich gelassen. Hier patrouillierten jetzt Oger, denen es sich leichter ausweichen ließ als den Orcs, und dann, nach einigen weiteren Gängen und Treppen und hastig durchquerten Kreuzungen hatte er es geschafft: Der Worgzwinger lag vor ihm. Es war ein großer, offener Raum, in dem die Tiere frei herumliefen, aufmerksam beobachtet von einem mächtigen Worgweibchen. ‚Halycon‘ werde es von den Blackrock-Orcs gerufen, hatte Kibler Stian anvertraut. Auch um die Wölfin machte der Blutelf einen großen Bogen und schlich sich dicht an der Wand entlang in den hinteren Teil des Zwingers. Dort hatte er einen kleinen Welpen ausgemacht, der ein Stück entfernt von seinen Wurfgeschwistern und seiner Mutter für sich allein im Stroh herumtapste – da war es ja, das perfekte Ziel. Stian pirschte sich an das kleine Tier heran, wartete den, wie er meinte, richtigen Augenblick ab und warf dann in einer schnellen, von sofortigem Zupacken gefolgten Bewegung seinen Mantel über den Welpen. Der kleine Worg fiepste und kläffte erschrocken auf, und dieses Geräusch alarmierte die anderen Wölfe im Zwinger. Wie von einem einzigen Willen beseelt, stürzten sie sich laut knurrend auf Stian, der ein weiteres Mal schleunigst zu einer kräftigen Dosis Blitzpulver griff. Und wieder hatte der Schurke Glück: Der stechende Rauchgeruch verwirrte die feinen Nasen der vierbeinigen Jäger und lenkte sie dermaßen ab, dass sie seine Spur verloren und er sich aus dem Zwinger davonmachen konnte.
Der Rückweg war ein Kinderspiel. Stian hatte den kleinen Wolf fest unter seinem Mantel geborgen, und, vielleicht eingelullt von der Wärme und der Dunkelheit darin, war dieser eingeschlafen und gab keinen Laut von sich. Außerdem kannte der Sin’dor den Weg nun schon und wusste, wo und wie man am besten den Orcs auswich – und es gelang ihm sogar noch, unterwegs die Spinneneier einzusammeln, nach denen Kibler gefragt hatte. Auf einer wahren Woge des Hochgefühls schlich Stian sich aus dem Berg, brachte dem Goblin triumphierend die Spinneneier vorbei und kehrte dann der Brennenden Stepppe den Rücken, um sich eine Weile lang der Erziehung seines neuen vierbeinigen Freundes zu widmen. Diese ging schneller vonstatten als erwartet: Der kleine Worg erwies sich als überaus zutraulich, anhänglich und lernbegierig, und schon bald folgte Jinn, wie Stian den braunen Welpen nannte, dem Schurken überall hin und gehorchte brav aufs Wort.
All diese Dinge, die Beschäftigung mit Jinn, die zahlreichen Missionen, die Stian erledigte, füllten seine Zeit so aus, dass er kaum registrierte, wie er mit jedem Tag, der verging, an Erfahrung gewann. In seinen wachen Stunden kam er kaum zum Nachdenken; nur nachts, wenn er wieder einmal in einem Gasthausbett lag und nicht einschlafen konnte, vermisste er Riná mit einer Intensität, die ihn beinahe körperlich schmerzte.
Aber endlich, endlich war es soweit: Als der Sin’dor wieder einmal in Ravenholdt Schatullen ablieferte, an deren Schlössern sich die jungen Nachwuchs-Schurken würden versuchen können, teilte Lord Ravenholdt ihm höchstpersönlich und hochoffiziell mit, dass er in Outland verlangt werde.
Stian war überglücklich und sandte umgehend eine Nachricht an Riná. Dass es soweit sei und dass er gerne mit ihr zusammen die Scherbenwelt betreten wolle, und wo und wann sie sich treffen könnten. Doch eine Antwort erhielt er nicht. Nun, es war ja in der Vergangenheit auch schon vorgekommen, dass Riná in der Wildnis unterwegs gewesen war und keinen Zugang zu einem Briefkasten gehabt hatte, aber als der Blutelf nach über einer Woche noch immer keine Antwort erhalten hatte, fing er langsam an, sich Gedanken zu machen. Mit jedem Tag, an dem er nichts von Riná hörte, wuchs seine Unruhe, seine Besorgnis. Über die Orc-Kriegerin Waraka kontaktierte er nach einer Weile Rinás Zwilling Haniko, die sich auch tatsächlich bei ihm meldete, aber ihn wissen ließ, dass sie selbst schon länger nicht mit ihrer Schwester in Kontakt gewesen sei. Stian schrieb seiner Liebsten erneut, dann ein drittes Mal, diesmal über den besonderen Zustelldienst, bei dem die Postreiter die Nachricht nicht einfach an einem Briefkasten ablieferten, sondern den Adressaten tatsächlich körperlich aufsuchten, aber wieder ohne Erfolg.
Stians Sorge war indessen ins Unermessliche gewachsen, so sehr, dass er sich kaum auf seine neuen Missionen in den Pestländern und Silithus konzentrieren konnte. An nichts anderes konnte er denken als an die Priesterin und ihr Schweigen. Und als sein erster Brief schließlich ungeöffnet zurückkam und die anderen beiden kurze Zeit darauf folgten, da traf der Schurke eine Entscheidung. Ja, er hatte versprochen, dass er nur mit Riná zusammen in die Scherbenwelt aufbrechen würde. Und eigentlich hatte er fest vorgehabt, sich an dieses Versprechen zu halten. Aber sie war verschollen, das hier war ein Notfall. Und er hielt die Untätigkeit einfach nicht länger aus. Er musste etwas unternehmen.
Jetzt würde er selbst nach Outland aufbrechen. Er würde Riná finden!