Dieses Diary beschreibt aus Calebs Sicht die Ereignisse auf dem Red Hill, die sich im Juni abgespielt haben. Da der Text von Nocturama stammt, nicht von mir selbst, habe ich ihn wie immer entsprechend farblich gekennzeichnet. Viel Spaß damit.
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„Wir haben da etwas Auffälliges gesichtet, aber es erfordert nicht unbedingt Ihre Anwesenheit, Sir…“ Corinne, wie immer korrekt und etwas zurückhaltend.
„Sag ihm das mit dem Himmel und den Schwertern“, wird sie von Ricky im Hintergrund angezischt. Es kann halt keiner aus seiner Haut, aber immerhin kann ich die beiden jetzt alleine auf eine Mission schicken, ohne mir Sorgen zu machen. Hat eine Weile gedauert, bis Corinne sich wieder auf ihre Fähigkeiten aus dem Bombenkommando besonnen hat und nicht immer versucht, mit ihrem entstellten Gesicht im Hintergrund zu verschwinden.
Hat noch länger gedauert, Ricky sein Alphamännchen-Posieren abzugewöhnen. Mehr oder weniger. Immerhin hat er verstanden, dass ich hier der Boss bin, und wenn er es zu weit treibt … Na ja, jetzt ist er zufrieden, Alphamännchen Nummer 2 zu spielen.
„Bericht.“
„Sir!“ Ich zucke bei Corinnes Worten nur noch ein bisschen zusammen. Wir machen alle Fortschritte. Dann erzählt sie knapp, dass Ricky und sie einen Bus verfolgt haben, dessen Insassen ihnen komisch vorkamen – ziemlich abgerissen, fertig, benehmen sich aber eher wie Kriegsveteranen als wie Opfer. Rein äußerlich sehen sie nicht aus wie eine Gruppe von Soldaten, aber ihr Verhalten … Und Ricky meint, etwas von „Himmel“ gehört zu haben – und hatte da nicht einer ein Schwert?
Ein bisschen vage, aber in bin angesichts der ganzen Apokalypsensache schon in der Strohhalm-Phase. Ich packe Miffy mit ihrer Cone of Shame (hat sie davon, ein Held sein zu wollen und sich vor einen Schwarzen Hund zu stellen) ins Auto und fahre zu einem Rastplatz in der Nähe von Hectorville.
Die Beschreibung war gut. Die kleine Gruppe sieht wirklich aus, als wäre sie gerade aus Afghanistan zurückgekommen. Aber dass eine Einheit aus Menschen völlig unterschiedlichen Alters, Geschlechts und Hautfarben besteht, ist ziemlich ungewöhnlich.
Bevor ich noch sagen kann „beobachten wir erst mal“, japst Miffy und versteckt sich mit aufgestelltem Fell unter dem Auto.
Ein großer, weißer Hund mit grünen Augen springt auf einen älteren Latino zu, der gerade aus dem Bus steigt. Keine Zeit, um zu überlegen, wer jetzt auf welcher Seite steht.
Zeit zum Schießen.
Kugeln beeindrucken den Hund nicht sehr, aber als der Mann ein Schwert zieht und noch mehr Leute aus dem Bus strömen, zieht er lieber den Schwanz ein und verkrümelt sich.
Freude löst das nicht aus. „Wir müssen weiter, sofort.“ „Wie konnten sie uns finden?“ Und vor allem „Mara, was sollen wir tun?“
Mara, das scheint die Anführerin zu sein. Eine zierliche Frau, die aussieht, als könnte es sie jeden Augenblick aus den Latschen hauen, und die wesentlich weniger militärisch wirkt als der Rest. Mehr wie eine Sozialarbeiterin oder so.
Sie schaut den Mann mit dem Schwert an. Ich schaue ihn auch an. Das Schwert, tja, das sieht verdammt nach dem Ding aus, das mir Irene auf ihrem Handy gezeigt hat.
Ich könnte jetzt mit geschickter Befragung herausfinden, ob die Leute … Nah, scheiß drauf. Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.
„Hey“, sage ich zu Mara. „Seid ihr aus dem Himmel abgehauen?“
„Was? Natürlich nicht.“ Sie versucht ein Lächeln, bringt das aber nur halb zustande.
„Hör mal, das Ding da, das ist doch ein Engelsschwert. Und ich kenne jemand, der auch aus dem Himmel desertiert ist.“
„Harris?“ Ihre Miene hellt sich etwas auf. „Wir sind auf dem Weg zu Harris.“
Das ist natürlich der Punkt, an dem ich etwas misstrauisch werde.
Sie sagt: „Harris hat einen Mantel, mit dem man sich vor den Engeln verstecken kann. Ich… kann die Gruppe nicht mehr lange beschützen, ich brauche den Mantel, sonst finden sie uns…“ Ihr Blick geht in die Richtung, in die der Hund verschwunden ist. „Wir müssen weiter.“
Okay, das klingt, als wüsste sie schon ziemlich genau, wo Harris ist. Ich halte eine Hand hoch und sage: „Wartet mal.“
Dann rufe ich Irene an.
Gleich darauf höre ich ihre amüsierte Stimme. „Oh, ich hätte nicht gedacht, dass der Anruf so schnell kommt.“
„Was?“ Für einen Moment weiß ich nicht, wovon sie redet. Dann fällt mir ein, dass ich ihr ja angedroht habe, mich auch mal für einen Booty Call zu melden. Sie klingt sogar erfreut. Hätte ich nicht gedacht, nachdem sie letztes Mal so schnell abgehauen ist.
…aber das ist jetzt nicht so wichtig.
„Ach so, nein. Ich habe hier eine Busladung von Himmelsdeserteuren gefunden, die wollen zu Harris.“
Jetzt ist sie dran. „Was?“
„Ich habe hier…“
Sie unterbricht mich. „ich habe es schon verstanden…“
„Die sagen, sie kennen Harris und dass nur sein Mantel sie vor dem Himmel schützen kann. Hier ist schon so ein Vieh aufgetaucht, weißer Hund, vielleicht Himmelshunde oder so.“ Mara schüttelt dazu ihren Kopf. Wohl keine umgestrichenen Höllenhunde.
Irene macht ein genervtes Geräusch. „Ich muss das mit Harris besprechen.“ Sie glaubt natürlich, dass das eine Falle ist. Ich kann‘s verstehen. Die ganze Sache ist ziemlich suspekt, aber einfach gar nichts tun ist auch keine Option.
Im Hintergrund spricht sie mit Harris und noch ein paar anderen Leuten. Schließlich soll ich ein Foto machen und ihr schicken. Harris erkennt darauf einen der Flüchtlinge, den Latino Alberto, an dessen Seite er gekämpft hat.
„Wie konntet ihr eigentlich aus dem Himmel entkommen?“ frage ich derweil die Deserteure.
„Mara“, sagt eine Frau. „Sie hat uns gerettet. Sie ist ein Engel.“
Meine Pistole ist schon halb gezogen, und vor meinem inneren Auge verwandelt sich Maras Kopf in roten Matsch, stellvertretend für AC, Selathiel und die anderen Drecksäcke.
Hah. Als ob sie mir diese Chance geben würde. Mara reagiert noch nicht mal auf meine Bewegung. Ich könnte ihr Löcher in die Brust stanzen, bis die Apokalypse losgeht, das würde sie wahrscheinlich noch nicht mal merken. Aber es wäre so, so befriedigend…
„Es soll so nicht sein. Im Himmel. Das ist falsch, wie die Menschen behandelt werden, wie…“ Sie schaut auf den Boden, zierlich und müde. Für einen Augenblick habe ich Mitleid. Dann fällt mir wieder ein, dass sie ein Engel ist.
Sie winkt die anderen in Richtung Bus. „Wir müssen jetzt los, wirklich. Es ist keine Zeit mehr.“
„Moment.“ Ich stelle mich ihr in den Weg. „Woher wisst ihr eigentlich von Harris?“
Sie sieht ein bisschen verwirrt aus. „Ich habe ihm geholfen, zu entkommen und den Mantel zu holen. Ich habe auch den anderen hier geholfen.“
Ich rufe wieder bei Irene an. „Mara ist ein Engel.“ Sie braucht nichts zu sagen, ich kann mir die Reaktion schon vorstellen. „Sie behauptet, sie hätte Harris aus dem Himmel gebracht. Lass mich mal mit ihm reden.“
Eine Sekunde später höre ich eine sehr junge Stimme. „Hallo?“
„Harris? Wie bist du aus dem Himmel entkommen?“
„Ich… Ich bin nicht sicher …“
„Hier ist ein Engel, Mara, die sagt, sie hätte dir geholfen. Die Frau mit den kurzen Haaren?“
„Ich weiß nicht so genau, das war alles so … Ich kann es nicht erklären, das ist komisch im Himmel, ganz anders als auf der Erde.“
Ich knirsche mit den Zähnen. „Kennst du Mara oder nicht, verdammte Scheiße nochmal?“
„Ich kann mich nicht erinnern!“
„Aber…“ Okay. Das hat keinen Sinn. Warum verfickt nochmal kann nicht irgendwas mal einfach sein?
Die Deserteure machen schon wieder Anstalten, sich zu verziehen. Ich packe Mara am Arm. „Hey, woher zum Teufel wisst ihr eigentlich, wo Harris ist?“
„Ich habe einen Faden aus dem Mantel gelöst, bevor er geflohen ist. Damit weiß ich immer, wo er sich aufhält.“ Sie schaut mich an, als wäre das die normalste Erklärung der Welt.
Aus dem Telefon höre ich Irene: „Lass dir den Faden zeigen!“
Ich lasse mir den Faden zeigen. „Das ist ein Faden! Woher zur Hölle soll ich wissen, was für ein Faden das ist?“
Es ist also völlig egal, wo wir den Jungen verstecken, finden wird ihn Mara sowieso, falls sie nicht der weltbeste Lügner ist. Irene und Harris lassen sich schließlich überzeugen, sich mit Mara und der Gruppe zu treffen. Falle, ja, kann sein, aber wenn es wirklich Deserteure sind, können wir sie nicht einfach sich selbst überlassen. Und nein, wir treffen uns nicht irgendwo, wo jede Menge Unschuldige dran glauben, wenn die ganze Sache explodiert. Was sie vermutlich tun wird.
Bleibt also Irenes Haus. Oder das, was davon übrig ist. Sie erzählt irgendwas von roter Erde und gibt mir dann die Adresse.
Roter Schlamm, wollte sie wohl sagen. Die Baugrube sieht aus wie ein Kessel voller Schlachtfleisch. Hoffentlich ist das kein Omen. Ich gebe Corinne und Ricky ein Zeichen, dass sie das Perimeter sichern sollen und kann ein bisschen Stolz nicht unterdrücken, dass sie sich schnell und effektiv daran machen.
Irene steht neben einem jungen Mann, der uns nervös anstarrt. Nelson ist auch dabei und … Ethan. Keine Ahnung, ob der Faustschlag ins Gesicht bei unserem letzten Treffen unser Problem gelöst hat. Aber es gibt jetzt echt wichtigere Sachen.
Zum Glück.
„Ich erinnere mich!“ Der junge Mann – Harris – dreht sich zu den anderen um. „Mara … Sie hat mich gerettet! Da war ein Wald und dann war ich wieder auf der Erde …“
Ich werfe Mara einen Blick zu. Das wäre fast zu schön, ein Engel, der kein totales Arschloch ist. Ob irgendeiner von denen was ohne Hintergedanken macht? Schön wär‘s. Diese Hoffnung kann ich noch nicht mal als Strohhalm bezeichnen.
„Harris, ich brauche den Mantel. Ich muss uns alle verstecken.“ Mara berührt das altmodische Cape um Harris Schultern. Ihr Gesicht ist vor Anstrengung verzogen.
Und dann verdrehen sich ihre Augen, und sie kippt nach hinten. Ohne nachzudenken mache ich einen Schritt nach vorne und fange sie auf.
Die Gruppe gerät in Aufregung. „Mara! Ist sie okay?“
Ich checke ihren Puls. Tot ist sie nicht. Engel oder nicht, ich will sie nicht einfach in den Matsch fallen lassen – könnten ihre Begleiter auch falsch auffassen – und verstaue sie für‘s Erste im Bauwagen.
Als ich wiederkomme, frage ich Harris, ob der Mantel noch funktioniert.
„Ich weiß nicht.“ Er schaut das Stück Stoff betrübt an. „Bisher wusste ich nur, dass er funktioniert, weil mich keine Engel gefunden haben.“
Absolut fantastisch.
Das ist das Signal für alle, sich kampfbereit zu machen. Ich knüpfe Alberto sein Schwert ab. Wenn hier ein Engel auftaucht, will ich ihm wenigstens wehtun können.
„Wie seid ihr eigentlich aus dem Himmel entkommen?“ frage ich in die Runde.
Eine der Frauen, Carlotta, antwortet: „Keiner von uns hätte gedacht, dass das überhaupt möglich ist. Ohne Maras Hilfe hätte das auch nie geklappt, aber selbst sie musste erst überzeugt werden. Es gibt da einen Menschen, so wie wir, der herumgeht, uns organisiert und Engel überzeugt, uns zu helfen.“
„Hat der einen Namen?“
„Mitch. Mitch Baker.“
Ich muss lachen, bitter und freudlos. Ach ja. Irgendwann kommt alles zurück und schlägt dir das Nasenbein ein. Mitch, das Weichei, das aber Isabelle abgekriegt hat. Mitch, der mich mitleidig anschaut, als ich ihn mal wieder provozieren will. Mitch mit Isabelle und Ben und Jo, die glückliche Familie, und ich draußen, alleine.
Und dann Mitchs Augen und der Augenblick, als sie ihren Fokus verlieren und zu blindem Fleisch werden, weil ich ihm das Messer zwischen die Rippen geschoben habe, direkt ins Herz.
Irene sieht mich von der Seite an. „Du kennst aber auch jeden.“
Ich schüttele nur den Kopf, immer noch humorlos grinsend, und bin froh, dass sie nicht weiter fragt.
Carlotta fährt fort: „Mara war sowieso in Castiels Fraktion, die wollte, dass die Engel sich nicht einmischen, aber für die läuft es nicht so gut … Früher gab es wohl Erzengel, die aufgepasst haben, aber die sind größtenteils verschwunden. Eigentlich sollte es eine Apokalypse geben, aber die ist ausgefallen, warum auch immer. Und jetzt machen die Engel, was sie wollen …“
So weit wissen wir das ja schon. Selathiel will eine eigene Apokalypse, AC will ein wohlmeinender (hah!) Tyrann werden und was weiß ich, was der Rest will.
„Aber …“ Zum ersten Mal meldet sich Ethan. „Gott?“
Ich schnaube. „Als ob der sich einen Scheißdreck interessiert, was aus uns wird.“
Carlotta sagt: „Ich glaube, er will, dass die Engel lernen, selbst zu denken.“
Und wenn dabei halt ein paar tausend Menschen sterben und die Welt untergeht, macht das ja nichts. Ich setzte gerade an, meine Meinung von Gott sehr deutlich zu sagen, als in der Ferne ein Heulen erklingt.
„Scheiße, das sind diese Himmelshunde“, sage ich und erkläre auf den fragenden Blick der anderen, was ich gesehen habe.
Es sind wohl doch keine Himmelshunde, wie Nelson mit viel zu vielen Worten mitteilt, sondern Feenhunde, so genannte Cu Sith. Empfindlich gegen Salz und Eisen, wirft Irene ein.
Feenhunde. Okay, was auch immer Feenhunde jetzt in der ganzen Geschichte sollen. Ich vermute, dass sie einfach von den Toten angezogen werden – immerhin sind wir hier mit einer Busladung lebender Leichen unterwegs – aber das ist laut Nelson nicht ihre Aufgabe.
Salzpatronen habe ich dabei, kaltes Eisen liegt auf der Baustelle genug rum. Ich rufe Corinne und Ricky an, die sollen sich auch bewaffnen und nach Hunden Ausschau halten.
Ansonsten verlasse ich mich darauf, dass das Engelsschwert so eine Art Universalwaffe ist.
Ein Stück entfernt landet ein Falke auf einem Baum und beäugt mich. Sieht aus wie das Tier, das Aiden manchmal gesehen hat.
Und das eigentlich kein Vogel ist … als ich näher komme, flattert er vom Ast und verwandelt sich in Hialee.
„Cal.“ Sie schenkt mir ein schmales Lächeln. „Ich bin hier, um euch zu warnen. Diese Leute werden gesucht, und zwar von mehr als einer Fraktion.“
„Himmel oder …“ Ich spare mir den Rest. Mit der anderen Seite kennt sie sich aus.
„Himmel. Selathiel hat die Feenhunde hergebracht, AC hat sich ein paar Höllenhunde ausgeliehen.“
Ich kann mich gerade so beherrschen, nicht zusammenzuzucken. Wenn AC hier auftaucht …
Hialee ist das trotzdem nicht entgangen. „Ihr solltet besser verschwinden, aber ich vermute, dass ihr diese Leute nicht alleine lassen wollt.“ Ihr Blick schweift über die Baugrube und bleibt an einem schrägen Bauwerk hängen, vor dem ein paar traurige Topfpflanzen stehen. „Immerhin habt ihr hier einen Schutzgeist, der sich mit den Land verbunden hat. Vielleicht nicht der schlechteste Platz für einen Kampf.“ Sie lächelt wieder ihr schmales Lächeln. „Aber es ist nicht mein Kampf. Wir müssen uns später noch mal treffen und reden, über das alles hier. Ich habe noch mehr Informationen.“
Ich nicke und meine Kehle ist etwas zu eng, als ich antworte: „Klar. Danke, Hialee. Pass auf dich auf.“ Ich habe nicht mehr viele Verbindungen zur alten Zeit, als Isabelle mit mir zusammen war und der Chief mit Hialee. Als die Jagd noch spannend und neu war. Ein Teil von mir will nach Isabelle fragen, aber manche Dinge … manche Dinge weiß man auch so.
„Du auch, Cal.“ Und plötzlich ist da wieder der Falke, der sich in die Luft schraubt.
„Wer war das?“ Irene hat sich von hinten angeschlichen. Vermutlich hat sie die ganze Unterhaltung angehört.
„Alte Freundin.“
Irene schaut mich weiter an, mit diesem ‚das hat meine Frage jetzt nicht beantwortet‘-Blick.
„Sie hat einen Deal gemacht, nicht mit einem Engel, mit der anderen Seite. Deshalb weiß sie mehr. Und dieses Falkending …“ Ich gebe jetzt besser nicht zu, dass ich keine Ahnung habe, wie genau dieses Falkending funktioniert. Vielleicht sollte ich doch mal Aiden anrufen und sein trautes Glück mit Jo stören.
Irene blinzelt. „Und du glaubst nicht, dass sie dir vielleicht einfach nur erzählt, was du hören willst und das so etwas wie – ich weiß nicht – eine Falle sein könnte?“
Ich werfe ihr meinen bösesten Blick zu. „Ich sage doch, alte Freundin.“ Aber wären unsere Rollen vertauscht, wäre ich genauso misstrauisch. Und so gut kannte ich Hialee eigentlich gar nicht, sie war keine so aktive Jägerin.
Trotzdem will ich ihr glauben. Strohhalme, schon wieder, und weil ich sonst das Gefühl hätte, meine Vergangenheit zu verraten.
Irene sieht nicht im Geringsten überzeugt aus, aber sie dreht sich um und sagt: „Jetzt sollten wir uns um Schutz kümmern.“ Sie geht in Richtung der schiefen Konstruktion hinter den Topfpflanzen.
Ethan schließt sich ihr an. „Giffany?“ Sie nickt.
An dem Häuschen fuhrwerkt Irene mit Weihrauch, Reis und Salz herum, während Ethan einfach nur seine Hand hebt und sagt: „Hey, Giffany.“
Was auch immer das bringen soll …
Der Weihrauch breitet sich mehr aus, als es Weihrauch eigentlich machen sollte. In trägen Spiralen windet er sich um Irene und Ethan.
„Wissen Sie, was das hier soll?“ Der Afrikaner ist neben mir aufgetaucht und hält mir eine Flasche Whiskey hin. Viel ist da nicht mehr drin. Der fehlende Schnaps ist ziemlich eindeutig in ihm verschwunden.
Und in dem Engel, wie es aussieht. Huh. Hätte nicht gedacht, dass die Dinger sich betrinken können.
Ich zucke auf Nelsons Frage mit den Schultern.
„Shintoschrein“, wirft Ethan von vorne ein, als ob das irgendwas erklären würde.
Mara und ihre Jünger kommen zu uns herüber. Der Engel lächelt selig, aber das hat vermutlich mehr mit der Sauferei zu tun als mit irgendwelcher göttlicher Gnade. „Der Schutzmantel funktioniert. Und der Geist hier tut auch sein Übriges, uns zu helfen.“
So sehr viel hilft das wohl auch nicht, denn gleichzeitig mit dem Einsetzen eines leichten Regens, fangen auch Hunde an zu heulen. Große Hunde.
Höllenhunde.
Jetzt bin ich dankbar für den verfickten Schlamm und den Regen. Rote Erde spritzt in die Luft und bleibt an unsichtbaren Leibern hängen. Ich zähle eins… zwei… drei… Insgesamt sechs von den Viechern.
Scheiße. Einer alleine wäre schlimm genug. Aber sechs? Na ja, vielleicht muss ich mich gleich nicht mehr mit dem ganzen Apokalypsendreck rumschlagen.
Ethan winkt Mara und ihrer Gruppe zu, in Richtung Bauwagen zu laufen. Die Leute reagieren richtig, keine Panik, sichern nach allen Seiten, behalten die Spuren der Hunde im Auge.
Nur haben sie leider keine Engelsschwerter mehr. Und die Höllenbiester schneiden ihnen den Fluchtweg ab.
Also eine Bresche schlagen. Ich springe zwei Schritte vor und lasse das Schwert auf eine Stelle heruntersausen, wo sich gerade Pfotenabdrücke im Boden gebildet haben. Nicht gerade elegant – Irene neben mir benutzt die Klinge etwas geschickter – aber es funktioniert. Das Schwert prallt auf einen festen Körper, und das Gefühl kenne ich gut genug – wie Fleisch durchtrennt und Knochen gebrochen werden. Sehr befriedigend, vor allem das Jaulen und dann das Röcheln, als ich nachsetze.
Scheiße, auch ohne heiliges Wasauchimmer sind die Waffen verdammt scharf.
Ich stürze mich auf den nächsten Umriss. Knirsch, Krach, Jaulen. Ich wünschte, ich könnte sehen, wie die Bestien bluten.
Bevor ich den Deserteuren winken kann, sind sie schon auf dem Weg in den Bauwagen. Professor Nelly bewacht den Eingang mit einem der Schwerter. Er versucht es zumindest, denn plötzlich reißt er den Arm zurück und gibt einen Schmerzenslaut von sich. Das Blut an seinem Arm ist nicht unsichtbar.
Neben mir wird Irene von den Füßen gerissen. Sie platscht in den Schlamm. Ihr Hosenbein, und ein Teil ihres Beines, zerreißt. Sie fuchtelt mit dem Schwert, und das Hosenbein, gehalten von einem blutigen Fleck in der Luft, zieht sich zurück.
Ich rücke näher und sehe, dass Ethan das Gleiche macht. Er hat jetzt auch ein Schwert in der Hand, vermutlich das von Professor Nelly.
Wir nehmen links und rechts von Irene Stellung auf, während die Hunde uns umkreisen, vorsichtiger, wo sie jetzt die Gefahr kennen. Von Ethans Seite höre ich, wie etwas Schweres in den Schlamm klatscht und sich fiepend herumwälzt.
Ich drehe mich nicht um. Das schafft der Junge schon. Die Hunde vor mir halten Abstand und weichen vor jedem meiner Ausfälle zurück. Zu weit wage ich mich nicht vor, damit sich nicht von hinten einer anschleicht und Irene die Kehle zerfetzt.
Dann das zweite Mal die Laute eines verendenden Tieres. Ich werfe doch einen Blick hinter mich. Vor Ethan rührt sich nichts mehr.
Und die vagen Umrisse vor mir im Regen, die Abdrücke im Schlamm vor mir entfernen sich, erst langsam, dann in wilder Flucht. Könnte ein Trick sein.
Wie auch immer. Ich kann jetzt nicht warten, ob sie wiederkommen. Irene braucht Hilfe.
Ethan hat sich neben ihr schon in den Matsch gekniet und hat ihre Beinwunde halbwegs gesäubert. Ein tiefer Biss, aber wenigstens scheint keine Schlagader verletzt zu sein. Ich ramme das Schwert in den Boden und beuge mich ebenfalls herunter. Ohne ein Wort hole ich einen Verbandskasten und reiche Ethan die Kompressen. Gemeinsam arbeiten wir schnell und effizient. Wir haben das ja auch oft genug gemacht, meistens an einem von uns.
Als wir fertig sind, greift er nach Irene, aber ich hebe eine Hand. „Lass nur, ich fahre sie ins Krankenhaus.“ Woher die Idee jetzt kommt, keine Ahnung. Fühlt sich aber richtig an.
Sie ist bewusstlos, als ich sie aufhebe. Irgendwie schaffe ich es noch, das Schwert in die Finger zu kriegen – sicher ist sicher – und lege sie dann auf den Rücksitz meines Autos. Ich schnalle sie sogar fest, ganz verkehrsgerecht, und rufe dann ganz verkehrsungerecht auf der Fahrt Corinne an. Sie und Ricky hatten einen Zusammenstoß mit den weißen Feenhunden, aber wie angekündigt mögen die kein kaltes Eisen.
Kein Problem, Sir, alles im Griff, Feind erledigt oder geflohen.
Das hört man gerne.
Schwestern, Ärzte und Patienten starren mich an, als ich mit Irene in den Armen in das Krankenhaus presche. Klar, mit dem ganzen blutroten Schlamm und dem echten Blut sehen wir aus wie Überlebende eines Massakers.
Immerhin lässt man sich dazu herab, Irene auf eine Trage zu verfrachten, bevor ich ihnen sämtliche Goldkarten aus der Brieftasche der Britin auf die Theke knallen kann. Ganz spontan werden die misstrauischen Gesichter widerlich freundlich. Dass ich ihnen was von Wandern und einem Bärenangriff erzähle, interessiert da schon nicht mehr. Hauptsache, die Kohle stimmt. Ach, die Güte der Menschen erwärmt mein Herz.
Ansonsten warte ich. Die Schwester hinter dem Empfang kommt jedes Mal hervorgeschossen, wenn ich auch nur daran denke, mir eine Kippe anzuzünden. Ich nutze meinen bösen Blick lieber, um herauszufinden, wie es Irene geht (keine Lebensgefahr).
Also halte ich die Zigarette so in den Fingern und drehe sie hin und her, bis nur noch Tabakkrümel und Papier übrig sind. Verschwendung. Aber immer noch spannender, als eine der Zeitschriften zu lesen und herauszufinden, ob ich mehr ein Herbst- oder Sommertyp bin.
Nach einer Ewigkeit wird Irene endlich im Rollstuhl aus dem OP geschoben und ist schon wieder fit genug, um herumzumäkeln. Kaum aus der Tür besteht sie auch schon darauf, auf ihren Krücken selbst zum Auto zu humpeln. So schlimm kann es also nicht gewesen sein.
Auf der Fahrt fragt sie nach etwas zu saufen.
„Sicher, dass das ne gute Idee ist?“
Sie zieht eine Augenbraue hoch. „Der Arzt hat gesagt, dass ich viel trinken soll.“
Meinetwegen. „Im Handschuhfach.“ Da liegt der Old Crow, der gute schlechte Whiskey.
Immerhin sorgt der Schnaps nur dafür, dass ihr die Augen zufallen, sie hochschreckt und ihr die Augen dann wieder zufallen. Als ich den Feldweg zum Schlammfeld hochfahre, ist sie endgültig weggetreten.
Beim Anblick von Irene auf meinen Armen bekommen Ethan und Nelly große Augen. Ich schenke ihnen ein schiefes Lächeln. „Keine Angst, die ist viel zu dickköpfig, um einfach so zu sterben. Braucht nur ein bisschen Ruhe.“
Ganz weg ist sie doch nicht, denn als ich Irene in den Bauwagen trage, murmelt sie: „Du weißt schon, was es bedeutet, wenn du mich über die Schwelle trägst?“
Ich grinse. „Hey, einen Ring habe ich dir schon gegeben.“
Sie verpasst mir einen Kopfstoß – oder versucht es zumindest – was mich erst recht zum Lachen bringt. Irgendwie niedlich. Sie würde mir wahrscheinlich ein blaues Auge verpassen, wenn ich sie laut so nennen würde.
Im Bauwagen lege ich sie auf das Bett. Sie ist schon wieder eingepennt, und ich nutze den Moment, um ihre Wunde zu überprüfen. Nichts ausgelaufen.
Anschließend lege ich die Decke über sie und kann mich gerade noch beherrschen, ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht zu streichen. Jetzt nicht schwach werden, Fisher!
Aber wie sie so daliegt, fällt mir zum ersten Mal richtig auf, dass sie eigentlich ziemlich klein ist. Wie eine nasse Katze oder diese Fische, die sich manchmal aufblasen.
Mir fällt auch auf, dass ich nicht mehr wirklich wütend auf sie bin. Wenn ich ehrlich bin, ist es sogar ganz nett, Zeit mit ihr zu verbringen – jenseits des Sex. Ich hoffe nur, dass sie mir am Ende nicht doch ein Messer in den Rücken rammt, das wäre ganz schön peinlich.
Draußen hat Professor Nelly schon wieder Schnaps abgegriffen, und der Engel säuft fröhlich mit. Wir fangen eine etwas fruchtlose Diskussion darüber an, wo wir die Deserteure jetzt unterbringen sollen. An einem heiligen Ort einer anderen Religion? Auf einem Schiff? Auf dem Mond? Irene kommt irgendwann auch wieder dazu, und letztendlich beschließen wir, sie nach Mount Ida zu bringen. Keine Ahnung, ob das wirklich etwas hilft, aber da leben Kristallgeister, die vielleicht was gegen Engel in ihrem Revier haben. Oder die Spur der Deserteure überdecken.
Eine Garantie gibt es natürlich nicht. Hier bleiben können sie aber auch nicht.
Gemeinsam mit Professor Nelly mache ich mich auf den Weg. Mein Eindruck, dass der Typ viel redet, war falsch. Er redet un-unter-verdammt nochmal-brochen. Über irgendwelchen Kram, von dem ich nichts verstehe, mit Worten, die ich nicht kenne.
„…in dem Sinne ist es also schon so, dass Orisha dem Monotheismus nahe steht, auch wenn die Orisha selbst wenig Ähnlichkeit mit, sagen wir, Engeln oder Heiligen haben, jedoch dürfte es dem Synkretismus der Religion in der Diaspora…“
Und das auf Dauerschleife. Nachdem „Schnauze“ und laute Musik nicht helfen, drohe ich ihm, ihn auf der Straße auszusetzen. Das hilft wenigstens etwas.
In Mount Ida wird die ganze Gruppe in Hütten untergebracht. Der Mantel wirkt noch, versichert uns Mara. Sie nimmt ihr Schwert zurück und warnt mich noch, dass unsere geortet werden können. Was ja ziemlich egal ist, AC kann mich sowieso finden, wenn er will.
Ich stelle noch Moore und Duarte ab, um etwas nach der Gruppe zu schauen – nicht nur als Schutz, sondern auch, um mich auf dem Laufenden zu halten.
Nachdem wir die Hütten gegen menschliche und übernatürliche Eindringlinge gesichert haben, geht es zurück zur Schlammhalde. Nelly lässt sich bei seinem Auto absetzen. Der hat noch was anderes zu tun. Na ja. Lieber weniger Publikum bei meinen nächsten Aktionen, man hat ja einen Ruf zu verlieren.
Irene und Ethan sind beide noch da. Ethan macht an einer Baustelle herum, Irene sitzt vor dem Bauwagen, umgeben von einem Arsenal, ihrem Computer und Schutzzeichen.
„Alles klar?“ frage ich sie, drehe mich aber nach dem „Ja“-Teil ihrer Antwort schon wieder um.
„Hey!“ ruft sie mir hinterher. Ist es wohl nicht gewöhnt, ignoriert zu werden. Sie verträgt es schon, auch mal warten zu müssen.
Mein Hemd hänge ich über einen Haufen Holzteile und packe dann auf Ethans Baustelle mit an. Ich bin jetzt nicht der große Heimwerker, aber Sachen durchsägen oder Säcke tragen kann ich auch. Miffy tobt uns ein Weilchen zwischen den Beinen herum, aber als sie und vor allem die Halskrause komplett in roten Schlamm gehüllt sind, legt sie sich lieber in der Nähe von Irene hin.
Außer einem Nicken am Anfang nimmt mich Ethan nicht groß zur Kenntnis. Ist sein Recht.
Deshalb ist es doppelt unangenehm, als ich ihn in einer Pause anspreche.
„Hör mal …“ Ich zünde mir dann doch lieber eine Zigarette an, um Zeit zu schinden. „Also damals, die Sache mit Carla, das war ganz schön Scheiße von mir. Ich wusste nicht, dass sie …“ Ich nehme einen tiefen Zug. „Also, sorry und so.“ Hah, ich hätte Politiker werden sollen, bei den tollen Reden, die ich hier halte.
Ethan scharrt mit dem Fuß in der Erde herum. „Hätte dich gebraucht.“
Autsch. Klar hätte er das. Ist ja nichts Neues, dass ich Leute gerade dann sitzen lasse, wenn sie mal Hilfe brauchen. „Ich bin halt ein Arschloch.“
Ethan sieht kurz auf. „Ne. Zwei Jahre und so.“
Ehe es wir uns noch mit Tränchen in den Augen in die Arme fallen und uns dann gegenseitig die Haare flechten und über Jungs reden können, zertrete ich meine Zigarette. „Na ja. Wie auch immer. Lass uns mal weitermachen.“
Ich muss Irene noch nicht mal ansehen. Ihr Grinsen spüre ich doch im Nacken. Will die Dame Popcorn zur Show?
Als Ethan den Feierabend ausruft, sieht das Bauwerk für mich auch nicht groß anders aus. Aber was weiß ich schon? Der Junge drückt mir ein Bier in die Hand und winkt dann in Richtung eines Grills. Aha. Na meinetwegen. Ich habe sowieso noch was mit Irene zu besprechen.
Am besten ohne Umschweife loslegen. „Ich wollte dich um einen Gefallen bitten.“
Sie sagt erst mal nichts und schaut mich nur abwartend an.
Ich räuspere mich. „Also, wenn ich bei der ganzen Geschichte draufgehen sollte, kannst du dann jemand erzählen, was mit mir passiert ist? Und vielleicht schauen, dass er keinen Unsinn anstellt, weil ich tot bin. Ach ja, und den Hund kannst du ihm auch mitbringen.“
Ich reiche ihr Bens Adresse. Sie schaut sie an, fragt aber nicht nach. Stattdessen sagt sie: „Glaubst du wirklich, ich überlebe, wenn du stirbst?“
„Ach was, du bist viel zu arrogant und stur, um jemals zu sterben.“ Ich grinse sie an.
Sie schafft es, mich von oben herab anzusehen, obwohl sie sitzt und ich stehe. „Ist es weise, eine Frau zu beleidigen, die von Waffen umgeben ist?“ Ihre Mundwinkel wandern ein Stück nach oben.
„Du hättest mich doch schon längst umgebracht, wenn du das wirklich wolltest.“
Wir schauen uns einen Moment herausfordernd an, aber ehe aus der Flirterei noch was werden kann, sagt sie: „Na gut, das kann ich erledigen. Aber im Gegenzug musst du Sam informieren, sollte mir etwas zustoßen. Sie weiß dann schon, was zu tun ist.“
„Sam?“ Ach stimmt, die beiden sind ja verwandt, obwohl sie unterschiedlich wie Tag und Nacht sind. „Klar, kann ich machen.“
Um auf ein weniger peinliches Thema zu wechseln, gebe ich wieder, was Bart mir geschrieben hat: Krieg im Vatikan, Heiligsprechungen in Masse und ausgehobene Gräber. Reliquien gehen gerade gut. Eigentlich sollte das ja auffallen, vor allem die ganzen neuen Heiligen. Da hält wohl jemand den Deckel drauf.
Diesmal wechselt Irene das Thema. „Ich wiederhole mich: Du kennst wirklich jeden.“
Für einen Schreckmoment denke ich, sie hat doch Bens Nachnamen „Baker“ mit „Mitch Baker“ kombiniert, aber sie sagt: „Ethan?“
„Ach so. Den habe ich eine Zeitlang mitgenommen, als er von Zuhause weg ist.“
„Kam der auch aus so einer Horrorfamilie wie deine?“
Hmpf. Ich sollte nicht mehr so viel von mir erzählen. Und auch nicht von Ethan. „Der steht direkt da drüben. Wenn du das wissen willst, frag ihn doch selbst.“
Irene schnaubt amüsiert. „Ethan und Erzählen, das ist sehr lustig.“
Ich werfe dem Jungen einen Blick zu. „Das war nicht immer so.“
Jetzt gehen ihre Augenbrauen hoch. „Ernsthaft? Ethan hat viel geredet.“
„Na ja, nicht so viel wie der Professor, aber mehr als ‚ja, nein, hm‘.“
Genau passend kommt der Junge zu uns rüber, einen Teller mit Fleisch in der Hand und der gabernden Miffy im Schlepptau.
„Gib dem armen Hund was“, sage ich und Ethan wirft ihr ein Steak zu. Das sie natürlich fallen lässt und vermutlich mehr roten Schlamm als Steak in den Magen bekommt. Na ja. Soll ja gut für die Verdauung sein.
„Warum bist du eigentlich von zu Hause weg?“ fragt Irene Ethan, und ich verschlucke mich fast an meinem Fleisch.
Ethan wirft mir einen anklagenden Blick zu. Ich hebe meine freie Hand: „Hey, ich habe gesagt, sie soll dich fragen.“
Also bringt er irgendwie über die Lippen, dass es ein Harrdhu war.
„Ja, das hattest du schon mal erwähnt. Was können die Kreaturen denn?“ Irene ist mit den Infos noch nicht zufrieden.
„Hängen sich an dich dran. Verfolgen dich. Geruchssinn. Lassen nie locker.“
„Wie lange hat der Harrdhu dich verfolgt?“
„Vier Monate.“
„Vier …“ Irene stößt einen Pfiff aus. „Und dann habt ihr den Harrdhu erledigt?“
„Ja. Veilchen gegen Geruch, Messingmesser für den Rest.“
Ich könnte das jetzt noch ausschmücken, ist aber eigentlich nicht nötig.
Irene ist immer noch nicht fertig. „Und was ist mit deiner Familie?“
Ethan fährt sich durch die Haare. „Nicht mehr gesehen.“
„Wie bitte?“ Nur das kaputte Bein hindert Irene am Hochspringen. „Du warst seitdem nicht mehr bei ihnen? Seit … wie vielen Jahren?“
Jetzt rauft sich Ethan die Haare. „So zehn. Denken bestimmt, ich bin tot.“
„Du warst seit zehn Jahren nicht bei deiner Familie und lässt sie denken, du wärst tot? Bist du völlig irre? Weißt du, was Eltern machen, um ihre Kinder wieder zu bekommen? So entstehen Dämonenpakte!“
Es ist ein Wunder, dass Ethan noch keine Glatze hat, so wie der mit seiner Frisur umspringt. Aber Irene ist noch nicht fertig: „Du warst wohl zu feige, dich bei ihnen zu melden?“
Er schüttelt seinen Kopf. „Ne. Nicht feige. Obwohl vielleicht doch. Auf der Gala schon.“ Er schaut wie Miffy, wenn sie in mein Auto gepinkelt hat. „Wohl doch feige.“
So ganz unschuldig bin ich an der Sache ja nicht. Ich erinnere mich an mehr als eine Rede darüber, dass man als Jäger keine Freunde oder Geliebte haben darf, aus Sicherheitsgründen. An seine Familie habe ich dabei nicht gedacht. Ehrlich gesagt ist mir noch nicht mal die Idee gekommen, dass jemand seine Familie vermissen könnte. Oder allgemein, dass Familien nicht unbedingt eine Skorpiongrube sein müssen.
Und jetzt, wo Ben ein Teil meines Lebens ist und Matthew und die Jungs und irgendwie noch Jo und Aiden … Vielleicht muss man kein völlig einsamer Wolf sein.
Ich räuspere mich. „Wenn du mit ihnen sprechen willst, dann mach das bald. Kann sein, dass du demnächst keine Chance mehr hast. Endgültig.“
Ethan schaut mich misstrauisch an. „Endgültig?“
Ich wechsle einen Blick mit Irene, und sie sagt: „Die ganze Geschichte mit den Engeln ist noch viel größer. Apokalypsen-größer.“
Ethan guckt nur einen Augenblick lang ungläubig. Dann akzeptiert er, dass wir die Wahrheit sagen, wenn auch mit wenig Begeisterung. Tja, reihe dich ein, uns geht es genauso.
Wir erklären ihm so kurz wie möglich, was bisher passiert ist und was sich abzeichnet. Und wie schlecht die Chancen stehen. Er ist natürlich sofort bereit, zu helfen, der Kleine.
Und er will Sam von der Apokalypse erzählen. Hat man ja schon beim Hanging Tree gemerkt, dass da was läuft. Sam ist vielleicht gar nicht so schlecht für ihn. Die kann auf ihn aufpassen, der Junge ist viel zu weichherzig.
Als die Rede auf Sam kommt, sagt Irene, dass sie sowieso zu ihrer Familie und dort mit Mutter, Onkel und dem ursprünglichen Ringverschenker reden muss.
„Die Hooper-Winslows haben einige Artefakte im Keller, die uns helfen könnten. Wichtige Artefakte, wie …“ Sie stockt kurz und schaut betont weg von mir. „Das Horn von Jericho.“
Ich sollte die Sache endlich auf sich beruhen lassen, aber ich kann mir einen kleinen Kommentar nicht verkneifen: „Ich dachte, dass sei an einem sicheren Ort.“
Sie plustert sich auf. „Ist es ja. Zumindest vor weltlichen Dieben und den typischen Monstern ist es bestens geschützt. Unser Anwesen ist eine Festung.“
So ganz überzeugt bin ich nicht. Ihre Familie scheint ja aus ganz schönen Schätzchen zu bestehen, jedenfalls nach dem, was sie und Sam so bisher erzählt haben. „Auch vor Engeln? Und Angriffen von innen?“
Sie presst ihre Lippen zusammen. „Umso wichtiger, dass ich mal mit ihnen rede. Und vielleicht können Mutter und Onkel Howard sich endlich mal zusammensetzen und ihre Differenzen begraben. Wenn das Ende der Welt dabei nicht hilft …“
„Wann geht‘s los?“ frage ich.
„Wenn ich wieder gesund bin.“
Jetzt schaltet sich auch Ethan ein. „Wann genau?“
Das abkühlende Steak auf ihrem Teller scheint plötzlich wahnsinnig spannend zu sein. „In ein paar Wochen oder so.“
„Krankentransport?“ So leicht lässt Ethan nicht locker.
„Wenn ich wieder gesund bin“, wiederholt sich Irene.
Da scheinen zwei das gleiche Problem zu haben. „Was, zu feige, deine Familie zu besuchen?“
Irene schenkt mir einen bösen Blick, Ethan schaut betreten und lächelt dann schief.
Zu Irene sage ich: „Falls du Rückendeckung brauchst, melde dich.“ Ethan nickt dazu. Immer hilfsbereit, der Junge. Dann fällt mir etwas ein: „Aber in England darf man keine Schusswaffen tragen?“
„Richtig. Noch nicht mal unsere Polizei hat Schusswaffen“, sagt Irene.
Ich schüttele meinen Kopf. „Ist ja scheiße. Das kann doch nicht gutgehen.“ Ob die Hooper-Winslows alle Monster mit spitzen Stöcken töten?
Für einen Moment widmen wir uns alle unserem Abendessen. Fast friedlich hier. Die einzigen Geräusche sind das Bettel-Winseln Miffys und ab und zu ein Nachtvogel in der Ferne.
„Ethan“, sage ich. „Mit deinen Eltern. Überleg dir, ob du sie vor der Apokalypse noch mal besuchen willst. Kann besser sein, wenn sie nichts von dir wissen. Aber wenn du‘s willst … dann jetzt.“
„Will schon. Frage ist nur, wann.“ Er geht zum Auto und kommt mit einem Brief zurück. „An meine Eltern. Soll ich den schicken oder hinfahren?“
Ich will den Brief gar nicht lesen. Zu persönlich. „Ich würde hinfahren, aber ich bin scheiße im Briefeschreiben.“
„Bin schlecht im Reden.“
„Geht doch ganz gut.“ Ich zucke mit den Schultern. „Na ja. Deine Eltern wollen sicher wissen, was mit dir los ist. Ich würde es wissen wollen, wenn Ben was passiert. Und zwar sofort.“
Ach scheiße. Es dauert eine Sekunde, bis mir klar wird, dass ich etwas zu viel gesagt habe. Irenes Blick zeigt deutlich, dass sie verstanden hat, worum es geht. Dass der Ben, mit dem sie reden soll, mein Sohn ist.
Immerhin hält sie die Klappe.
Um abzulenken, biete ich Ethan meine Hilfe an. Irene ebenfalls, sollte er einen Arschtritt vor der Tür seiner Eltern brauchen. Sie scheint den Kleinen echt gerne zu haben, schau mal an.
Als ich Miffy noch ein Stück Fleisch gebe, fragt Ethan nach dem Hund.
„Die habe ich bei so einer alten Frau gefunden. Irgendsoein fieses Spinnending ist aus ihr rausgeplatzt und die Töle hat sich unter dem Sofa versteckt. Kam mir falsch vor, sie da zu lassen.“ Ich hebe den völlig eingeschlammten Köter hoch. „Na ja, irgendwann bringe ich sie ins Tierheim.“
Ethan hebt eine Augenbraue.
Ich seufze. „Vielleicht auch nicht. Ich habe mich schon dran gewöhnt, und sie hat ja auch einen guten Instinkt und warnt mich manchmal …“ Der geniale Wachhund versucht, mir das Gesicht zu lecken, stößt mir aber nur die Plastikhaube ins Gesicht.
Ethan und Irene schauen mich beide an, als wäre ich selbst der süße kleine Hund. Nicht, dass Miffy süß wäre.
Okay, Themawechsel. Ich frage die beiden nach dem Bauwerk und bekomme als Antwort eine wirre Geschichte über digitale japanische Götter und Computerspiele zum Lieben lernen.
„Ich würde es selbst nicht glauben, wenn mir das jemand erzählen würde“, sagt Irene zum Abschluss. Ich glaube ihr schon. So eine Story denkt sich doch keiner aus. Verstehen tue ich den seltsamen Kram trotzdem nicht so recht.
Anschließend sage ich Irene, dass ich bei Sunny Briefe hinterlegt habe und sie das auch machen könnte. Sie schüttelt den Kopf. Wahrscheinlich ist sie nicht auf das Road House angewiesen. Bei Sunny liegt ein Brief an Ben, einer an Matt, einer an Jo. Ich hatte kurz nachgedacht, auch an Sophia zu schreiben, aber dafür bin ich echt zu feige. Sind eh keine besonders tollen Briefe.
Inzwischen ist es über das ganze Geschwätz spät geworden. Bevor Ethan fährt, kommt er zu mir. „Wegen damals. Danke. Ist schon okay.“
Ich verziehe das Gesicht und scheuche das Gefühl in meinem Magen, das fast schon gute Laune sein könnte, zusammen mit Ethan weg. „Schon gut. Reden wir nicht mehr drüber.“ Irgendwie typisch, dass kurz vor dem Ende der Welt ein paar Leute aufhören, mich zu hassen.
Ach ja, wo wir beim Thema sind, frage ich Irene: „Soll ich bleiben?“ Ich schaue dabei ihr Bein an. Kann ich verstehen, wenn sie mit der Wunde lieber ihre Ruhe haben will.
Ihr Blick wandert kurz zu Ethan, der ein Pokerface aufsetzt. Dann sagt sie nur: „Ja.“
Ich helfe ihr, den ganzen Kram zu verstauen – oder besser gesagt, sie schickt mich durch die Gegend, um den ganzen Kram zu verstauen. Anschließend borge ich mir ihre Dusche. Dieser verfickte rote Lehm klebt echt überall. Ich sehe aus wie nach der Sache mit dem Jackalope und dem Hackschnitzler.
Miffy wird auch gleich gewaschen und schläft im Bauwagen sofort erschöpft ein. War ein bisschen viel heute.
Irene sitzt drinnen schon auf dem Bett. Ein paar Wassertropfen aus meinen Haaren fallen auf ihr Gesicht, als ich mich vorbeuge, um sie zu küssen. Ich schiebe eine Hand unter ihr Oberteil, und sie zuckt zurück. Die langen Kratzer auf ihrer Brust und ihrem Hals habe ich gar nicht so recht bemerkt. Vielleicht wird man als Jäger irgendwann blind für die Verletzungen anderer.
Aber ich muss ja sowieso vorsichtig sein, damit ihrem Bein nichts passiert. Und damit keiner von uns aus dem schmalen Bett fällt. Aber irgendwie kriegen wir das trotzdem hin.
Hinterher wasche ich mir die Hände und überlege kurz, ob ich wie üblich die Fliege machen sollte. Aber … ach, was soll‘s. Stattdessen lege ich mich wieder auf die enge Pritsche. Irene murmelt etwas von einem Sessel – keine Chance, Prinzessin, da würde ich lieber im Auto pennen – legt dann aber ihren Kopf auf meinen Arm und ist sofort wieder eingedöst.
Ich schließe meinen Augen und merke erst jetzt, wie erschöpft ich bin. Ist ja auch kein Wunder. War alles ein bisschen viel heute.
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