Warnung für die Diaries zu „New Orleans – Tage des Teufels“:
Diese Geschichte ist ziemlich extrem, und auch ziemlich bitter. Es werden Themen wie Gewalt und Kindesmissbrauch angesprochen, und es kommt eine Vergewaltigung darin vor. Nicht explizit in den Diaries ausgesprochen, sondern nur angedeutet, aber diese Themen durchziehen die Geschichte. Ein oder zwei Sexszenen gibt es auch. Wer mit solchen Dingen ein Problem hat, sollte diese Beiträge vielleicht nicht lesen.
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Ich wache auf. Die Sonne scheint durch die Nebelschwaden, die vom Fluss her in das Haus kriechen. Ich habe nichts geträumt. Nur geschlafen. Oder habe ich etwas geträumt? Mir ist, als wäre da eine Melodie in meinem Kopf. Ein Lied. Ansonsten ist es still. Kein Teufel, keine Mutter, niemand. Nur ich, und vielleicht ein Lied. Ich muss ganz leise lachen, weil es so schön ist.
Antoine liegt neben mir und schläft noch. Sein Gesicht sieht ganz ruhig aus. Er riecht nach Schweiß, Moonshine und ein bisschen nach Raubtier. Am liebsten würde ich ihn küssen, aber ich traue mich nicht. Wahrscheinlich würde er das nicht wollen. Stattdessen streiche ich ihm sanft über sein Gesicht.
In meinem Inneren steigen wilde Phantasien empor: Wir könnten zusammen weggehen, er und ich. Irgendwohin, wo der Teufel uns nicht findet. Gemeinsam auf einem Feld arbeiten. In einer Bar. Abends spiele ich Musik, für ihn, für andere. Ich kann sogar singen. Wir wären Freunde. Vielleicht sogar Liebhaber…
Mein Verstand zuckt zurück. Ich weiß, dass das nicht sein kann. Antoine ist keiner von denen, die einen anderen Mann als Liebhaber wollen. Und der Teufel würde mich nicht einfach gehen lassen. Selbst wenn – was würde dann aus Audrey werden? Aus Vater? Es ist nur ein Traum, den ich habe. So ein schöner Traum.
Das Zittern meines Körpers reißt mich aus meiner Spinnerei. Es geht mir nicht gut. Liegt vermutlich an dem Moonshine. Oder am Heroin. Ich sollte das nicht nehmen. Aber gestern zu Audreys Feier wollte ich doch klar im Kopf sein. Hat nicht so recht funktioniert, aber ich glaube, ich habe es einfach zu früh genommen.
Wie paradox: Gerade jetzt, wo mein Verstand sie nicht braucht, ruft mein Körper nach den Drogen.
Ich versuche, mich stattdessen auf das Lied zu konzentrieren, das ich im Schlaf gehört habe. Aber es geht nicht. Etwas fehlt. Unruhig tasten meine Hände nach der Violine, bevor ich mich erinnere: Sie ist gestern zerbrochen. Ich stehe auf, gehe zu meinen anderen Instrumenten. Akkordeon, Gitarre, Banjo, Oboe… nein. Darauf kann ich das Lied nicht finden.
Aber Audrey hat eine Violine. Sie spielt sie nicht, aber Vater hat ihr immer alle Instrumente gekauft, die sie haben wollte. Mir hat er nie eins gekauft. Ich sollte dafür arbeiten, damit ich lerne, dass man in dieser Welt nichts geschenkt bekommt.
Die meisten meiner Instrumente habe ich geschenkt bekommen, wenn auch nicht von ihm. Nur die Violine hatte ich gestohlen.
Audreys Violine liegt im Herrenhaus. Wie soll ich dahin kommen, ohne dass der Teufel mich wieder findet? Antoine schläft immer noch. Ich will ihn nicht mitnehmen. Besser, Vater kriegt ihn nicht zu Gesicht. Außerdem schläft er immer noch so ruhig.
Es ist noch etwas Heroin da. Ich habe gestern nicht alles gebraucht. Vielleicht kann es mich heute wenigstens ein bisschen vor dem Teufel schützen. Ich kann alle Hilfe brauchen, die ich kriege. Also nehme ich einen Schuss, nicht alles, nicht so viel. Meine Hände, die die ganze Zeit gezittert haben, sind ganz ruhig, als ich es aufkoche.
Das Heroin macht auch, dass meine geschundenen Hände nicht mehr so weh tun. Gut. Ich werde sie brauchen, wenn ich Audreys Violine habe.
Bevor ich gehe, decke ich Antoine ordentlich zu. Ich stehe einen Moment vor ihm, unsicher, ängstlich, aber schließlich küsse ich ihn. Auf die Wange. Nur ganz leicht. Nur ein Hauch, aber ich kann seine Wärme an meinen Lippen spüren. Die Wärme fährt mir in den ganzen Körper, stärker als das Heroin.
Ich gehe am Fluss entlang. An einem Steg sitzt der alte Mann, der immer die Kinder mit seinen Geschichten erschreckt. Er wirft mir einen bösen Blick zu. Ich weiß, dass er mich nicht leiden kann. Keine Ahnung, warum. Ist mir heute auch egal.
Meine Schritte werden langsamer, als ich das Herrenhaus erreiche. Ich will da nicht hin. Aber ich brauche die Violine.
Im Garten treffe ich Timothy. Audreys Daddy. Er trägt eine alte Schürze und arbeitet an einem Beet. Ich erinnere mich an Vaters eisigen Blick gestern. Was hat er vor?
„Hallo, Victor“, sagt Timothy. „Kann ich mal mit dir reden?“
„Ich… ja. Aber… mein Name ist Achéron. Ash.“ Es ist das erste Mal, dass ich den Namen auf dem Anwesen sage. Ich habe das Gefühl, dass ich Timothy vertrauen kann. Vielleicht liegt es an dem verlorenen Blick in seinen Augen. Etwas in ihm ist zerbrochen, schon lange, und ich weiß genau, wie sich das anfühlt.
„Du weißt vom Teufel, nicht wahr?“ Er sieht mich durchdringend an.
Ich nicke.
„Es ist etwas vom Teufel auf diesem Anwesen…“, sagt er vorsichtig. „Etwas Böses, das Einfluss auf euch alle ausübt.“
Mir wird kalt. Er redet von mir. Mutter hat immer gesagt, dass ich vom Teufel bin.
Wieder nicke ich.
„Ich bin hier, um es zu zerstören“, erklärt Timothy. „Willst du mir helfen?“
Ich starre ihn an. Er ist hier, um mich zu töten. Jetzt. Aber… mein Lied ist noch nicht fertig.
„Bitte“, sagt er eindringlich. „Es bringt Audrey in Gefahr… willst du sie nicht auch beschützen?“
Audrey. Ja. Er hat recht. Meine Schultern sinken herab. Ich habe Angst, zu sterben. Aber es ist auch eine Erleichterung. Weiß Vater, dass Timothy hier ist, um mich zu töten?
„Ja“, sage ich leise, weil er auf eine Antwort wartet. Ich ziehe mein T-Shirt herunter. Mein Hals liegt frei. „Mach es schnell, bitte.“ Meine Stimme zittert trotz allem. Irgendetwas in mir hängt noch am Leben.
Aber Timothy hebt die schwere Gartenschere in seiner Hand nicht. Er sieht mich nur an.
„Was meinst du?“, fragt er.
„Ich… ich bin das Böse, das du suchst“, erkläre ich ihm. Ich bin erleichtert. Vater hat ihn nicht geschickt, sonst hätte er doch gewusst, dass ich es bin. „Wenn du mich töten willst, um Audrey zu beschützen, dann tu es.“
Timothy weicht zurück. Er lässt die Schere fallen.
„Nein“, sagt er und schüttelt den Kopf. „Das bist nicht du, Junge.“ In seinen Augen liegt ein merkwürdiger Glanz. Was ist das? Mitgefühl? Seltsam. Audrey hat manchmal genau denselben Ausdruck, wenn sie mich anschaut.
Ich hebe die Schere auf und halte sie ihm hin.
„Doch, ich bin… der Teufel spricht mit mir, und er sagt, dass ich ihm gehöre.“
„Junge, der Teufel lügt.“ Tim schüttelt den Kopf. „Das Böse hier bist nicht du. Aber du spürst es… vielleicht würdest du den Teufel nicht mehr hören, wenn es weg wäre. Das wäre für euch alle besser.“
Meine Gedanken rasen. Kann es sein, dass er recht hat? Dass es wirklich nicht an mir liegt? Mutter hat immer gesagt… aber Mutter hat viel gesagt, und nicht alles davon war wahr.
„Großmutter… Großmutter hat mir von dem Teufelspakt erzählt, den Victor L’Ancien geschlossen hat“, erwidere ich zögernd. „Meinst du, es hat etwas damit zu tun?“ Mein Vorfahr hat vor langer Zeit seine Seele und die Seelen seiner Kinder und Kindeskinder für Reichtum und Macht verkauft.“
Timothy nickt. „Ich denke schon. Vielleicht hat er etwas hinterlassen… kannst du mir helfen, es zu finden?“
„Ich weiß nicht…“ Ich habe keine Ahnung, was das sein könnte.
„Aber du hilfst mir?“, drängt Timothy weiter.
Mir kommt eine Idee. „Vielleicht… vielleicht ist es im Labyrinth. Das Labyrinth ist ein Ort des Bösen.“
Es ist ein altes Heckenlabyrinth. Ich glaube, Victor L’Ancien hat es gebaut. Es ist riesig, zumindest kam es mir immer so vor. Im Labyrinth gibt es das Mausoleum, in dem er und alle anderen Sauvageaus begraben liegen. Und die Laube. Die Laube ist schrecklich. In der Laube habe ich den Teufel das erste Mal gehört.
Ich war noch ein kleines Kind, drei oder vier Jahre alt. Mutter hat mich in die Laube gebracht, weil ich gegen eine Regel verstoßen hatte. Dort sollte ich beten, bis sie wiederkommt. Aber sie kam nicht wieder. Und kam nicht. Als es dunkel wurde, fing ich an zu weinen. Es war so unheimlich. Ich hatte solche Angst. Ich blieb nicht da, wie sie gesagt hatte. Ich rannte los. Aber ich fand keinen Ausweg. Egal, wohin ich lief – immer wieder landete ich bei der Laube.
Schließlich hörte ich auf, davonzulaufen. Schlief in der alten Schaukel ein. Träumte von schrecklichen Dingen. Schreckte ständig hoch.
Mutter kam auch am zweiten Tag nicht.
Als es wieder dunkel wurde, hörte ich eine Stimme. Ich lief los, um sie zu finden. Schrie, dass ich hier wäre. Aber die Stimme lockte mich nur in die Irre. Verhöhnte mich. Erzählte mir, dass meine Mutter nie wieder kommen würde. Dass ich jetzt ihr gehören würde. Für immer.
Am dritten Tag kam Mutter zurück. Ich war krank. Der Teufel hatte mich angefasst, und sein Fieber fraß mich auf.
Seither höre ich den Teufel. Ich bin nie wieder in das Labyrinth gegangen. Audrey wollte dort immer spielen, aber ich bin nie mitgegangen.
„Das Labyrinth ist ein böser Ort“, wiederhole ich. „Aber ich kann da nicht hineingehen.“
Timothy lächelt freundlich. „Das macht nichts“, sagt er. „Du hast mir schon geholfen.“ Dann dreht er sich um, packt seine Schere wieder und macht sich auf den Weg. Ich wünsche ihm Glück. Wäre ich nicht so ein Feigling, wäre ich mit gegangen.
Aber ich gehe ins Herrenhaus. Das allein erfordert genug Mut.
Um zu Audreys Musikzimmer zu kommen, muss ich an meinem alten Raum vorbei. Das fällt mir schwer. Es liegt an den Erinnerungen. Der Wandschrank. Die Nische hinter dem Wandschrank. Kahl, staubig, leer. Dunkel. Dort musste ich beten, bis Mutter mich wieder hinaus ließ.
Die Tür steht halb offen, als ich vorbei gehe. Ich kann den Schrank aus dem Augenwinkel sehen. Meine Hände sind nass vor Schweiß.
Ich fliehe ins Musikzimmer und schlage die Tür hinter mir zu. Mein Herz klopft wild, und ich höre ganz leise Mutters Stimme: „Du hast alles falsch gemacht, Victor LePetit. Du musst dafür Buße tun.“
Fast wäre ich auf die Knie gefallen, um zu beten. Aber ich schaffe es zum Klavier. Spiele ein paar Töne. Besser.
Audreys Violine liegt da, wo sie liegen sollte. Ich nehme sie vorsichtig aus der Hülle. Ein edles Instrument, und ich habe einen Moment Angst, dass ich sie kaputt machen könnte. Aber dann erinnern sich meine Hände. Ich nehme sie vorsichtig an die Schulter. Spiele ein paar Töne. Ja, da ist es. Mein Lied.
Es dauert eine Weile, bis ich es richtig habe. Die Melodie, den Text. Ich vergesse die Zeit, den Schmerz in meinen Händen, alles um mich herum. Als der Teufel auftaucht und mit mir reden will, höre ich ihn gar nicht richtig. Das Lied nimmt mich völlig gefangen.
Ich sehe es erst an, als es fertig ist. Plötzlich weiß ich, dass ich es aufschreiben muss. Für Audrey. Damit sie etwas von mir hat, wenn ich nicht mehr da bin.
Das Lied heißt „Goodbye“. Meine anderen Lieder sind alle auf Französisch, aber dieses nicht.