New Orleans – Tage des Teufels (Achéron – Teil 5)

Warnung für die Diaries zu „New Orleans – Tage des Teufels“:
Diese Geschichte ist ziemlich extrem, und auch ziemlich bitter. Es werden Themen wie Gewalt und Kindesmissbrauch angesprochen, und es kommt eine Vergewaltigung darin vor. Nicht explizit in den Diaries ausgesprochen, sondern nur angedeutet, aber diese Themen durchziehen die Geschichte. Ein oder zwei Sexszenen gibt es auch. Wer mit solchen Dingen ein Problem hat, sollte diese Beiträge vielleicht nicht lesen.

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Goodbye

Als ich den letzten Buchstaben geschrieben, die letzte Note gesetzt habe, höre ich wütende Rufe von unten. Jemand schreit „Mörder, Mörder!“.  Es ist Timothys Stimme.

Ich renne nach unten. Die Violine lasse ich liegen. Ich glaube nicht, dass ich sie noch brauchen werde.

Am Geräteschuppen steht Vater. Sein weißes Hemd hat rote Flecken. Seine linke Schulter blutet heftig.
Er hält eine Mistgabel in der Hand. Timothy liegt auf dem Boden und rührt sich nicht. Ich renne zu ihm. Er hat eine Platzwunde am Kopf und atmet schwach.

„Was hast du getan?“, frage ich Vater, während ich Timothy untersuche.
Vater runzelt die Stirn. „Er hat behauptet, ich hätte Amber getötet!“ Mit einer Hand weißt er auf einen durchgeschnittenen Sattelgurt. Amber war Audreys Mutter. Seine Frau. Sie ist bei einem Reitunfall gestorben. Nur war es kein Unfall. Nicht, wenn jemand ihren Sattelgurt durchgeschnitten hat.

Ich verstehe das nicht. Ich dachte, Vater liebt sie. Oder mag sie, zumindest. Die beiden haben sich nie gestritten, oder wenn doch, dann sehr ruhig und kalt. Nicht wie Mutter. Die hat getobt, geschrien, geweint und nach Vater geschlagen.

„Warum hast du sie umgebracht?“, frage ich ihn.
Er sieht mich aufgebracht an. „Ich habe sie nicht umgebracht!“, erklärt er fest.
„Wer war es denn dann?“, erwidere ich. Vielleicht hat er jemanden beauftragt. Ich erinnere mich, dass er mal gesagt hat: „Ich mache mir daran nicht die Hände schmutzig, dafür habe ich Leute.“
„Ich weiß es nicht!“, ruft er wütend. „Das werde ich schon noch herausfinden.“
Ich versuche, Timothy aufzuwecken, aber es gelingt mir nicht. Er stöhnt nur ganz leise.
Dein Vater wollte ihn umbringen, weil du ihn gern hast“, flüstert mir der Teufel ins Ohr. Ich zucke zusammen.
„Warum hast du ihn niedergeschlagen?“, sage ich leise.
Vater deutet auf seine blutende Schulter. „Er hat mich mit einer Mistgabel angegriffen!“
 „Wolltest du ihn umbringen?“ Ich schaue auf sein Gewehr, das neben ihm liegt.
Er atmet tief durch und gewinnt seine Beherrschung wieder. „Ich wollte mit ihm jagen gehen“, erklärt er fest und sieht mich aus seinen eisigen Augen an. „Ich gehe jetzt hinein und rufe die Polizei an.“ Dann dreht er sich um und geht. Hinter ihm, eine Blutspur auf dem Rasen.

Kurz frage ich mich, ob ich ihm hätte helfen sollen. Er ist verletzt. Aber Vater ist so stark. Er braucht sicher keine Hilfe. Timothy… Timothy ist nicht stark. Er hat den Kampf gegen Vater verloren. Obwohl Timothy die Mistgabel hatte und Vater nicht.

Ich knie mich neben Timothy und hebe ihn auf. Er ist schwer, und ich bin nicht sehr stark. Nie bekomme ich ihn hier weg, bevor die Polizei kommt. Ich kann ihn nicht zum Haus am Fluss tragen.

Mein Blick fällt auf Vaters silbernen Mercedes. Ich kann Auto fahren. Ich weiß, wo er den Ersatzschlüssel hat. Einen Moment zögere ich – er wird wütend auf mich sein. Dann schleife ich Timothy ins Auto, hole den Schlüssel und fahre davon.

Timothy wacht auf, als wir den Fluss erreichen.

„Hast du versucht, Vater zu töten?“, frage ich ihn.
Er zögert. „Da war der durchgeschnittene Sattelgurt… ich dachte, er hätte Amber umgebracht.“
„Ich weiß nicht“, sage ich. „Ich glaube, er mochte sie ganz gern.“
Timothy legt den verletzten Kopf vorsichtig zurück. „Vielleicht… vielleicht war es der Teufel, der seine Finger im Spiel hatte.“
In meinem Kopf kichert es. Hämisch. Triumphierend.
Wenn ihr wüsstest…“, höhnt der Teufel. „Wenn ihr wüsstet, was passiert ist… ein Vögelchen mit einem Messer…
Ich höre nicht hin. Ich will das nicht wissen.
„Mein Vater hat einen Siegelring“, sage ich schnell, nur um etwas zu sagen. „Der stammt noch von Victor L’Ancien… vielleicht ist es das?“ Ich habe nie etwas an dem Siegelring gespürt, aber der Teufel ist schlau. Er hätte nicht erlaubt, dass ich so etwas spüre.
„Könnte sein“, antwortet Timothy undeutlich. Es geht ihm nicht gut. Vermutlich hat er eine Gehirnerschütterung.

Ich bringe ihn zu mir. Es ist schon Abend. Ich habe lange Zeit mit meinem Lied verbracht. Antoine ist nicht mehr da. Ob ich ihn je wiedersehe?
Es war noch jemand hier. Zwei Tassen Kaffee auf dem Boden. Ich rieche einen Hauch Rosenparfüm. Audrey? Ich lächele. Audrey und Antoine?

Ich lege Timothy auf die Matratze und gebe ihm ein paar Pillen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es Schmerzmittel sind. Er schläft ein, sobald er sie genommen hat.

Aber ich muss noch den Wagen zurückbringen. Ich kann Vaters Mercedes hier nicht stehen lassen. Sonst nimmt ihn sich jemand anderes. Aber der Teufel ist zurück und zischt in mein Ohr. So kann ich nicht fahren. Er macht sich einen Spaß daraus, mich zu erschrecken, wenn ich am Steuer sitze. Deswegen habe ich schon einmal einen Wagen gegen eine Wand gefahren. Glück gehabt, dass nur ich drin saß.

Ich nehme den Rest Heroin. Das sollte reichen, um mich bis zum Herrenhaus zu bringen. Ich bin froh, dass Timothy schläft und nicht sieht, was ich da tue. Ich schäme mich, weil ich so schwach bin. Weil ich das brauche. Aber es geht nicht anders. Ich kann Vater nicht seinen Wagen stehlen. Das wäre noch schlimmer.

Die Fahrt zurück verläuft ganz ruhig. Ich will mein Lied summen, aber es bleibt mir im Hals stecken. Ich habe das Gefühl, in eine Falle zu fahren.

Ich stelle den Wagen ab. Als ich das Anwesen verlassen will, sehe ich eine bleiche Gestalt bei den Rosenbeeten. Audrey. Ihre Augen sind abwesend, als sie mit nackten Füßen durch die Dornen tanzt. Sie schläft noch.

Einen Moment lang will ich fliehen. Ich weiß, dass das nicht Audrey ist, die da tanzt. Nur ihr Körper. Aber ich kann nicht schon wieder davonlaufen, wenn jemand von meiner Familie verletzt wird. Also gehe ich zu ihr.

„Audrey“, sage ich leise. „Audrey, du musst zurück ins Bett gehen.“ Es ist spät, und sie trägt nur ein Nachthemd. Ein dünnes Nachthemd. Ich kann ihren Körper durch den Stoff sehen.
Sie dreht sich um und tritt auf mich zu. Ihr Gesicht lächelt, aber es ist ganz falsch. Nicht Audreys Lächeln.
Lass uns tanzen, großer Bruder“, zischt der Teufel durch ihre Lippen. Er streckt ihre Hand nach mir aus und berührt mich an der Brust. „Du willst doch mit mir tanzen, oder?“ Ihr Becken stößt gegen mein Bein.
„Bitte“, sage ich zu ihm. „Bitte, lass sie in Ruhe… sie hat doch nichts damit zu tun.“
Er lacht nur. Es klingt grotesk mit ihrer Stimme. „Sie hat alles damit zu tun, kleine Motte.“ Er drückt ihren Körper enger an meinen und schlingt ihre Arme um meinen Hals. „Komm schon, du willst es doch auch.
Ich versuche, sie abzuschütteln. Ihre Fingerknochen knacken schmerzhaft, als ich an ihren Armen zerre. Ich höre auf, mich zu wehren.
„Was willst du denn von mir?“, frage ich. „Bitte, du kannst es haben… aber lass Audrey gehen.“
Aber er/sie lacht nur. Löst sich aus der Umarmung und hakt sich bei mir ein.
Wir machen einen kleinen Spaziergang.“ Er/sie zerrt mich zum Labyrinth. Ich sträube mich, aber seine Kraft macht Audreys Körper so viel stärker. Ich bettle ihn an, sie gehen zu lassen, aber er lacht mich nur aus und zwingt mich, weiterzugehen. Vielleicht könnte ich mich losreißen und davonlaufen, aber was wird dann aus ihr?

Hätte ich es nur getan.

Wir kommen zum Mausoleum. Ein Stück davon bleibt er/bleibt Audrey stehen.
Da drin“, sagt er und deutet mit Audreys Finger auf die Gruft, „Da drin ist etwas, was ich haben will… bring es mir, kleine Motte. Bring mir das Herz, oder sie wird es bereuen.

Das Herz. Es gibt eine alte Familiengeschichte, die mir meine Großmutter erzählt hat. Victor L’Ancien hat nicht nur einen Pakt mit dem Teufel geschlossen, nein – er hat den Pakt geschlossen und den Preis dafür niemals gezahlt. Weder er noch einer seiner Nachfahren. Denn er hatte ein magisches Herz, das ihn und seine Familie vor dem Teufel beschützte.
Mehr hat mir Großmutter nie erzählt. Vater wollte nicht, dass sie mir Flausen in den Kopf setzt.

Aber wenn das Herz im Mausoleum ist, kann ich es vielleicht gegen den Teufel benutzen. Ich sehe, dass er die Kraft des Herzens fürchtet.

Ich beginne zu singen. „Le rêve dernier“, das ist das erste Lied, das mir einfällt. Nein, nicht das erste. Aber „Goodbye“ ist für Audrey, nicht für den Teufel.
Für einen Augenblick ziehe ich den Teufel hinter mir her. Einen Moment lang lullt ihn mein Gesang ein. Aber nicht lang genug, bei weitem nicht lang genug. Drei Schritte schaffe ich, bevor Audreys Hand auf meine Kehle schlägt und mich zum Verstummen bringt.

Das wird dir leid tun, kleine Motte“, zischt der Teufel wütend. „Dir und ihr.

Dann wirft er mich zu Boden. Audreys Gestalt über mir, wie ein Schatten. Er/sie reißt mir das Hemd vom Leib und küsst mich mit Audreys Lippen. Ihre Hände tasten nach unten, reißen mir meine Kleider weg.
Sie macht etwas mit mir. Mein Körper reagiert, ohne dass ich es will. Verzweifelt bäume ich mich auf, versuche sie abzuschütteln, aber der Teufel ist viel stärker als ich. Stärker als sie. Ich kann nur daliegen und es geschehen lassen, aber ich will nicht, Audrey, ich will das nicht.

Sie ist über mir und bewegt sich heftig. Hin und her, auf und ab. Ich will mich wehren, aber ich kann nicht. Ich schließe die Augen und lasse es passieren. Tränen laufen aus meinen Augen. Ich weiß, dass das alles meine Schuld ist. Ich wollte sie doch nur beschützen.

Es gibt einen Höhepunkt. Ich spüre, wie der Teufel Audrey verlässt. Sie ist wieder sie selbst. Kommt zu sich, als wir immer noch ineinander sind. Ich spüre ihre Verwirrung, ihre Angst, ihren Schmerz. Aber ich kann die Augen nicht öffnen. Kann ihr nicht helfen.

Sie gleitet von mir herunter. Ich höre ihre Stimme, ihre eigene. Sie macht leise Geräusche. Ich habe ihr weh getan. Ich öffne die Augen. Sie kniet ein Stück von mir entfernt und starrt auf ihr Nachthemd. Rotes Blut in ihrem Schoss. Was habe ich nur getan? Was habe ich ihr nur angetan?

„Es tut mir leid“, sage ich. Meine Stimme bricht. Sie starrt mich aus entsetzten Augen an und weicht ein Stück zurück. Ich krieche von ihr weg.

Hast du dir dein erstes Mal so vorgestellt, kleine Motte?

Der Teufel. Lacht mich aus. Ich komme auf die Knie. Wiege mich hin und her. Murmele ein Gebet, aber es hilft nicht, es hilft nicht. Sein Lachen gellt so laut in meinen Ohren, aber nicht lauter als Audreys leises Weinen.

Plötzlich steht Vater vor mir. Seine eisigen Augen funkeln im Mondlicht.
„Sie ist deine Schwester“, sagt er. Ganz ruhig. Ganz beherrscht.
Ich blicke auf und sehe, dass das Eis in seinen Augen geborsten ist. Die Beherrschung ist nur Schein.
„Ich… ich wollte das nicht“, erwidere ich schwach.
Er packt meine Haare und zerrt mich nach oben. Dann schlägt er mir ins Gesicht.
„Sie“, brüllt er und schlägt zu, „ist“, Schlag, „deine“, Schlag, „Schwester!“ Noch ein Schlag. Dann verlassen ihn in die Worte, und schlägt mich einfach nur.

Schließlich lässt seine Kraft nach. Er blutet wieder aus der verletzten Schulter. Er lässt mich los. Stürmt davon. Seine eisige Beherrschung liegt in Scherben.

Die Schläge haben mir geholfen. Haben das Geifern des Teufels mit Schmerz übermalt. Mühsam komme ich auf die Knie. Er ist einfach davon gelaufen. Hat Audrey hier gelassen.
Ich will zu ihr gehen. Ihr etwas sagen. Ihr helfen.

Aber der Teufel ruft: „Ja, geh zu ihr. Reite sie noch mal!“ Er kichert. „Diesmal darfst du vielleicht sogar oben liegen.

Ich laufe davon. Irgendwohin. Irgendwohin, wo ich das bekomme, was ich verdient habe. Wo ich sterben kann.

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