Der Flug in die Felswüste von Thousand Needles dauerte viel zu lange für den tief besorgten Shynassar. In Freewind Post angekommen, erfuhren die beiden Sin’dorei, dass es tatsächlich ein „Darkcloud Pinnacle“ gab. Dabei handelte es sich um die größte Ansiedlung des Grimtotem-Clans, die ein Stück nordwestlich vom Stützpunkt zu finden war und sich, durch Seilbrücken miteinander verbunden, auf drei der namensgebenden Felsnadeln befand, ganz ähnlich wie Thunder Bluff und der Freewind Post selbst.
Man lebte miteinander in Feindschaft, ließ sich aber die meiste Zeit über in Ruhe: So lange die Dunkeltauren nicht gerade wieder einmal einen ihrer zahlreichen Raubzüge durchführten und in ihre Schranken gewiesen werden mussten, stellten die Zentaurenclans der Gegend die größere und aktivere Bedrohung dar.
Nun, vermutete Shynassar grimmig, das konnte sich nur zu bald ändern. Aber wenn sich die Tauren vom Freewind Post aufgrund dessen, was vielleicht bald geschehen würde, mit gesteigerten feindlichen Aktivitäten seitens der Grimtotems konfrontiert sehen würden, dann konnte er das nicht ändern. Das war ein Preis, den er für Liliés Rettung zu zahlen bereit war, und die Lady Silberblatt, auch wenn sie so wenig Emotionen zeigte wie eh und je, offensichtlich ebenso.
Es war kein sonderlich weiter Marsch; nur etwa eine Wegstunde durch die zerklüfteten Canyons von Thousand Needles, dann standen der Magier und die Ritterin der Schwarzen Klinge in der Deckung eines Felsens am Fuß des Darkcloud Pinnacle und sondierten die Lage.
Die feindlichen Tauren hatten sich nicht die Mühe gemacht, einen Aufzug zu ihrer Stadt zu bauen, oder vielleicht hatten sie das als zu großes Sicherheitsrisiko erachtet. Stattdessen wand sich nur ein schmaler, steiler Trampelpfad die Felsnadel hinauf, der von patrouillierenden Wachen gesichert wurde.
Kyuri Silberblatt räumte diese einzelnen Wachtposten mit der ihr eigenen kühlen Effizienz beiseite, geradezu beiläufig und schnell genug, dass keiner von ihnen eine Chance hatte, Alarm zu geben.
Auf dem ersten Felsplateau angekommen, sahen die beiden Elfen sich hastig um, nachdem die Todesritterin die drei dort um ein Feuer postierten Wachen ebenfalls ausgeschaltet hatte.
Das Dorf der Grimtotems erstreckte sich über drei Felsnadeln, wobei einer der Gipfel von weitem eindeutig nach einer rituellen Kultstätte aussah. Blieben zwei Hochplateaus übrig, und eines davon war bebauter als das andere, wirkte „zivilisierter“, also nahmen die beiden Suchenden sich diesen Teil des Darkcloud Pinnacle als erstes vor.
In dieser beengten Umgebung, wo eine Seilbrücke den einzigen Zugang zu der Felsnadel darstellte, wurde es schwieriger, unbemerkt an den Dunkeltauren vorbeizukommen, doch auch das gelang.
Einige Grimtotems mussten sie natürlich auch hier beiseiteschaffen, doch wenigstens wurde kein allgemeiner Alarm in der Ansiedlung ausgelöst. Von den überrumpelten Tauren konnten sie noch zwei oder drei befragen, und alle sagten übereinstimmend aus, dass die Magistrix Sonnenlauf tatsächlich noch immer hier sei.
Die Hütte der Magistrix befand sich am hinteren Rand der Nadel und war erstaunlicherweise unbewacht – oder vielleicht auch nicht so erstaunlicherweise, weil die Dunkeltauren der Sin’dorja wohl ihre Privatsphäre gönnen wollten und sie außerdem an einem der sichersten Orte des Darkcloud Pinnacle untergebracht war.
[Die während unserer RP-Session ständig respawnenden Tauren-Mobs wurden von uns in-time kurzerhand ignoriert und ooc einfach immer wieder schnell weggebombt.]
Shynassar, der von drinnen einen leisen Schmerzenslaut hörte, vergaß jede Vorsicht und rief mit lauter Stimme den Namen der Magistrix. Dies veranlasste Kyuri, ihm einen scharfen Seitenblick zuzuwerfen und sich mit gezogenem Schwert noch wachsamer in Position zu stellen als ohnehin schon.
Aus der Hütte ertönte eine kalte, arrogante Stimme. „Ah, der edle Retter. Ich habe schon erwartet, dass Ihr kommt.“ Ein höhnisches Auflachen, dann erschien Sonnenlauf in der Tür, und der Patriziersohn sah sich zum ersten Mal der abtrünnigen Sin’dorja gegenüber. Ihr makelloses Gesicht war so kalt wie ihre Stimme, die blonden Haare zu einem strengen Knoten hochgebunden, die Augen hart und gefühllos. Doch hinter der Kälte, hinter der Überheblichkeit irrlichterte in ihren Augen eine Besessenheit, die an Wahnsinn grenzte oder diese Grenze inzwischen bereits überschritten hatte.
Lady Silberblatt hob ihr Schwert und stürmte auf die Magistrix zu – doch schnell wie die Runenritterin reagierte, die Magierin war schneller. Sionná Sonnenlauf hob die Hände, machte eine von einigen düsteren Worten, die Shynassar nicht auf Anhieb erkennen konnte, begleitete Geste des Fortstoßens, und Kyuri wurde mehrere Meter nach hinten geschleudert. Die Ritterin stolperte, suchte mit rudernden Händen nach einem Halt, doch vergeblich – und dann taumelte sie über die Kante der Felsnadel nach hinten weg und fiel lautlos in die Tiefe.
[Das war vorher abgesprochen. Einmal um des Dramas willen und um zu zeigen, wie mächtig die Magistrix war, aber natürlich auch und vor allem, damit Kyuris Spieler auf Lilié umloggen konnte.]
Als die Klingenritterin aus dem Weg geschafft war, wollte Magistrix Sonnenlauf sich Shynassar zuwenden. Aber ehe sie dazu kam, erschien aus der Hütte eine weitere Störung – Schimár Arima. Die Schurkin – in den letzten Stunden desillusioniert und konsterniert über die Methoden der Magierin und jetzt der Meinung, dass diese mit ihrer rücksichtslosen Eliminierung Kyuris zu weit gegangen war – schlich sich an die Magistrix heran, um von hinten zuzuschlagen, war jedoch auch nicht erfolgreich damit, weil die abtrünnige Elfin auch ihre Annäherung bemerkte und sie beinahe beiläufig mit demselben Zauber zurück ins Zelt schleuderte.
[Warum Schimár überhaupt anwesend war, lag ooc daran, dass ihre Spielerin mitbekam, dass wir on waren und dass wir jetzt nicht etwa questen, sondern am Plot weiterspielen würden, und sie sich gerne am RP beteiligen wollte. Also überlegten wir uns, welchen Grund es für die Anwesenheit des Charakters am Ort des Geschehens geben könnte, und während Shynassar und Kyuri sich noch auf dem Weg zum Darkcloud Pinnacle befanden, kam Schimár bereits dort an und konnte noch ein wenig mit der Magistrix interagieren, ehe die „Action“ begann.
Sionná in Vorbereitung des RPs dorthin zu bringen, war übrigens auch schon ein ziemlicher Aufwand. Als reiner NSC hatte die gute Magistrix gerade mal Stufe 2 oder allerhöchstens Stufe 3 erreicht. Aber im Durchsterben um des RP-Zwecks willen bin ich ja inzwischen geschult. ;) Immerhin war gerade Valentinsfest, und ein kurz zuvor gefundenes „reizendes schwarzes Kleid“ stellte das perfekte Outfit für die selbstverliebte Magierin dar)]
Die junge Schurkin hatte ja, wie bereits weiter oben erwähnt, ihren Tod vorgetäuscht, um den Kar’a Kal zu entkommen. Nach Überwindung ihrer Blutdistelsucht (was sie unter anderem auch in die Taurenlande führte, wo sie zuerst dem vermissten und gedächtnislos herumirrenden Ryo Shirogane und später auch Svarric begegnete, allerdings natürlich ohne zu wissen, dass es sich bei ersterem um den besten Freund des Jägers handelte – aber das ist wieder mal eine ganz andere Geschichte :)) fand sie sich in einer gewissen Geldnot wieder und nahm daher die unterschiedlichsten Aufträge an. Und einer davon war eben gewesen, sich bei einer der Schurkin bis dahin unbekannten Magierin als Leibwächterin zu verdingen. Anfangs war es ein Job wie jeder andere gewesen, die Magistrix Sonnenlauf nach Thousand Needles zu begleiten, selbst dann noch, als einige finster aussehende Forsaken eine Gefangene bei der strenggesichtigen Sin’dorja ablieferten. Denn das war ja etwas, das Schimár schon von klein auf kannte und somit weder verwunderte noch schockte. Was jedoch sogar für die ehemalige Auftragsmörderin zu viel war, das war die Art und Weise, wie Sonnenlauf Lilié behandelte. Denn die Magistrix – tatsächlich längst jenseits der Schwelle zum Wahnsinn – begann ihre vormalige Studentin systematisch und aufs Grausamste zu foltern, um die „Lektionen ein für alle Mal unwiderruflich in ihr zu verankern“, wie sie sagte, und um die anstehende Transformation vorzubereiten. Schimár betrachtete all dies mit immer größerem Misstrauen, und der Punkt, an dem sie genug hatte, fiel eben aus dramaturgischen Gründen mit Shynassars und Kyuris Ankunft zusammen.
[Ausgespielt haben wir das Gefoltere übrigens nicht, wie man sich vorstellen kann. Dass Schimár die Magistrix nach 1000N begleitet hatte und auch dabei war, als Lilié abgeliefert wurde, hatten wir ja ohnehin erst im Nachhinein noch hinzugefügt, und die eigentliche Interaktion im Spiel begann ja erst, als die Folter schon mehr oder weniger abgeschlossen war und Lilié schon die Besinnung verloren hatte.]
Es folgte ein ungleicher Kampf, den anfangs völlig die Magistrix in der Hand hatte. Sie konnte knapp zweihundert Jahre Erfahrung in den arkanen Künsten aufbieten; Shynassar hingegen war zwar graduierter Student der magischen Akademie, aber eben noch immer Student, und an Kraft wie an Kenntnissen kam er ihr nicht gleich.
Arkanes Geschoss um arkanes Geschoss flog in rasender Geschwindigkeit und knisternd vor Macht auf Shynassar zu, und der junge Adlige hatte alle Mühe, die einzelnen Bolzen greifbar gewordener Energie mit seinen eigenen Zaubern abzulenken oder ihnen auszuweichen. Daran, selbst einen Angriff auf Sonnenlauf zu lenken, war kaum zu denken, und wenn es ihm dann doch einmal gelang, einen vergleichsweise schwachen Feuerball abzuschießen, schnippte die Magistrix diesen mit geradezu beleidigender Leichtigkeit aus dem Weg.
Schimár versuchte es noch einmal mit einem mundanen Dolchangriff von hinten, doch auch diesem wich die abtrünnige Sin’dorja mühelos aus und schleuderte die junge Schurkin mit einem beiläufigen „Euch widme ich mich später“ wieder zur Seite.
Weil weltliche Waffen also nicht zu wirken schienen, widmete sich Schimár lieber der inzwischen langsam und unter großen Schmerzen zu sich kommenden Lilié.
Der einseitige Kampf dauerte eine ganze Weile. Shynassar merkte, wie seine Kräfte langsam nachzulassen begannen, wie seine Verteidigungssprüche immer schleppender zündeten, wie er einmal kaum noch beiseite springen konnte, als die Magistrix zum wiederholten Male denselben Rückstoßzauber anwandte, der auch Kyuri in den Tod hatte stürzen lassen. Lange würde er das nicht mehr durchhalten, aber langsam bildete sich der Schatten einer Idee, und so begann er, in seine Abwehrzauber und den gelegentlichen Angriff eine weitere Komponente hineinzuweben, vorsichtig, fast unmerklich, um Sonnenlauf nicht vorzuwarnen.
Und dann war es so weit, des jungen Magiers Vorbereitungen abgeschlossen, das Netz bis auf den letzten Faden gesponnen. Noch immer wehrte er fast ausschließlich die Angriffe der verrückt gewordenen Blutelfin ab; seine Feuerbälle Nadelstiche, die er ihr nur deswegen versetzte, damit sie ihre Kraft nicht weiter bündeln konnte und wesentlich von ihrem bisherigen Angriffsschema abwich. Und schließlich geschah das, worauf Shynassar gewartet und gehofft hatte, auch wenn er alles andere als sicher war, dass sein verzweifelter Plan funktionieren würde.
Sionná Sonnenlauf wirkte wieder einen Rückstoß auf ihn, was der Patriziersohn inzwischen an ihren Handbewegungen und Worten erkennen konnte, und im selben Moment schloss er in einer winzigen Geistesanstrengung das vorbereitete arkane Gewebe und legte all seine verbliebene Kraft in einen einzigen Zauber. Einen Schildzauber. Oder genauer einen Spiegelzauber, der nicht nur ihren Angriff abfing, sondern ihn in vollem Umfang auf sie zurückwarf.
Was er erwartet hatte, dass genau passieren würde, konnte Shynassar hinterher gar nicht mehr sagen. Dass sie einen Augenblick lang außer Gefecht sein würde, so dass Schimár eine Chance hätte, sie mit der Klinge in Schach zu halten, vielleicht. Oder dass er im Moment ihrer Benommenheit trotz seiner Verausgabung doch noch einen Spruch auf sie würde loslassen können.
Doch es kam anders. Sein Spiegelzauber traf die Magistrix voll und überraschend und völlig ohne Gegenwehr. Die Sin’dorja wurde nach hinten geschleudert, zurück in die Taurenhütte – und prallte mit voller Wucht gegen eine der Holzsäulen, die deren Decke trugen.
Ein erstickter Aufschrei, ein Zucken nach dem Aufschlag am Boden, dann lag die abtrünnige Magierin still.
Shynassar vergewisserte sich nur kurz, dass Sonnenlauf für den Moment keine Gefahr mehr darstellte, ehe er zu Lilié eilte. Es war Schimár, die die Magistrix genauer untersuchte und feststellte, dass diese tot war, dass sie sich bei dem Zusammenstoß mit dem Zeltpfosten den Hals gebrochen hatte. Der Sin’dor nahm die Information erstaunlich beteiligungslos zur Kenntnis – er hätte Triumph verspüren müssen, oder wenigstens Zufriedenheit, aber in dieser Sekunde war ihm Liliés Zustand wichtiger als alles andere.
Und dieser Zustand war alles andere als gut: Die Magierin, die während des Kampfes langsam wieder zu Bewusstsein gekommen war, hatte Verletzungen am ganzen Körper, außerdem schien es, als sei mindestens eine Rippe gebrochen, und vor allem trug ihr Gesicht wieder eine Narbe, an derselben Stelle, aber frisch und rot hervorstehend und wenn möglich noch gezackter und breiter als zuvor.
Aber sie lebte. Sie lebte, und sie mussten alle schleunigst von hier fort, weil der Kampf viel zu lange gedauert hatte und durch den Lärm des magischen Duells natürlich doch noch Grimtotems aus dem Rest des feindlichen Taurendorfes angelockt hatte.
Die Seilbrücke zur Hauptnadel war versperrt, und die ersten Tauren kamen auch schon mit erhobenen Waffen und drohenden Gebärden auf sie zu.
Shynassar sah sich hektisch um, dann fiel sein Blick auf den Rand, über den Kyuri gestürzt war.
„Vertraut Ihr mir?“, fragte er die Schurkin hastig, was ihrerseits ein geknurrtes „Niemals!“ zur Folge hatte. Der Magier schnaubte, schoss ein „Ihr werdet wohl trotzdem müssen!“ zurück und wirkte auf sie alle den Zauber des langsamen Falls. Mit der noch immer halb besinnungslosen Lilié in den Armen trat er über den Rand und ins Leere, und ob die ehemalige Kar’a Kal ihnen folgte oder lieber ihr Glück gegen die anstürmende Taurenmeute versuchen wollte, war ihm in diesem Moment herzlich gleichgültig. Er hatte ihr die Möglichkeit zur Rettung geboten; wenn ihr Misstrauen derart tief saß, dass sie sich lieber einer vielfachen Übermacht entgegenstellte, dann konnte er ihr nicht helfen.
Doch Schimár schien nach einem schnellen Blick in die Runde doch der Meinung zu sein, dass sie alleine gegen die Grimtotems keine Chance haben würde, und sprang nach kurzem Zögern ebenfalls in die Tiefe.
Der Zauber des langsamen Falls hatte den gewünschten Effekt: Unbeschadet kamen alle drei unten an. Shynassar sah sich sofort nach Lady Silberblatts Leichnam um, weil er die sterblichen Überreste seiner Beschützerin nicht einfach in der Wüste liegenlassen, sondern einem anständigen Begräbnis zuführen wollte. Aber es war keine Leiche zu finden – weder dort, wo sie eigentlich hätte aufgeprallt sein müssen, noch in der näheren Umgebung dieses Ortes. Normalerweise hätte der Magier noch wesentlich ausführlicher weitergesucht, doch schon war zu hören, wie sich von dem Bergpfad, der sich die Felsnadel hinaufwand, ihre Verfolger näherten, und so musste er auf Drängen der beiden Sin’dorjei, vor allem Schimárs, die Suche abbrechen.
Und dann, oben auf dem Freewind Post, geschah etwas, das Shynassar auch Wochen, nein Monate, später beim besten Willen nicht verstehen konnte, wenn er daran zurückdachte. Er sprach die Schurkin direkt auf ihre offen zur Schau gestellte Abneigung an – denn eigentlich hatten sie ja eben noch zusammen gekämpft, mehr oder weniger jedenfalls, und warum Schimár ihm nun sofort wieder so feindselig gegenübertrat, das wollte ihm nicht in den Kopf.
Denn es schlug ihm fast so etwas wie Hass von ihr entgegen, und er wollte wissen, warum.
Von Schimár kam keine klare Antwort, zumindest keine, mit der der junge Adlige etwas hätte anfangen können. Sie schien ihm vorzuwerfen, dass er Svarric im Stich gelassen habe während der Kindheit in ihrem Elternhaus, so sehr, dass sie ihm plötzlich sogar das Messer an den Hals setzte. Doch Shynassar hatte während seiner Jugend nach bestem Wissen und Gewissen alles getan, was er konnte, um seinem jüngsten Bruder zu helfen – und geradeheraus aussprechen wollte die braunhaarige Sin’dorja nicht, was sie ihm nun genau vorwarf, oder warum sie überhaupt ein Interesse an ihm und seiner Kindheit hatte.
Shynassar nahm das achselzuckend und vergleichsweise gelassen hin, weil er Schimár ohnehin nicht verstand.
Lilié hingegen verlor völlig die Beherrschung, als sie die Identität der Schurkin erfuhr, und beinahe wäre es zum Kampf zwischen den beiden Frauen gekommen, um ein Haar hätten sie einander tatsächlich Gewalt angetan, ehe Schimár grollend verschwand.
Liliés Vehemenz erschreckte den jungen Adeligen, und er wollte sich zwischen die beiden Sin’dorjei stellen und vermitteln. Das allerdings brachte ihm den Zorn beider Frauen ein, und als Schimár schließlich knurrend verschwand, hatte Shynassar seine liebe Mühe, die maskierte Magierin wieder einigermaßen zu versöhnen.
Lilié war es mehr als unangenehm an diesem Ort. Nur zu bewusst war sie sich der Tatsache, dass die naturverbundenen Tauren in ihr den Makel der dämonenverseuchten Magie spüren konnten, die sie unter dem Zwang der Magistrix hatte anwenden müssen, und dass auch die Spuren ihrer früheren Blutdistelsucht nur allzu deutlich noch immer in ihren Augen zu sehen waren. Die spürbare Verachtung des Gastwirts Abeqwa hätte Lilié beinahe dazu veranlasst, trotz ihres Zustandes weiterzureisen, aber Shynassar bestand darauf, dass sie blieben.
Ihre schier unerträgliche Pein war fast genauso schlimm für den Magier, der es kaum ertragen konnte, sie so zu sehen. Er versuchte einen kürzlich erlernten Zauber anzuwenden, der ihr einen Teil der Schmerzen abnehmen und auf ihn übertragen sollte, doch da hatte er die Rechnung ohne seine Liebste gemacht. Die Magierin wäre ihm, schwach wie sie war, beinahe an die Gurgel gegangen. Sie müsse dies alleine durchstehen, es gebe rein gar nichts, was er tun könne. Oder besser, dies ebenfalls durchzuhalten, tatenlos dabeizustehen und sie leiden zu sehen, das sei eben seine Prüfung.
Und so wurde es für beide eine endlos lange Nacht, in der keiner von beiden Sin’dorei ein Auge zutat.