New Orleans – Tage des Teufels (Achéron – Prolog)

Warnung für die Diaries zu „New Orleans – Tage des Teufels“:
Diese Geschichte ist ziemlich extrem, und auch ziemlich bitter. Es werden Themen wie Gewalt und Kindesmissbrauch angesprochen, und es kommt eine Vergewaltigung darin vor. Nicht explizit in den Diaries ausgesprochen, sondern nur angedeutet, aber diese Themen durchziehen die Geschichte. Ein oder zwei Sexszenen gibt es auch. Wer mit solchen Dingen ein Problem hat, sollte diese Beiträge vielleicht nicht lesen.

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Devil’s Moth

Die Klimaanlage war mal wieder kaputt, deswegen hatten wir alle Türen und Fenster unseres Proberaums weit aufgerissen. Das brachte natürlich gar nichts, im Gegenteil: Die schwere, feuchte Luft draußen war immer noch warm wie eine Wolldecke und kroch in trägen Wellen in und durch den Raum. Sie brachte das Parfüm des French Quarters mit sich: Süße Kräuter, Magnolien und den dunkel-erdigen Geruch des Sumpfes, der sich überall festsetzte.

Will schraubte an der Klimaanlage herum und summte tonlos vor sich hin, während ich ihm über die Schulter schaute und versuchte, ihm Tipps zu geben – völlig sinnlos, wie immer. Will war ein sturer Hund und überzeugt davon, dass er ein goldenes Händchen für Technik hatte. Das war in den Feldern Nebraskas vielleicht auch so gewesen, aber mit dem ständig feuchten Klima in New Orleans stand er auf Kriegsfuß.
Sandy hatte einige Ventilatoren aufgestellt und drehte sie hin und her, um die optimale Luftströmung zu finden. Neben ihr lag ein aufgeschlagenes Physikbuch mit komplizierten Diagrammen, das sie hin und wieder durch ihre dicken Brillengläser anblinzelte. Sie war hübsch ohne die Brille, aber genau deshalb trug sie sie. Sandy wollte keine Typen, die um sie herumschwärmten. Ich dachte erst, sie wäre schüchtern, aber so langsam kam ich dahinter, dass sie einfach zufrieden mit sich und ihren Büchern war.

Der einzige, dem die Hitze nichts auszumachen schien, war Ash. Er saß auf einem unserer unförmigen Probebeutel – zusammengenähte Zottelfelle in absurden Farben, die wir mit Styroporkugeln und Sand gefüllt hatten – und spielte gedankenverloren auf seiner Gitarre. Wie üblich, wenn er nachdachte, fanden seine Finger die Akkorde von selbst, und er spielte eine komplexe, aber süße Melodie, die mich an Magnolienbäume und einen alten Galgen erinnerte.

Wir waren alle Außenseiter: Will mit seinem breiten Nebraska-Slang und den goldenen Haaren, die aussahen wie ein unordentlicher Strohhaufen. Er war von seiner Farm weggelaufen, weil er Musik machen wollte, weil er die Welt kennen lernen wollte, und weil er seine Augen nicht von den mexikanischen Feldarbeitern und ihren kräftigen, muskulösen Körpern lassen konnte. Er wohnte irgendwo zu Untermiete bei einem älteren Mann, den er „Ma’am“ nannte, und verdiente einen Haufen Geld damit, sich an andere ältere Männer zu verkaufen. Trotzdem wirkte er frisch und unschuldig, so, als wäre er gerade mit dem Pferdewagen in die große Stadt gekommen und als müsste er immer noch nach Heu und Stall riechen.

Sandy lebte davon, alte Bücher zu restaurieren. Sie liebte Bücher und hatte immer Leim und Papierfetzen an ihren Fingern und ihrer Kleidung kleben. Sie las alles, und sie konnte alles, was sie je gelesen hatte, im Kopf behalten. Ich glaube, wir waren alle ein bisschen verliebt ihn sie, aber sie schien es nie zu merken. Vielleicht wollte sie es auch nur nicht wissen.

Ich war der typische verlorene Junge – Waisenkind, aufgewachsen bei Pflegefamilien, ohne Wurzeln, ohne Zukunft. Ich hatte nicht viel Hoffnung auf irgendwas und gefiel mir hin und wieder in ziellosem Zynismus und allgemeiner Misanthropie, aber das konnte kaum überdecken, wie sehr ich mich nach einer Zuflucht sehnte. Die anderen nahmen meine seltenen Wutanfälle, hysterischen Schimpfreden und die gelegentlichen Drogenexzesse gelassen hin, und so langsam fing ich an, den anderen zu vertrauen.

Ash – Achéron – war wahnsinnig. Er glaubte, dass der Teufel mit ihm sprach und ihn dazu bringen wollte, schlimme Dinge zu tun. Abgesehen von ein paar merkwürdigen, einseitigen Gesprächen schien er aber völlig harmlos, also akzeptierten wir seine Behauptungen als Teil von ihm, wie Sandys Brille oder Wills jungenhaftes Grinsen. Er hatte eine reiche Familie, mit der er genauso wenig anfangen konnte wie sie mit ihm. Ab und zu ging er nach Hause, aber meistens lebte er irgendwo im French Quarter – bei einem Freund, in einer leeren Wohnung, manchmal auch in einer alten Kirche. Im Moment wohnte er im Probenraum, genau wie ich.

Er hatte seinen Namen unserer Band zu verdanken. Eigentlich hießen wir Devil’s Mouth – weil der Teufel Ash die Texte einflüsterte, wie er behauptete. Aber eines Tages kamen Ash und Will auf die Idee, ein Bandplakat zu malen. Völlig bekifft, wie sie beide waren, vergaßen sie das „u“ und schrieben nur „Devil’s Moth“. Das erschien uns allen ein passender Name für Ash, der vorher anders hieß. Aber der alte Name hatte sich nie wirklich wie seiner angefühlt. Sandy war es, die uns erzählte, dass die Totenkopfmotte, die man auch Teufelsmotte nannte, auf Latein Acherontia Atropos heißt. So war Achéron für unseren Sänger und Texter geboren, und Devil’s Moth für die Band.

Meistens hingen wir im Probenraum herum, rauchten Pott oder tranken Absinth mit absonderlichen Saftkombinationen. Hin und wieder übten wir: Sandy auf ihrem alten Keyboard, Will auf seinem neuen Drumkit, ich auf meinem vertrauten Bass und Ash mit seiner Gitarre. Meistens musste ich singen, obwohl Ash die bessere Stimme hatte. Ich hatte sie ein paar Mal gehört – eine samtweiche Stimme, Honig über Flusskieseln, hell und dunkel zugleich. Aber er wollte nie singen, und an jenem Abend fanden wir alle heraus, warum.

Wir hatten einen Auftritt in einer schummrigen Kneipe im Quarter. Meistens hingen dort nur abgewrackte Drogensüchtige oder müde Huren herum, aber heute hatte sich eine erstaunlich große Menge junger Menschen in fantastischen Kostümen versammelt. Lange Kleider aus dem vorletzten Jahrhundert, Gehröcke, Zylinder; aber auch Netzstoffe, die die blasse Haut nur unzureichend bedeckten, lackierte Masken, hartes dunkles Leder, tiefroter Samt. Devil’s Moth hatte sich einen Ruf gemacht unter diesen Kindern der Nacht, und heute waren sie gekommen, um uns zu sehen, zu tanzen und zu vergessen, was ihnen an dieser Welt nicht gefiel.

Ash war nervös. Er murmelte unablässig vor sich hin, ab und zu gestikulierte er wild und abgehackt, nur um seine Hände einen Augenblick später wieder hart zu umklammern. Ich dachte, er wäre so aufgeregt, weil er singen musste – ich hatte mir meine Stimme bei einem anderen Konzert ziemlich kaputt geschrien und brachte keinen Ton heraus.
Kurz bevor es los ging, kam er zu mir und stieß leise hervor: „Neil, das ist keine gute Idee… ich sollte nicht singen.“ Seine Augen waren geweitet und irrlichterten seltsam, aber ich schob das auf den Roten Absinth, den wir vorher getrunken hatten.
„Das klappt schon“, krächzte ich und grinste aufmunternd. „Komm schon, du kannst uns jetzt nicht im Stich lassen.“
Ash wurde noch ein bisschen blasser. „Du verstehst nicht, Neil…“, flüsterte er. „Ich… der Teufel…“ Er verstummte jäh und blickte ängstlich zur Seite. „Es wird etwas passieren.“
„Ja“, sagte ich und zwang einen munteren Ton in meine Stimme. Ash war noch nie besonders stabil gewesen, aber heute jagte er mir beinahe Angst ein. Aber wovor?, fragte ich mich selbst. Vor seinem Teufel? „Wir werden das beste Konzert in der ganzen verdammten Stadt geben, das wird passieren! Komm schon – wenn der Teufel in deiner Stimme wohnt, mein Freund, dann benutz ihn. Lass ihn raus, Achéron, sonst wirst du ihn nie los!“
Mit diesen Worten schob ich ihn auf die Bühne. Er sah mich unsicher an, nickte dann aber und griff zu seiner Gitarre.

Bis heute wünschte ich mir, ich hätte das nicht zu ihm gesagt.

Wir spielten. Und wir waren gut. Verdammt gut. Selbst die falschen Töne wirkten geplant. Wir waren noch nie, noch nie so gut gewesen. Ashs Stimme war am Anfang noch zögernd gewesen, aber nach dem ersten Lied verlor er jede Zurückhaltung und grölte, schrie, schmeichelte und tobte wie eine Furie über die Bühne. Das Licht in dem rauchigen, düsteren Raum schien sich um ihn zu sammeln und ihn zum Leuchten zu bringen. Die Menge jubelte ihm frenetisch zu und tanzte wie besessen.

Nach dem dritten Lied merkte ich, das etwas nicht stimmte. Will hinter uns schlug auf seine Trommeln ein, als wollte er die Welt zerschlagen, Sandy hatte ihre Brille irgendwo verloren und irgendetwas wollte, dass ich meine Finger an meinen Saiten blutig schlug. Das Licht um Ash hatte eine ölige, unwirkliche Färbung angenommen und seine Stimme war tiefer, als sie sein sollte. Der schimmernde Glanz rief ein atavistisches, namenloses Entsetzen in mir wach.

Wir spielten weiter. Meine Finger waren voller Blasen. Will hatte sein Drumkit zerschlagen und schlug jetzt mit Händen, Beinen und Kopf nach allem, was ihm geeignet erschien, ein neues Geräusch zu erschaffen. Sandys Hände rasten über das Keyboard, und es war nur noch eine Frage der Zeit, bis auch sie ihr Instrument zerstören würde.
Die Menge war wie ein gefangenes wildes Tier, wie ein einziger zuckender Leib. Ich sah ein Mädchen fallen, ein zartes, feenhaftes Ding, und die Menge sprang über sie hinweg. Sie stand nicht wieder auf. Ash – Achéron – stand im Zentrum dieses unnatürlichen Sturms aus Tönen und Wahnsinn. Sein Mund gab wilde Laute von sich, und seine Hände fuhren über den Hals der Gitarre, als würde er mit ihr kämpfen und einen Punkt suchen, an dem er sie verletzten konnte.

In diesem Moment wusste ich, dass es den Teufel wirklich gibt. Ich konnte ihn ganz klar hinter Ashs aufgerissenen Augen lachen sehen. Ich versuchte, gegen ihn anzukämpfen, aber ich war zu schwach, zu klein, zu hilflos. Ich wusste, dass wir alle sterben oder wahnsinnig werden würden.

Plötzlich, ein dumpfer Schlag. Dann Stille. Bevor ich das Bewusstsein verlor, sah ich Ash auf dem Boden knien, seine zerschmetterte Gitarre neben ihm.

Ich träumte wirre, unzusammenhängende Träume. Ein krampfhaft schlagendes Herz. Eine rauchige Frauenstimme. Altes Pergament im Feuer. Und überall der Geruch nach Rotem Absinth.

Das Aufwachen war mühsam. Als würde ich mich durch zähflüssiges Wasser nach oben kämpfen.

Schließlich öffnete ich meine Augen. Ich war einer der ersten, die wieder zu sich kamen. Um uns herum lagen die Scherben und Überreste der Einrichtung. Der Instrumente. Und mehr als ein Körper, der sich nie wieder regen würde. Will, sein goldenes Haar blutverklebt. Er hatte versucht, den Rhythmus mit seinem Kopf gegen eine Betonsäule zu hämmern. Immer wieder.

Ash kauerte immer noch auf dem Boden. Atmete schwer. Sein Mund war blutig. Er musste sich auf die Zunge gebissen haben, um den Gesang zu durchbrechen.
Mühsam stand ich auf und ging vorsichtig um ihn heraus. Ich konnte das widerliche, ölige Licht immer noch auf seiner hellen Haut sehen. Ich wollte hier nur noch raus, weg aus dem Club, weg von ihm, vor allem weg von ihm. Aber nicht ohne Sandy.

Sie war bewusstlos, aber noch am Leben. Ich hob sie behutsam hoch und trug sie nach draußen, auf meinen schmerzenden, blutigen Händen.

Wir sind nie wieder zurückgegangen zum Probenraum. Oder zu Ash. Ich weiß, dass es nicht seine Schuld ist. Ich weiß, dass er uns alle gerettet hat. Und ich würde gern sagen, dass ich für meinen Freund selbst mit dem Teufel kämpfen würde – aber ich weiß jetzt, dass ich nicht stark genug dafür bin. Es tut mir leid, Achéron. Es tut mir leid.

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