Im Zuge unseres Apokalypsen-Abenteuers haben wir ja zu dritt ein Gemeinschafts-Diary verfasst. Die vierte Mitspielerin aber hat zu demselben Abenteuer ein eigenes Einzeldiary nur aus der Sicht ihres eigenen Charakters geschrieben und mir netterweise erlaubt, es hier einzustellen, und das soll der Vollständigkeit halber natürlich nicht fehlen.
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Montag, 1.8.
I watch the heavens but I find no calling
something I can do to change what’s coming
stay close to me while the sky is falling
don’t wanna be left alone, don’t wanna be alone
The world’s on fire and
it’s more than I can handle
(Sarah McLachlan – World on fire)
Ich stehe auf einem Weg mitten in einem Sumpfgebiet. Rechts und links tote Bäume. Ein fauliger Geruch liegt in der Luft. Aber auch das beissende Aroma von Rauch. Eine Frau erscheint auf dem Weg. Sie trägt einen bunten Schleier, der ihr Gesicht vollständig verhüllt, eine Art Spinnennetz, das jedoch alles verdeckt.
“Komm, Oluwasegun. Erinnere dich, was ich dir gesagt habe.”
Daya. Ist das Daya da unter dem Schleier? Ich muss zu ihr, ich muss gehen, ich muss…
Als ich aufwachte, lag ich in meinem eigenen Bett, es war 8 Uhr, und die Sonne schickte ihre Strahlen durch die Jalousie und machte all das, was ich geträumt hatte, noch surrealer. Schlaftrunken stand ich auf und schlich ins Bad.
Frisch geduscht, aber immer noch nicht wirklich wach, ging ich in die Küche und nahm das Telefon zur Hand, während ich mir eine Tasse Kaffee zubereitete. Zum Glück waren Semesterferien, und ich konnte mir bis zum Nachmittag Zeit lassen mit dem Gang an die Uni. Ich drückte die Nummer, die bei mir auf Kurzwahltaste “1” gespeichert war und wartete, bis sich eine Frauenstimme meldete. “Schlecht geschlafen?” fragte sie gut gelaunt, um dann gleich fortzufahren: “Magst du mir nicht helfen, Schuhe auszusuchen?” Nein, Liz, nein, ich möchte dir nicht dabei helfen. Ich möchte, dass du dir alles nochmal überlegst. Aber ich sagte nichts in die Richtung, sondern empfahl ihr stattdessen, ihren Cousin mitzunehmen. Der hatte mit Sicherheit noch weniger Ahnung von Brautmode als ich, aber ich war nicht in der Stimmung, mit Felicity ihre Hochzeit zu diskutieren. Sie sollte mir mit einem anderen Schleier helfen.
In wenigen Sätzen umriss ich ihr meinen Traum, und sie wurde wieder ein wenig ernster. “In Huntsville, Alabama soll Anansis Schleier aufgetaucht sein. Das ist doch was für dich.” Mein Forscherdrang erwachte, und im Geiste sah ich mich bereits beim Dekan vorsprechen, um eine Dienstreise in den Süden zu beantragen. Aber dann dachte ich an die Straße in die Sümpfe, und das es nicht das erste Mal gewesen war, dass ich davon geträumt hatte. Ein Name tauchte vor meinem inneren Auge auf: Fabray. Da war noch mehr gewesen, nicht nur die Straße und die Frau, sondern auch noch ein Zirkus. Ich musste etwas überprüfen. “Danke, Liz, ich denke, ich weiß, was ich wissen wollte. Viel Spaß noch beim Vorbereiten.” Bevor sie antworten konnte, legte ich auf, einerseits, weil ich dringend nach Fabray googlen wollte, und zum anderen, bevor sie mir wieder von ihrer Hochzeit und ihrem wundervollen Bräutigam vorschwärmte.
Meine Suche war erfolgreich, und ich buchte ein Flugticket nach Nola, nicht nach Alabama, denn Fabray war der Name eines Wanderzirkusses oder sogar einer Freakshow. Sowas gab es noch? Mir war ein wenig mulmig zumute, aber meine Neugier war stärker. Abgesehen davon, vielleicht fand ich auch endlich eine Spur zu Daya.
Dienstag, 2.8.
here’s only one way out
And you’ll never find it ‚til you find it on your own
Rise up to find yourself
Even flames that burned you into ashes long ago
This fight begins as it will end
(boysetsfire – One Match)
Am nächsten Morgen stand ich in der Ankunftshalle des Flughafen New Orleans und wollte mich gerade mit meinem Gepäck aufmachen in Richtung Ausgang, als ich zwei mir wohlbekannte Personen an einem der anderen Gepäckbänder stehen sah. Irene Hooper-Winslow und Ethan Gale warteten dort auf die Ausgabe des Gepäcks aus ihrem Flieger aus Vermont. Als sie mich sahen, verzog Irene nur kurz das Gesicht, dann kamen beide herüber, als sie ihr Gepäck hatten.
“Was machen Sie denn hier?” wollte Irene wissen, “und sagen Sie nicht, dass es Zufall ist. Es gibt keine Zufälle.” Ihr Blick sagte mir, dass sie nicht scherzte. Auch Ethan sah nicht aus, als sei er auf einer Vergnügungsreise unterwegs. Allerdings, wenn ich es mir recht überlegte, hatte ich ihn bisher auch noch nicht wirklich lächeln sehen.
Wir beschlossen, den üblichen Starbucks anzusteuern, denn offenbar hatten wir mehr zu besprechen als die Tatsache, dass wir uns nicht zufällig hier trafen. Ich erzählte Irene und Ethan, warum ich gekommen war, und spätestens bei der Nennung des Namens “Fabray” nickten beide einstimmig. Irene hatte recht: Es gab keine Zufälle. Allerdings waren die beiden nicht auf der Suche nach Anansis Schleier, sondern dem “Hüfttuch des Hermes” (das war der Name, der Irene genannt worden war).
Als wir den Starbucks betraten, war ich mehr als geneigt, Irene zuzustimmen. Es gab keine Zufälle. An einem der Tische saß Cal, und er sah nicht aus, als ob er auf uns gewartet hätte. Gut, auf Irene und Ethan vielleicht schon, aber nicht unbedingt auf mich. Das konnte ich verstehen, ich hätte auch nicht auf ihn gewartet. Wir mochten uns zwar bei der Aktion im Keller des irren Echsenmenschen etwas näher gekommen sein, aber das reichte allenfalls für gegenseitigen Respekt, nicht mehr.
“Und warum bist du hier?” fragte er mich ohne Umschweife, auf die anderen hatte er tatsächlich gewartet. Wir setzten uns und tauschten uns aus: Offensichtlich waren wir alle aus dem gleichen Grund hier, auch wenn die Namen für das, was wir suchten, jeweils andere waren: Anansis Schleier war es bei mir gewesen, Irene war auf der Suche nach dem Hüfttuch des Hermes, Ethan wurde gesagt, er solle nach Iktomis Netz Ausschau halten, und für Cal hieß es schlicht nur Trickstertuch.
“Trickster” war ein gutes Stichwort für mich. Allen Gestalten war gemeinsam, dass man sie als Trickster bezeichnete in ihrem Kulturkreis. Der Trickster selbst war eine universelle Gestalt, auch meine eigene Kultur kannte ihren Trickstergott: Eshu, den Herren der Straßen, Kreuzungen und Türen.
Aber wir hatten nicht nur alle von dem Tuch gehört, sondern auch von Fabray und seinem Zirkus. Dieser befand sich zur Zeit in Campti, einer heruntergekommenen Siedlung 400km nördlich von New Orleans. Es war die achtärmste Stadt der USA, und die Stadt – wenn man es denn so nennen wollte – hatte nur noch rund 1000 Einwohner. Es war schwül und drückend in der kleinen Siedlung, düstere Wolkenberge türmten sich am Horizont. Als wären das nicht genug Vorboten dessen, was da kommen sollte, fanden wir auch einen Flyer des Zirkusses, auf dem lodernde Flammen abgebildet waren.
Das Feuer wird kommen, und es wird alles vernichten
Der Zirkus befand sich auf dem Red River Field etwas außerhalb des Ortes, und eigentlich war es mehr ein Jahrmarkt als ein wirklicher Zirkus. Auf dem von einem baufälligen Zaun umzäunten Areal gab es ein kleines Riesenrad, von irgendwoher war Leierkasten-Musik zu hören, und an einer Getränkebude hingen mehrere Jugendliche ab, die Bier tranken. Mit Sicherheit war noch keiner von ihnen alt genug, es legal zu tun, aber wenn ich sie so ansah, dann wusste ich, dass das wahrscheinlich das Aufregendste war, das hier passierte. Auch wenn ich die gleiche Hautfarbe hatte wie sie, musterten sie mich abschätzig, ich war ihnen suspekt, mit dem teuren Anzug und meiner Begleitung.
Die weiteren Attraktionen des Zirkus-Jahrmarkts waren das Zelt einer Wahrsagerin, eine Zirkuszelt und eine Freakshow. Wow. Aber ich musste zugeben, dass ich so etwas schon erwartet hatte, der ganze Ort atmete den Geist vergangener Jahrhunderte. Die Freakshow warb damit, dass sie nur für “Leute mit starken Nerven” war, und ich bildete mir ein, dass sowohl Irene als auch Cal mir einen Seitenblick zuwarfen. Ich habe starke Nerven, sie sind nur nicht an das Übernatürliche gewöhnt. Aber ich arbeite daran.
Wer keine starken Nerven hatte, waren definitiv die Betreiber des Karnevals, denn sie forderten von meinen Begleitern, dass sie ihre Waffen ablegten. Alle drei schienen nicht glücklich darüber zu sein, aber der Typ am Eingang wiegelte ihre Beschwerden mit einem “Gab schon Unfälle” ab. Ich fragte mich, ob es die Unfälle bei den Insassen der Freakshow oder den jeweiligen Jägern gegeben hatte.
Im Inneren des Zeltes langweilten sich ein Rakshasa (zumindest stand das auf einem Schild vor dem Käfig, in dem ein alter Mann saß), der rauchte, eine Naga (sehr hübsch), ein Yeti und eine Vampirin, die um eine Blutspende bat. Keiner der Käfige war abgeschlossen, aber wirklich furchterregend wirkte keines der Wesen auf mich – auf meine Begleiter erst recht nicht. Der Typ vom Eingang war unbemerkt hinter uns hergekommen und stellte sich breitbeinig auf, bereit, seine Exponate vor uns zu schützen, aber auch, um uns vor den Insassen der Freakshow zu schützen. Irene sah ihn unverwandt an und meinte dann: “Ich verstehe, was Sie mit Unfällen meinen.”
Der Bouncer sah Irene ungerührt an. “Wir hatten schon mit Leuten wie Ihnen zu tun.” Damit meinte er sicher Jäger und keine Universitätsdozenten. “Achja, das erinnert mich an was.” Cal rieb sich das Kinn, während er sich an eine Geschichte erinnerte, in der ein paar Jäger einen Zirkus voller Monster hatten ausräuchern wollen. Vor zwölf Jahren war das wohl gewesen. Er sah in Richtung des Bouncers, und der nickte nur langsam. “Ist geklärt“, meinte er dann. “Ein ganz schönes Spiel mit dem Feuer“, antwortete Irene und deutete auf die Käfige. War das eine Drohung oder eine Feststellung? Dann jedoch wechselte sie das Thema und fragte nach dem Schleier. Wenn der Bouncer überrascht war, dann zeigte er es nicht, er sagte nur “Serenity. Wahrsagezelt” und deutete nach draußen.
Wir gingen zu dem Wahrsagezelt hinüber, aus dem gerade ein junges Pärchen kam, beide sahen sehr glücklich aus. Natürlich, die Wahrsagerin hatte ihnen wahrscheinlich eine glückliche Zukunft vorausgesagt, was sie in dieser Gegend hier brauchen konnten. Irene ging voraus ins Zelt, und wir anderen folgten ihr. “Entschuldigung, ich mache keine Gruppenvoraussagungen…”
Ich erstarrte, als ich erkannte, was die Wahrsagerin da über dem Kopf trug. Es sah aus wie das Tuch aus meiner Vision, nein, es war das Tuch aus meiner Vision. Exakt das gleiche Tuch. Bevor ich doch etwas sagen konnte, kam Irene mir zuvor. “Die Herren bleiben. Und Sie sagen mir jetzt die Zukunft voraus.” Auch wenn die Wahrsagerin das Trickster-Tuch aus meiner Vision trug, an ihre übersinnlichen Fähigkeiten glaubte ich nicht. Dafür wirkte alles hier einfach zu sehr… drüber. Die LED-Kugel, die in allen Farben des Regenbogens leuchtete, das Gemurmel der Wahrsagerin, in dem ich einige Wörter Yoruba, aber auch Xhosa, Ibo und irgend etwas asiatisches erkannte und das nicht wirklich Sinn ergab, und dann ihre Prophezeiung für Irene: Eine Gefahr in der Zukunft (bei einer Jägerin sicher nichts Ungewöhnliches), und daher war Zusammenhalt notwendig (waren wir nicht zu viert hierher gekommen?), Freundschaft war der Schlüssel (ich wagte einen unauffälligen Seitenblick zu Cal) und ein großer dunkelhaariger Mann würde kommen (Nein, der war schon da, wenn ich mir Ethan Gale so ansah).
Dabei rührte sie mit ihren Händen in der Luft über der Kugel, und ich konnte sehen, dass sie ebenso dunkel waren wie meine. Ihre Stimme wurde von dem Tuch gedämpft, daher konnte ich nicht hören, ob sie jung oder alt war, aber in Verbindung mit meinen Visionen kam mir ein ungeheurer Gedanke. Konnte es sein, dass Daya unter dem Tuch steckte? Ich musste das unbedingt herausfinden.
Irene schmunzelte kurz, aber dann wurde sie wieder ernst. “Hören Sie mal, gute Frau, das ist der größte Blödsinn, der mir jemals erzählt wurde. Und wir sind eigentlich auch nicht hier, um uns die Zukunft voraussagen zu lassen.” Die Wahrsagerin zuckte zurück, ihre Hände verschwanden wieder unter dem riesigen bunten Tuch. “Was wollen Sie dann?” fragte sie. “Mit Ihnen über den Schleier reden“, antwortete Irene, während ihr Blick weiterhin auf der Frau mit dem Tuch ruhte. “Entschuldigen Sie mich.” Sie stand auf und verschwand hinter einem Paravent. Aus den Augenwinkeln glaubte ich zu erkennen, wie sie die Zeltplane anhob und mit jemandem sprach. Sie kehrte zurück, doch nicht allein. “Leon, die Herrschaften möchten gehen“, sagte sie zu dem riesenhaften Mann, der mit seinen blonden Haaren und dem grimmigen Gesichtsausdruck seinem Namen alle Ehren zu machen schien. “Nein, möchten die Herrschaften nicht“, meinte Cal und baute sich ebenso bedrohlich vor Leon auf. Warum musste dieser Mann eigentlich immer Ärger machen? Leon war allerdings auch nicht wirklich beeindruckt von Cal. “Ich habe das Hausrecht hier, mein Lieber. Wenn ich sage, dass Sie gehen, dann gehen Sie. Alle. Lassen Sie Serenity in Ruhe.” Ethan hob beschwichtigend die Hände. “Keine Sorge, Mann. Wollen nur reden.” Leon betrachtete den wortkargen Mann skeptisch, als Irene sich nach vorne schob mit einem Lächeln, das so süß war, dass man davon fast Diabetes bekam. “Hören Sie, Mr… Leon. Wir brauchen dringend Ihre Hilfe und die von Serenity. Bitte. Lassen Sie mich mit ihr reden, allein.” Leon überlegte kurz, aber dann schien er zu der Einsicht zu kommen, dass von Irene die geringste Gefahr ausging (wenn er wüsste… der harmloseste hier war ich). Irene ihrerseits wandte sich an Cal. “Lass mich das machen, bitte. Mit Gewalt kommen wir hier nicht weiter.” Ihr Charme verfehlte seine Wirkung nicht bei ihm, brummend nickte er und ging dann mit Ethan und mir hinaus.
Cals Handy klingelte, als wir draußen standen, und er ging ein paar Schritte weg zum Telefonieren. Als er wiederkam, war auch Irene mit ihrem Gespräch mit Serenity fertig. Sie erzählte uns, dass sie die Wahrsagerin gewarnt hatte, dass noch andere Jäger hier auftauchen könnten – ein gewisser Ian, den sie gut zu kennen schien, beispielsweise. Sarah – so hieß Serenity wohl eigentlich – hatte gesagt, dass sie das Tuch nicht abnehmen könnte, weil sie dann sterben müsste. Sterben? Sie habe Visionen, sagte sie auf Irenes Nachfrage, die immer schlimmer wurden, aber mit dem Tuch habe sie sie unter Kontrolle. Also war die Wahrsagerin von Fabrays Zirkus nicht wirklich eine Betrügerin. Aber wer war sie dann? Ich merkte, dass ich den Gedanken, dass sie Daya sein könnte, noch nicht ganz aufgegeben hatte. Wahrscheinlich war sie es nicht, sie hätte mich ja erkannt, nachdem sie mich in meinen Visionen zum Zirkus geschickt hatte. Oder hielt sie doch noch etwas zurück? Das Wesen, das mich damals in Seattle angegriffen hatte, fiel mir wieder ein. Ich wusste noch immer nicht, wer oder was das gewesen war, und was er mit meiner Schwester und ihrem Verschwinden zu tun hatte.
Irene hatte Sarah außerdem angeboten, dass wir Wache hielten, denn sie fürchtete, dass besagter Ian auftauchen und sich das Tuch mit Gewalt nehmen würde. Sie besprach das mit Leon, der jetzt dazu kam. “Aber dann draußen“, meinte der löwenhafte Mann, er war sich immer noch sicher, dass wir Ärger bedeuteten. Viel Ärger. Irene nickte, und gefolgt von Cal und Ethan machte sie sich auf, ihre Waffen wieder in Empfang zu nehmen. Ich wollte den Dreien folgen, als ich mich doch noch einmal umdrehte, und die Frage stellte, die mir den ganzen Abend schon auf der Zunge gelegen hatte. “Kann ich Sie etwas fragen?” Er sah mich an und zog eine Augenbraue hoch. Auch wenn ich mich im Aussehen von meinen Begleitern abhob durch meine Kleidung und meine ganze Art, ich war eben auch mit ihnen gekommen, und damit verdächtig.
“Wie lange… wie lange ist Serenity schon bei Ihnen?” setzte ich nach, nicht auf eine Antwort von Leon wartend. Er sah mich noch einmal lange an und beinahe fürchtete ich, dass er einfach gehen würde, aber dann meinte er: “Warum wollen Sie das wissen?” Ich schluckte, es fiel mir nicht leicht, gegenüber dem Zirkusbesitzer souverän zu bleiben. “Ist sie… kann sie… ist sie meine Schwester?” Jetzt war es raus. Gott, ich kam mir so dumm vor, irgendwie wie ein Stalker oder sogar Schlimmeres.
Leon antwortete nicht sofort, sondern zündete sich betont langsam eine Zigarette an. “Ist sie nicht“, sagte er kurz angebunden. “Sind Sie sicher?” hörte ich mich fragen und im gleichen Moment stellte ich fest, was das für eine selten dämliche Frage war. “Wann ist Ihre Schwester verschwunden?” wollte Leon wissen, jedes Wort gelangweilt in die Länge gezogen. “Vor 30 Jahren“, antwortete ich. “Dann ist sie es definitiv nicht. Sie ist zu jung.” Ich spürte, wie ich meinen Mund öffnete, um ihm etwas zu erwidern, doch Leons Blick sagte mir, dass ich nicht weiter fragen sollte. “Dann… dann weiß ich jetzt Bescheid“, sagte ich nur, und er betrachtete mich weiter herablassend-desinteressiert. “Ja. Jetzt wissen Sie es. Wiedersehen.”
Wir teilten die Nachtwache auf, die erste Wache übernahmen Irene und Cal, während Ethan und ich für die zweite Wache eingeteilt waren. Als mich Irene weckte, lächelte sie hintergründig, und als ich an mir herab sah, merkte ich, dass mein Jacket voller Hundehaare war. Cals kleine Hündin Miffy saß neben mir und sah mich erwartungsvoll an. Hatte sie mich etwa während meiner Schlafphase als Kopfkissen benutzt? Verlegen tätschelte ich Miffys Kopf und folgte dann Ethan nach draußen.
Dass der junge Mann nicht besonders gesprächig war, war mir ja schon seit unserer ersten Begegnung klar, aber jetzt sagte er gar nichts. Ich fühlte mich unwohl, und so tat ich das, was ich zu meinem Unmut immer tat, wenn ein peinliches Schweigen entstand: Ich begann zu reden. “Das mit meiner Schwester, das habe ich Ihnen ja schon erzählt…” – “Hmmm.” – “Und dann war ich vor kurzem in Maine, und da wurde ich wieder an alles erinnert. Da ist die Zwillingsschwester einer Frau verschwunden, und noch andere Kinder, wegen eines Dämonenpaktes…” – “Mhm.” – “Aber zum Glück waren ja Barry und Bart Blackwood dabei…” – “Barry Jackson?” Jetzt kam Leben in Ethan. Ich nickte erstaunt. “Kennen Sie Ihn?” Er nickte. “Ja. Freund. Bart Blackwood kenne ich auch.” Irgendwie hatte ich langsam das Gefühl, dass diese Jägerwelt sehr klein war und Irene recht hatte damit, dass es keine Zufälle gab, und daher fragte ich weiter. “Und… Niels Heckler? Kennen Sie den auch?” Ethan nickte wieder, sein Gesichtsausdruck ließ keinen Rückschluss zu darüber, was er dachte, oder ob er von meinem Redeschwall genervt war. “Seltsamer Knabe“, meinte ich nur, und Ethan machte nur “Mhmm.” “Seine Cousine ist eine gute Freundin von mir“, informierte ich ihn jetzt, und für einen kurzen Moment hatte ich den Eindruck, dass sich sein Gesichtsausdruck veränderte. Aber vielleicht war das auch einfach nur der Widerschein der Lichter des Zirkus gewesen.
Mittwoch, 3.8.
One by one by one by one
Kings rise and fall
One by one by one by one
Heavy lies this crown of bones
Darkness behold
This hell we call home
Burn it, burn it all
Burn it all to ash
Burn it all to ashes
(Parkway Drive – Vicious)
Am nächsten Morgen fanden wir uns wieder auf dem Zirkusgelände ein, um noch einmal mit Serenity und Leon zu reden. Fabray hatte es sich nicht nehmen lassen, uns ein zweites Mal Eintritt abzunehmen, er und seine Carnies liessen uns mit jeder Bewegung, jedem Blick und jedem Wort spüren, dass sie uns nicht hier haben wollten. Der Rakshasa schlappte über den Vorplatz, ein alter Mann, der in seinen Krallen eine selbstgedrehte Zigarette hielt. Er beobachtete uns gleichgültig, als wir Serenitys Zelt betraten, wo die junge Seherin saß und zitternd eine Tasse Kaffee trank. Leon stand hinter ihr und betrachtete uns mit unverhohlener Abscheu.
“Wir brauchen das Tuch“, sagte Irene ohne weitere Umschweife. “Ich kann nicht!” Sarahs Stimme klang flehend. “Ich kann es nicht abnehmen.” “Aber…” Irene schien nicht zufrieden. Leon legte Sarah die Hand auf die Schulter, und sie wandte den Kopf zu ihm. Er nickte, und sie griff an die Ränder des Schleiers und schlug ihn zurück.
Es war nicht Daya unter dem Schleier, sondern eine sehr hübsche junge Schwarze Anfang 20. Sie wirkte zerbrechlich, fast durchsichtig, und kaum hatte sie den Schleier gelüftet, verdrehten sich ihre dunklen Augen, dass nur noch das Weiße zu sehen war. Sie keuchte, dann fiel sie von ihrem Stuhl und blieb zuckend liegen, als habe sie einen epileptischen Anfall. Ethan schaltete als Erster, er zog ihr den Schleier wieder übers Gesicht. Augenblicklich hörten die Krämpfe auf, und sie kam wieder zu sich.
“Das ist nicht gut. Das ist gar nicht gut“, flüsterte sie, und an Leon gewandt: “Dann ist es wohl jetzt soweit. Meine Zeit ist um.” Er sah sie an, und seine Züge wurden weich. “Bist du sicher, dass du das Richtige tust?” fragte er sie leise, seine Stimme hatte einen väterlichen Unterton. “Ich will nicht sterben, aber es gibt keine andere Möglichkeit. Ich muss das Tuch hergeben.” Irene, Cal, Ethan und ich tauschten einen Blick aus. Wir konnten unmöglich zulassen, dass Sarah starb, nur weil sie uns das Tuch überließ. Keiner von uns wollte ihr Blut an seinen Händen wissen. Irene sprach als erste aus, was wir alle dachten: “Dann werden wir dich einfach mitnehmen.” Leon sah sie überrascht an, sein Gesicht hatte wieder den abweisenden Ausdruck angenommen, mit dem er uns die ganze Zeit bedacht hatte.
“Ich werde auf sie aufpassen“, platzte ich heraus. Leon überlegte kurz, aber er schien nicht zufrieden zu sein, also setzte ich hinzu: “Ich verbürge mich mit meinem Leben dafür, dass ihr nichts passiert.” Kaum hatte ich die Worte ausgesprochen, da fragte ich mich, was mich da gerade geritten hatte. Wenn dem Mädchen auch nur ein Haar gekrümmt wurde, dann wäre ich dran, und zu recht. Leon sah nicht aus, als würde er spassen.
“Ich komme zurück. So oder so. Mit ihr oder ohne sie.” Ja doch, das fühlte sich richtig an. Mutig. Adrenalin strömte durch meinen Körper, als ich dem Blick des Zirkusbesitzers standhielt. Ich hielt ihm meine Hand hin, und er schlug ein. “Mit oder ohne sie. Dein Wort.”
Ich hatte zum ersten Mal mein Leben verkauft, und zu meinem Erstaunen fühlte es sich schrecklich gut an.
Als wir hinausgingen, fragte Cal Sarah, was sie gesehen hatte. Sie stockte kurz, aber dann berichtete sie von ihrer Vision. “Kreise im Boden… große Kreise. Ein seltsames Leuchten geht von ihnen aus, und Dunkelheit… tiefe schwarze Dunkelheit. Vampire… und Eismonster (Bei dieser Erwähnung zischte Irene kurz durch die Zähne).” Es fiel ihr sichtlich schwer, darüber zu sprechen, doch Cal bohrte weiter. “Wo?” Sarah beschrieb einen Berg, der wie ein Zylinder geformt war, mit Scharten und Kanten, den Ethan nach kurzem Überlegen als den Devil’s Tower identifizierte. Es handelte sich dabei um eine Art Felsmassiv in Wyoming, von den Ureinwohnern wurde er auch Bear’s Lodge genannt und war für sie ein heiliger Ort. Cal nickte wissend und schloß zu Irene auf. Ich reichte Sarah meinen Arm – ich würde sie von jetzt an nicht mehr aus den Augen lassen – und sie drehte ihren Kopf zu mir. “Sie ist auf dem dritten Weg“, sagte sie kaum hörbar. Ich sah sie verwirrt an. “Daya. Sie ist auf dem dritten Weg.”
“Noch nicht. Ich bin zwar meinen Fesseln entkommen, aber ich kann noch nicht zu dir. Lerne, die Mächte zu kontrollieren. Lerne, das Feuer zu entfachen. Höre auf die guten Ratschläge und ignoriere die schlechten. Es wird kein einfacher Weg, aber er ist nicht mehr lang.”
Irenes Handy klingelte, und nach einem kurzen Wortwechsel legte sie wieder auf. Ein gewisser Don hatte sie angerufen und ihr Neuigkeiten mitgeteilt bezüglich einer Baufirma. Newport Constructions. Ich hatte noch nie davon gehört, aber vom Baugeschäft hatte ich auch keine Ahnung. Offenbar hatte ein gewisser A.C. Ruffle mit dieser Firma und einem ganzen weiteren Firmenverbund Land in Naturschutzgebieten gekauft, rund um Naturdenkmäler, und begonnen, diese zu planieren und zu betonieren. Auch am Devil’s Tower hatte Ruffle Land gekauft, obwohl das von Gesetzes wegen gar nicht möglich sein dürfte. Diesmal war er sogar selbst in Erscheinung getreten, um die Geschäfte abzuwickeln. Es hatte auch Proteste gegeben, aber die Demonstranten waren alle unter fadenscheinigen Gründen verhaftet und eingesperrt worden.
Irene hatte Don gefragt, ob er sich über die Naturgeister in der Gegend kundig machen konnte und sie dann wieder anrief. Ob er herausfinden konnte, ob es ein System gebe, das kippen konnte, wenn zuviele Geister und Naturdenkmäler einbetoniert wurden.
A.C… der Name kam mir bekannt vor. War er nicht auch damals an dem Shinto-Schrein auf dem Gelände des Domus Ruber gefallen? Wer immer er war, er führte nichts Gutes im Schild.
Irene wollte ihr Handy gerade wieder einstecken, als ihr ein Gedanke kam. “Wir chartern einen Jet. Wir müssen so schnell wie möglich nach Wyoming, nach Rapid City.” Ich wollte protestieren, weil wir uns ja noch um Sarah kümmern mussten, aber sie winkte ab. “Das können wir auch unterwegs machen.”
Es zeigte sich, dass Sarah mir nicht mehr von der Seite wich, nicht im Auto, und auch nicht später im Flugzeug. Ich machte mir zwar Sorgen um sie, aber auf der anderen Seite genoß ich meine neue Verantwortung auch ein wenig. Sie war zu alt, um meine Tochter zu sein, aber trotzdem konnte ich meine Gefühle für sie nicht anders beschreiben als als väterlich. Ich brachte ihr ein wenig Yoruba bei, falls sie weiter bei Fabray die Zukunft voraussagen wollte, konnte sie meine Muttersprache in ihre Weissagungen einbauen.
Als sie schlief, zückte ich mein Tablet und recherchierte etwas. Während unserer Yorubastunde war mir etwas eingefallen, ein Ritual, von dem mir meine Großmutter berichtet hatte. Dafür brauchte man einige Zutaten, von denen ich allerdings nicht wusste, ob sie so schnell zu beschaffen waren. Das Geld spielte keine Rolle, aber hatten wir die Zeit? Irene gesellte sich zu mir, und ich berichtete ihr von meinem Plan. Ein schwarzes Huhn war notwendig für das Ritual, ebenso eine Kalebasse sowie eine Kräutermischung. Irene zögerte nicht lange, sie zückte ihr Handy und rief jemanden an. Fünf Minuten später kam sie zu mir zurück. “In Rapid City wartet ein Ayam Cemani auf uns. Ein Huhn, bei dem nicht nur das Gefieder, sondern an dem alles schwarz ist aufgrund einer Melanin-Fehlproduktion.” Ich staunte, ich hatte schon von dieser Hühnerrasse gehört, aber ich wusste auch, dass sie sehr teuer war. Irene hatte offensichtlich die richtigen Kontakte und das nötige Kleingeld, mal eben so ein Tier zu besorgen. Sie beeindruckte mich immer wieder aufs Neue.
Dann weckte sie Ethan und flüsterte ihm irgend etwas zu. Schlaftrunken sah er zu mir herüber. “Kalebasse?” fragte er, und ich beschrieb ihm, was ich genau brauchte. Er machte sich Notizen und versprach, sich nach der Landung darum zu kümmern. Ich hatte Bilder von dem Shinto-Schrein gesehen, den er gebaut hatte. Eine Kalebasse konnte da nur eine seiner leichtesten Übungen sein. Nachdem ich Ethan seine Aufgabe erklärt hatte, kam auch Cal dazu und erkundigte sich, was wir planten. Ich umriss auch ihm meinen Plan, und zu meinem Erstaunen holte auch er sein Handy hervor und rief eine alte Bekannte an, eine Jägerin, die nun Park Rangerin war. Sie kannte sich mit Kräutern aus und konnte uns die Mischung besorgen, von der Großmutter gesprochen hatte.
Nachdem er wieder aufgelegt hatte und sich wieder schlafen gelegt hatte, spürte ich, wie sich ein seltsam wohliges Gefühl in mir ausbreitete. Ich sah den schlafenden Cal, der jetzt leicht schnarchte, Irene, die gedankenversunken etwas auf ihrem Handy tippte, und Ethan, der sich weiter Notizen machte, und mir wurde zum ersten Mal bewusst, dass mir diese merkwürdige gemischte Truppe etwas gab, von dem ich gar nicht gemerkt hatte, dass es mir gefehlt hatte: Das Gefühl von Freundschaft.
Es war ein natürlicher Hain, den ich mir schon vom Flugzeug aus ausgeguckt hatte, in den wir am Abend nach unserer Landung in Rapid City fuhren. Das Ayam Cemani gackerte aufgeregt in der Katzentransportbox, in der es von einem jungen Indianer scheinbar aus dem Nichts kommend vor ein paar Stunden an unserem Motel angeliefert worden war, Ethans Kalebasse hielt ich auf dem Schoß, darin lag ein Päckchen mit den Kräutern, die Cal mir irgendwann am Nachmittag wortlos überreicht hatte.
Sarah war aufgeregt, aber anscheinend nicht halb so nervös wie ich. Ich war kein babalawo, ich war ein Dozent für Westafrika-Studien, dessen Großmutter sich mit Dingen wie diesen ausgekannt hatte. Es bestand immer noch die Möglichkeit, dass das Ritual schiefging, und ich hatte in Gedanken bereits mein Testament gemacht.
Aber ich musste es versuchen, es war unsere einzige Chance, Sarah zu retten, und das Tuch zu erhalten. Ich zog mein Jackett, die Brille und meine Krawatte aus, was mir eine hochgezogene Augenbraue von Cal und ein Schmunzeln von Irene einbrachte. Für den Moment konnte ich mir keine Gedanken darüber machen, ich musste mich um das Ritual kümmern. Kurz hatte ich Skrupel, dem Huhn, dass mich aus seinen pechschwarzen Augen fragend anglotzte, die Kehle durchzuschneiden, aber dann nahm ich allen Mut zusammen und schnitt ihm mit Cals Messer den Hals durch. Das Blut strömte in die Kalebasse, während ich die Worte des Rituals murmelte, das ich von Großmutter Enitan gelernt hatte. Als das Gefäß voll gelaufen war, warf ich die Kräuter in das warme Blut. Es zischte, und in der Schale gab es eine Verpuffung. Es hatte also funktioniert, erleichtert atmete ich auf. Ich bedeutete Sarah, den Schleier anzuheben, nur soweit, dass ihr Dekollete sichtbar wurde, damit ich ihr mit der Blutmischung die Zeichen aufmalen konnte, die sie von ihren Visionen heilen sollten.
Das Blut brannte sich in ihre Haut, sie schrie auf und fiel in Ohnmacht. In diesem Moment sah ich vor meinem inneren Auge einen Berg, Menschen, und einen tanzenden Mann… war das ich? Warum tat ich das? Und dann, wie ich vor Felicitys Tür stand, und sie sie mir vor der Nase zuschlug. So schnell, wie die Bilder gekommen waren, waren sie auch wieder verschwunden. Ich holte tief Luft, um zu erklären, was passiert war, doch an den Gesichtern meiner Begleiter sah ich, dass sie eben etwas Ähnliches gesehen hatten wie ich. Cals Gesichtsausdruck machte mir für einen Moment Angst, er sah grimmig-entschlossen und gleichzeitig unglaublich zufrieden aus.
Irene fing sich als Erste wieder, sie ging auf Sarah zu und nahm ihr den Schleier ab. Ich konnte sehen, dass sie die Wunden auf Sarahs Brust kritisch beäugte. “Mit einem Brandeisen wäre das schneller gegangen“, meinte sie dann schließlich trocken. Bevor ich etwas erwidern konnte, kam Cal mir zuvor. “Das hätten wir aber erst herstellen müssen“, entgegnete er, und für einen kurzen Moment überlegte ich wieder, mit was für Leuten ich hier unterwegs war. Dann jedoch wurden ihre Züge wieder weich, und sie legte Sarah ihre Hand auf den Arm. “In spätestens sechs Tagen ist das verheilt, dann lassen die Schmerzen nach.” Sarah nickte, aber sie schien gerade etwas anderes zu beschäftigen. Qualvoll langsam rappelte sie sich auf, nervös drehte sie den Kopf nach allen Seiten. “Ich kann… ich kann nichts sehen!” klagte sie, und ich überlegte fieberhaft, ob ich etwas falsch gemacht hatte. “Wie war es mit Schleier?” fragte da Ethan leise. Sarah sah verwirrt in seine Richtung, aber dann wurde so etwas wie ein Lächeln auf ihrem Gesicht sichtbar. “Oh. Stimmt. Natürlich.” Ethan half ihr hoch, und sie kam auf mich zu. “Danke“, sagte sie, während sie mich lächelnd ansah. Ich war beruhigt, das Ritual hatte gewirkt, innerlich dankte ich meiner Großmutter für ihre umfassende Ausbildung.
Du bist so ein kluger Junge, Oluwasegun. Shango hat dich gesegnet, und Eshu beschützt dich auf deinen Wegen.
Irene nahm das Tuch an sich und legte es zusammen. Sie warf mir einen vielsagenden Blick zu, und stillschweigend kamen wir überein, dass sie das Tuch behielt. Dann stiegen wir wieder in das Auto und fuhren weiter nach Sundance in der Nähe des Devil’s Tower. Bevor wir dort in einem Motel eincheckten, wollte Cal sich die Gegend aus der Nähe ansehen. Weit kamen wir nicht, denn das Gelände war umgeben von einem Bauzaun, überall standen Autos und Container, es sah aus wie auf einer Großbaustelle. Der Zaun selbst war abgehängt mit einer Plane, aber das hielt Cal nicht ab. Er schlich sich an einer Stelle, wo der Zaun noch nicht ganz fertig war, auf das Gelände. Kurze Zeit später kam er wieder, sein Gesichtsausdruck wirkte noch grimmiger als sonst. “Wir haben es mit zwei Toren zu tun. Die falschen Eltern. Astarte und Moloch.” Ich blinzelte. Selbstverständlich hatte ich schon von Astarte und Moloch gehört, aber was hatten die beiden in der nordamerikanischen Prärie verloren? Ging es etwa schon wieder um… Engel? Ich beschloss, den Gedanken zur Seite zu schieben und mich um meinen Schützling zu kümmern. Für Engel hatte ich jetzt keine Zeit. Nicht schon wieder. Soviel konnte ich gar nicht trinken, um das zu verkraften.
Sarah war immer noch völlig überrascht von den neuen Möglichkeiten, die sich ihr jetzt boten, aber sie hatte dennoch nur einen Wunsch: Sie wollte nach Hause. Mir war nicht wohl bei dem Gedanken, sie alleine in ein Flugzeug zu setzen und nach New Orleans fliegen zu lassen. Immerhin hatte ich Leon versichert, sie mit meinem Leben zu beschützen, und ich wusste, dass die USA für eine junge schwarze Frau, die die letzten Jahre in der Abgeschiedenheit eines Wanderzirkus verbracht hatte, nicht unbedingt nur das Beste bereit hielten. Aber sie lachte meine Bedenken weg, sie hatte Heimweh, und so buchte ich ihr einen Flug und eine Karte für einen Greyhound-Bus, der sie von New Orleans zum gegenwärtigen Standpunkt des Zirkusses bringen sollte. Das einzige Zugeständnis, das ich ihr abringen konnte, war die Tatsache, dass sie bis zum nächsten Morgen wartete, bis sie sich auf die Reise machte. Also buchte ich ihr auch noch ein Zimmer in dem Motel in Sundance, in dem wir abstiegen, und wünschte ihr eine gute Nacht und ging dann zurück zu meinen Begleitern.
Irene telefonierte gerade. Als ich näherkam, hörte ich, dass sie den Lautsprecher angeschaltet hatte, aus dem Barrys Stimme erklang. Er erklärte ihr, dass sein Cousin ihn angerufen habe wegen der Naturgeister. Das Gleichgewicht kippe, meinte er, wir alle könnten es sehen: Es sei der Klimawandel. Aber wir konnten noch etwas tun: Bear’s Lodge hieß ja nun nicht umsonst so. Wenn es uns gelang, den Bärengeist auf unsere Seite zu ziehen, hatten wir einen mächtigen Verbündeten. Irgendetwas in mir reagierte auf diese Ankündigung, doch ich war immer noch in Gedanken, als ich das Zimmer betrat.
Nachdem Irene wieder aufgelegt hatte, unterhielten sie und Ethan sich leise miteinander, das hieß, Irene redete, und Ethan warf ab und an ein Wort oder zwei ein. Cal rauchte draußen, doch plötzlich stieß er die Tür auf und kam auf mich zu. “Nelson, mitkommen.” Ich sah ihn völlig verdattert an, aber ich folgte ihm nach draußen. “Da.” Er deutete auf eine dunkelhaarige Frau, die mir vage bekannt vorkam. Oh nein, nicht schon wieder. Das war diese Hilda-Lee oder Hialee, die auch beim Domus Ruber aufgetaucht war. Also ging es wohl definitiv um Engel. Ich schluckte, doch ich wollte mir nichts anmerken lassen.
“Es geht um das Trickstertuch“, informierte Cal mich, während er an seiner Zigarette zog. “Du hast die Tore gesehen. AC will sie öffnen, und Hialee sagte, es gibt ein Ritual, zu verhindern, dass da was durchkommt.” Und dann erzählte er mir noch mehr. Ich sah abwechselnd von Cal zu der Indianerin. Ja natürlich. Ein Ritual, das verhinderte, dass die Apokalypse stattfand. Kleiner hatte er es wohl nicht? Ich spürte, dass ich zu zittern begann, und mein Verlangen, diese neuen Erkenntnisse mit Jack und Johnny an der Minibar zu teilen, wuchs. Aber zu meinem eigenen Erstaunen hatte ich eine Idee. Man musste das Ritual so verkehrt durchführen, wie es nur eben möglich war. Die Kraft, die gerade floß, musste umgekehrt werden. Sowas gefiel Trickstern. Cal und Hialee schienen nicht zufrieden zu sein. Sie vermuteten, dass AC nicht vor Ort sein würde, aber wohl einen anderen Engel namens Selathiel in das Tor saugen lassen wollte. Oh toll. Zwei Engel. Oder der dritte, wenn ich Mara dazu zählte. Mir hatte die erste Begegnung gereicht.
“Wir werden das nicht alleine schaffen“, meinte Hialee, “aber ich habe eine Freundin mit schwarzen Augen, die uns helfen kann.” Jetzt wünschte ich mir ganz dringend, dass ich gleich in meinem Apartment in Seattle aufwachte und meine größte Sorge war, ob ich das braune oder das blaue Jackett anzog. Natürlich wusste ich, was mit “schwarze Augen” gemeint war. Dämonen. Felicity hatte mir oft genug davon erzählt, ich wusste, dass ihr verstorbener Vater sich damit ausgekannt hatte, und wohl auch irgendein Verwandter von ihr in Deutschland.
Warum ich? Was war so Besonderes an mir, dass ich hier stand zwischen Engeln und Dämonen, am Ende der Welt, am Rand der Zeit? Oder war ich vielleicht gar nichts Besonderes, sondern nur ein kleines Rädchen, austauschbar, nur irgendeiner von vielen, der gerade zur richtigen Zeit am richtigen Ort war – oder zur falschen Zeit am falschen Ort. Ich spürte inzwischen ein sehr ungesundes Verlangen danach, mich zu betrinken. Ich war nie ein großer Trinker gewesen – das letzte Mal, als ich betrunken war, hatte ich im Anschluß mit meiner besten Freundin die Nacht meines Lebens gehabt – aber es erschien mir gerade nach einer guten Lösung. Eine billige, aber eine gute Lösung.
Ich ging ein Stück alleine, und machte dann kehrt, um zurück zum Motel zu gehen. Ich betrat das Zimmer, wo Irene und Ethan gerade die Köpfe zusammensteckten. Es ging um Cal, soviel hörte ich heraus. Beide beachteten mich nicht, und so konnte ich in aller Ruhe dem Bourbon zusprechen. Mit halbem Ohr hörte ich, dass es um einen Deal ging, den Cal mit AC eingegangen war. Das wunderte mich jetzt nicht mehr. Ich war bereits beim zweiten Glas, und mich wunderte vieles nicht mehr.
“… die Naturgeister“, sagte Irene jetzt, und das seltsame Gefühl, dass ich vorhin hatte, wurde stärker. Vielleicht war es aber auch nur der Alkohol, der mir etwas vorgaukelte. Trotzdem sah ich mich zu meinem Telefon greifen und Barry anrufen. Er klang gar nicht gut, seine Kinder hatten die Windpocken, und er offensichtlich inzwischen auch, aber er war bereit, mir Auskunft zu geben. “Bär mag Geschenke“, sagte er mit seiner rauhen Stimme. Geschenke? “Ja, etwas von dir. Vielleicht Fisch und Honig, aber vielleicht auch ein Körperteil. Ein Glied des Fingers, oder der ganze Finger.” Ich schluckte, aber dann fing ich mich wieder. Irgendwie war mir klar, dass nur ich mit Bär reden konnte, ich, der ich die nächste Verbindung zu den Geistern der Natur hatte und wusste wie man mit ihnen redete.
In diesem Moment ging die Tür auf, und Cal kam herein. Sein Ärmel war blutig, was Irene zu einem kurzen Ausruf verleitete, bei dem ich mir in nüchternem Zustand sicher die richtigen Fragen gestellt hätte. Aber ich war nicht mehr nüchtern. Ich befand mich in einem unheiligen Rauschzustand aus Adrenalin und Alkohol, den ich so nicht kannte. Auf der einen Seite war es mir ein wenig unangenehm, aber auf der anderen Seite… so fühlte man sich also, wenn einem nichts mehr peinlich war, wenn man ein Mann war, wenn man wie Cal war.
Mit halbem Ohr hörte ich seinem Bericht zu, es ging um Hialee und ihre Dämonenfreundin. Die war wohl Cals Ex. Ups. Und es war seine Schuld, dass sie in der Hölle gelandet war. Doppel-Ups. Außerdem hatten sie auch einen gemeinsamen Sohn namens Ben. Zum ersten Mal begann ich, Cal mit anderen Augen zu sehen. Aber dennoch, wie konnte er jemandem vertrauen, der ein Dämon war? Irene sah das genauso. Wütend ging sie Cal an, wie er es wagen konnte, Isabelle – seiner Ex – zu vertrauen, und Hialee auch. Zum ersten Mal erlebte ich, dass Cal mehr oder weniger sprachlos war. Ethan mischte sich ein und erklärte umständlich, dass er Cal verstehen konnte, denn er würde Irene wahrscheinlich auch noch vertrauen, wenn sie eine Dämonin war. Die schnaubte nur wütend und verschränkte die Arme vor der Brust. “Ich werde jetzt den Deal mit AC machen!” verkündete sie, während Cal sie entsetzt ansah. Ethan schüttelte nur den Kopf über die beiden und stürmte wütend nach draußen. Ich fühlte mich in diesem Moment schrecklich fehl am Platz, Irene und Cal sollten ihr Gespräch über AC alleine führen, fand ich.
Gedankenverloren ging ich im Vorraum des Motelzimmers auf und ab, immer noch das Bourbon-Glas in der Hand. Ich fühlte mich auf einmal schrecklich allein, mitten im Nichts, vor mir ein wahnsinniger Engel – nein, sogar zwei, ein wilder Naturgeist und Pakte, deren Tragweite ich nicht verstand, hinter mir der Handel mit meinem Leben und die Verantwortung für eine junge Frau, die ich kaum kannte. Wieder fragte ich mich, was ich hier tat. Ich hätte jetzt in Ruhe in meinem Appartement sitzen können, bei einer Tasse Tee mit einem guten Buch. Oder ich wäre mit Felicity ausgegangen, ins Kino oder in die Oper. Felicity… Oh Gott, wie sehr ich sie vermisste, und wie sehr es mir das Herz brach, dass sie einen anderen heiratete. Plötzlich hatte ich mein Handy in der Hand und scrollte durch meine Anrufliste zu ihrer Nummer. Was hatte ich denn schon groß zu verlieren? Ich würde so oder so sterben. Entweder morgen, weil der Bärengeist mich als einen Betrüger und Hochstapler entlarven würde, oder in wenigen Tagen, wenn die Engel die Apokalypse auf uns herab beschworen. Ach nein, wir hatten ja ein Trickster-Tuch, das uns alle retten würde sowie eine Schar Dämonen, die währenddessen auf uns aufpasste. Ich lachte auf und drückte den Anrufen-Knopf.
“Heckler?” meldete sich eine verschlafene Stimme, gefolgt von einem: “Nelson, es ist spät. Warum rufst du an? Wieder eine Vision?” Ich überlegte kurz, ob ich wieder auflegen sollte, später könnte ich ihr immer noch sagen, dass mein Handy von selbst ihre Nummer gewählt hatte. Aber dann gewann der Alkohol wieder die Oberhand. “Liz, ich muss dir etwas sagen“, erklärte ich ihr. “Hast du das Trickstertuch gefunden? Das hättest du mir doch auch nachher sagen können.” Jetzt klang sie etwas wacher und versöhnlicher, und so nutzte ich meine Chance. “Liz… bitte. Ich… Heirate nicht. Ich liebe dich.” Jetzt war es raus. Im Nachhinein wusste ich nicht, womit ich genau gerechnet hatte – mit einem Liebesgeständnis ihrerseits, oder einer sachlichen Antwort – aber sicher nicht mit der Reaktion, die nun folgte. Felicity begann, herzlich zu lachen. “Oh Nelson, der war gut. Ich weiß ja, dass du Alfie nicht leiden kannst, aber dass du zu solchen Mitteln greifst…” “Das ist die Wahrheit, Liz. Ich liebe dich, und ich will nicht, dass du heiratest. Bitte überleg es dir nochmal.” Eine Pause am anderen Ende der Leitung, dann: “Nelson, bist du betrunken?” Sollte ich es abstreiten? Sie kannte mich einfach zu gut, sie war meine beste Freundin. “Naja…” druckste ich herum und sah auf das halbvolle Bourbon-Glas in meiner anderen Hand. “Du bist betrunken“, konstatierte sie eisig. Ich wollte etwas erwidern, doch da hörte ich nur noch ein Tuten am anderen Ende der Leitung. Das hatte ja mal großartig funktioniert. Ich war ein Versager auf der ganzen Linie. Meine Probleme löste ich mit Alkohol, die Frau, die ich liebte, hielt mich für eine Witzfigur, und meine Gefährten nahmen mich nicht ernst. Für sie war ich wahrscheinlich nur der komische Bücherwurm, der nur störte, der nicht kämpfen konnte, weil er Schusswaffen verabscheute. Immer noch das Glas in der Hand, ging ich nach draußen, ich brauchte frische Luft.
Vor dem Motelzimmer stand Ethan, er rauchte. Er machte auf mich den Eindruck, dass er auch lieber ganz woanders wäre – an einem engelfreien Ort. “Tja, dann werde ich morgen wohl mit Bär reden“, erklärte ich ihm, um irgendwie das Gespräch zu eröffnen. Herrgott nochmal, Oluwasegun, sei doch einmal ruhig und hör auf, peinliches Schweigen mit noch peinlicheren Gesprächen zu füllen! Aber jetzt war es zu spät, Ethan sah zu mir und nickte nur. “Ich muss mit Bär sprechen“, betonte ich. Ethan zog weiter schweigend an seiner Zigarette. “Vermutlich werde ich dann sterben.” Nein, nicht nur vermutlich. Sogar ganz sicher. “Weißt du nicht.” Das war das Erste, was Ethan sagte, und mit Sicherheit wollte er mir damit Mut machen, aber es gelang ihm nicht. Ich sah auf mein Handy, das ich immer noch in der Hand hielt, und nickte langsam.
“Aber wenigstens habe ich es ihr gesagt“, meinte ich, an niemanden bestimmten gerichtet. “Hab ihr gesagt, dass ich sie liebe. Dass sie nicht heiraten soll. Und was hat sie gemacht? Sie hat mich ausgelacht.” War das etwa eine Träne in meinem Augenwinkel? Ich hatte definitiv zuviel getrunken. “Aber du hast es gesagt. Jetzt weiß Fey es.” Ich wollte nicken, doch dann bemerkte ich trotz Alkohols die vertraute Ansprache. Woher wusste er, von wem ich sprach? Oh nein. Nein. Nein, das nicht auch noch. Ethan Gale war “Ethan”, der Typ, der sie nach zwei Nächten mit einer abgeschmackten Ausrede hatte sitzen lassen. Der Typ, wegen dem sie so schrecklich Liebeskummer gehabt hatte, und wegen dem der liebe brave Nelson gesprungen war, von Seattle nach Vermont, und wegen dem wir schließlich im Rausch miteinander geschlafen hatten. Was kam denn als nächstes? Irene war eigentlich meine verschwundene Schwester, und Cal… Cal eigentlich ein Hollywood-Schauspieler? In einer raschen Bewegung hatte ich den restlichen Bourbon heruntergespült und verabschiedete mich hastig von Ethan. Ich musste jetzt dringend alleine sein.
Donnerstag, 4.8.
Let our bones collide
Until the light falls like anvils from our eyes
When our dreams ignite
Disappear in their fire
(Parkway Drive – A Deathless Song)
Ich erwachte am nächsten Morgen früh, und zu meinem Erstaunen hatte ich kaum Kopfschmerzen. Aber gut fühlte ich mich trotzdem nicht. Zuviel war am gestrigen Tag passiert, zuviele Informationen waren auf mich eingeströmt, und ich fragte mich, ob es nicht einfacher war, wenn ich heimlich meine Koffer packte und wieder verschwand. Aber dann fiel mir ein, dass im Nebenzimmer eine junge Frau darauf wartete, dass sie wieder nach Hause durfte. Außerdem hatte ich noch etwas zu erledigen.
An der Rezeption fragte ich nach dem nächsten Walmart oder K-Mart, und der gelangweilte Teenie wies mir den Weg zum Superstore. Dort bekam ich, was ich wollte, und jetzt musste ich dringend Sarah wecken und zum Flughafen bringen. Doch zuvor wollte ich sie noch zum Frühstück einladen. “Wie hast du geschlafen?” wollte ich wissen, nachdem ich sie von ihrem Zimmer abgeholt hatte. “Bestens!” Sie strahlte, ein ansteckendes fröhliches Lächeln. “Ich bringe dich nachher zum Flughafen. Von dort fliegst du nach New Orleans, und das Busticket für den Greyhound zum Zirkus hast du ja“, sagte ich, sie nickte. “Außerdem hab ich noch etwas für dich.” Ich zog ein Päckchen aus meinem Jackett und reichte es ihr. Sie sah mich fragend an, aber dann öffnete sie es. “Ein Handy? Für mich?” Ihre Augen leuchteten, und ihre Begeisterung sagte mir, dass ich mit meinem Geschenk ins Schwarze getroffen hatte. “Ich… ich dachte mir, dass es vielleicht ganz praktisch wäre auf der langen Reise. Dann kannst du… dich zwischendurch melden, bei Leon zum Beispiel. Oder bei mir.” Oder Hilfe holen, falls du Hilfe brauchen solltest.
“Danke, Nelson. Das ist wirklich lieb von dir.” Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und hauchte mir einen Kuss auf die Wange. Dann stupste sie mich in die Seite. “Wer zuerst beim Café ist!” Mit diesen Worten rannte sie los, wohl wissend, dass ich im Anzug mit meinen guten Schuhen sicher nicht mit ihr Schritt halten würde. Lächelnd ging ich schnellen Schrittes hinter ihr her. Es war noch nicht alles verloren.
Nachdem ich Sarah zum Busbahnhof gebracht hatte – nicht ohne weitere Küsse auf die Wangen, mehrere Umarmungen und gute Wünsche – fuhr ich mit meinen Begleitern zur Bear’s Lodge. Je näher wir dem Naturdenkmal kamen, desto unruhiger wurde ich. Aber niemand schien das zu bemerken, Irene diskutierte mit Cal, wie Bär mit den Toren zusammenhing. Anscheinend hatten sie vor kurzem in Illinois eine Begegnung mit einem Naturgeist gemacht, der den Käfig eines Dämons bewacht hatte, und Irene vermutete, dass es hier ähnlich war: Bär und seine Gefährten bewachten die Käfige, in denen Astarte und Moloch saßen. Daher hatte AC das Land um den Devil’s Tower aufgekauft.
Meine Gedanken waren jedoch woanders. Bär mag Geschenke. Barrys Worte hallten in meinem Hinterkopf wider. Neben mir lagen in einer Kiste auf dem Sitz ein Glas Honig und ein riesiger Lachs, wahrscheinlich hatte Irene die Sachen wieder besorgt. Was aber, wenn das nicht ausreichte? Wenn Bär mehr wollte? Ich war dazu bereit. Mein Leben hatte ich ja auch schon verpfändet, da machte der Rest auch keinen Unterschied mehr.
Als wir hielten und ausgestiegen waren, wandte ich mich an Cal. “Hast du ein scharfes Messer?” hörte ich mich ihn fragen, und der nickte nur stumm. “Eines, das durch Knochen schneidet?” Ich sah, wie Ethan den Mund auf- und wieder zumachte. Was hatte ich noch zu verlieren? Mein kleiner Finger war nichts gemessen am Ende der Welt. Immer noch wortlos zog Cal ein Messer aus seiner Tasche und reichte es mir. Ich steckte es ein, für den Fall der Fälle, dann nahm ich die Kiste mit Fisch und Honig und stapfte in den Wald, dorthin, wo laut einer von Barry per Email geschickten Karte der Punkt war, wo die Ureinwohner mit Bär sprachen. Die anderen folgten mir mit etwas Abstand.
Ich packte die Geschenke auf den altarähnlichen Stein, zog das Jackett aus und kniete mich ins Gras. Für einen kurzen Moment dachte ich, dass der Anzug damit wahrscheinlich hinüber war, aber dann konzentrierte ich mich wieder auf meine Aufgabe. Sobald ich tot war, war es sowieso egal, wie mein Anzug aussah. Und überhaupt, Anzüge. Weltliche Güter, materielle tote Dinge, nicht von Bedeutung, nichts war mehr von Bedeutung, ich war nicht mehr von Bedeutung.
Mit gesenktem Kopf breitete ich meine Arme aus und murmelte eine Anrufung an den Bärengeist, so wie ich es auch mit den Orishas getan hätte. Für einen Moment passierte nichts, aber dann hörte ich ein Knurren aus dem Wald, das Brechen von Ästen und ein wütendes Schnauben. Plötzlich stand ein riesiger Grizzly vor mir, ein fast unnatürlich großes Tier, und um es herum glaubte ich ein goldenes Leuchten wahrzunehmen. Der Grizzly schnupperte an mir, und für einen kurzen Moment befürchtete ich, dass er mit seinem riesigen Kiefer mit einem Biss meine Kehle durchbeißen würde. Aber dann wäre es vorbei.
Doch der Grizzly ließ von mir ab, er beschnupperte jetzt den Honig und den Lachs, dann fraß er beides. Er umrundete den Altar noch einmal, bis er schließlich wieder vor mir stand. Er holte mit seiner riesigen Pranke aus und fuhr mir mit den Krallen über den Arm. Fünf blutige Striemen waren zu sehen, doch merkwürdigerweise schmerzte der Prankenhieb, der mich leicht hätte töten können, nicht einmal. “Bär…“, begann ich vorsichtig, “wir brauchen deine Hilfe. Dort unten befinden sich zwei Tore, hinter denen zwei gefallene Engel gefangen sind. Ein anderer Engel will diese Tore öffnen und hat deswegen die Naturgeister und die Natur bekämpft.” Als ich das sagte, knurrte Bär wütend, doch er tat mir nichts. Stattdessen hörte ich eine Stimme in meinem Kopf, uralt, wild und voller Wut.
Wir haben das schon gesehen. Der Engel will uns alle töten. Er muss aufgehalten werden! Wieder ein Brüllen, ein ohrenbetäubendes Geräusch, bei dem ich das Gefühl hatte, mir würde das Trommelfell platzen. “Das wollen wir auch. Aber wir schaffen es nicht allein. Wir brauchen deine Hilfe“, antwortete ich mit gesenktem Kopf. Wir werden dir und deinesgleichen helfen. Der Bär machte sich daran, wegzulaufen, aber ich hielt ihn zurück. “Nein, noch nicht!” Was? Der Grizzly baute sich jetzt auf den Hinterbeinen auf, jetzt war er gefühlt doppelt so groß wie ich. “Wir… also wir Menschen brauchen noch etwas Zeit.” Das sei dir gewährt. Plötzlich erschien vor meinem inneren Auge das Bild einer mondbeschienenen Landschaft, es war beinahe taghell. Bis dann warten wir. Nicht länger. “Vollmond also. Das ist Montag nacht. Das sollte reichen.” Ich nickte und atmete tief durch. Der Bär schnaubte noch einmal, es war fast so etwas wie Zustimmung. Dann drehte er sich um und verschwand wieder im Wald.
Erleichtert sah ich ihm nach. Ich hatte mit dem Bärengeist gesprochen, und ich lebte noch. Aber wer wusste schon, wie lange dieser Zustand noch anhalten würde.
Ich berichtete meinen Begleitern, was passiert war, und was Bär mir versprochen hatte. Außerdem bekam Cal sein Messer zurück, nachdem ich versichert hatte, dass ich noch alle zehn Finger besaß. Die Kratzer an meinem Arm verheilten bereits, aber ich würde für immer Narben zurückbehalten. “Narben machen interessant“, meinte Irene nur süffisant, aber ansonsten machte keiner eine Bemerkung.
Zurück im Motel beschlossen wir, unsere Strategie zu besprechen für die Nacht von Sonntag auf Montag. Uns allen war klar, dass das Trickster-Tuch, das immer noch zwischen meinen Oberhemden in meiner Reisetasche lag, eine tragende Rolle spielen würde. Aber je mehr Rituale wir durchführten, die alles ins Gegenteil verkehrten, umso eher würde das Trickstertuch alles umdrehen.
Wir hatten schon einiges an Material gesammelt, doch erschien uns das immer noch nicht genug. “Vielleicht könnten wir Jungs noch Frauenkleider tragen“, schlug Ethan irgendwann vor. Während ich noch verwundert feststellte, dass das der erste vollständige Satz war, den ich von ihm hörte, sah Cal ihn nur mit hochgezogener Augenbraue an. “Wenn du da ein tiefes Bedürfnis nach hast…” Ich konnte mir nur schwer ein Schmunzeln verkneifen, und Ethan schüttelte eilig den Kopf.
Schließlich einigten wir uns auf eine Art Tor im Tor, das Ethan schnitzen sollte, sowie ein dazu passendes Wortspiel. Außerdem wollte Irene ein Beichtstuhltuch besorgen, dass ich während des Rituals auftrennen sollte. Irgendwie gefiel mir nicht, dass ich eine so tragende Rolle bei der ganzen Sache spielen sollte. Aber was sollte ich sonst tun? Mir fiel noch ein, dass es eine gute Idee war, dass ich während des Rituals eine Art Tanz tanzte, bei dem ich aber immer wieder meine eigenen Spuren verwischte.
Am Abend saßen wir noch zusammen, und ich erfuhr, was sich bisher alles zugetragen hatte: Cal und AC hatten vor langer Zeit einen Deal gemacht, und AC hatte jetzt seine Bezahlung in Form des Trickstertuches eingefordert. Natürlich wollte Cal es ihm nicht geben, auch wenn AC ihn und seine Familie – seinen Sohn Ben und dessen Schwester Jo – bedrohte. ACs größte Gegnerin war ein anderer Engel namens Selathiel, beide kämpften um die Vormachtstellung im Himmel. Während AC die Tore geschlossen halten wollte, wollte Selathiel sie öffnen. Aber um das zu verhindern, brauchte AC das Trickstertuch. Außerdem hatten beide Seiten Hilfe von verschiedenen Gruppierungen, allen voran eine Gruppe von fanatischen Christen, deren Bekanntschaft ich bereits in Louisiana gemacht hatte. Selathiel wiederum hatte sich die Hilfe von Feen gesichert, wie wir am Domus Ruber erfahren hatte. AC wurde auch noch von einem gewissen Crowley unterstützt, wohl irgendein Dämon. Es gab wohl noch einen dritten Engel, der sich die Vorherrschaft sichern wollte, Castiel. Ich schüttelte den Kopf. Castiel. Der Name klang schon nach Trenchcoat und Langeweile.
Wir alle waren uns einig, dass wir AC das Trickstertuch nicht geben wollten, aber einen Plan, was wir gegen ihn unternehmen konnten, hatten wir alle nicht. Also beschlossen wir, abends noch einmal zur Baustelle hinauszufahren, um zu gucken, ob wir vielleicht etwas fanden, was wir gegen den Engel und seine finsteren Pläne verwenden konnten.
Auf der Baustelle wurden wir Zeugen eines seltsamen Schauspiels: Sowohl AC als auch Selathiel waren dort, letztere wurde begleitet von einem Farbigen Ende 40, den Irene mit einem wütenden Zischen als “DeVries” identifizierte. Hinter den beiden ging eine ganze Reihe von Leuten, die ich auch kannte, es waren die Ozark-Christen, die ich in Ruston schon getroffen hatte. Bekanntschaften, auf deren Vertiefung ich nicht wirklich wert legte. Außerdem war noch eine junge blonde Frau bei ihr, die Cal mit zusammengezogenen Augenbrauen als “Jo” identifizierte. AC überreichte Selathiel ein Schwert, ein sogenanntes Engelsschwert. Da es eine durchaus mächtige Waffe war, war das eine Vertrauensgeste, dass er ihr dieses Schwert überreichte.
In diesem Moment klingelte Cals Handy, mit Erstaunen erkannte ich, dass es “Hallelujah” spielte. An Cals Antworten konnte ich hören, dass es AC sein musste, offensichtlich verlangte er nach dem Trickstertuch. Cal vertröstete ihn auf Mitternacht, und das schien dem Engel zu genügen. Nachdem er aufgelegt hatte, schrieb Cal eine Nachricht an Jo, er wollte sich mit ihr treffen. Ethan bot an, ihn zu begleiten, und offensichtlich war Cal wirklich verzweifelt, denn er widersprach Ethans Angebot nicht.
Viel später in der Nacht kehrten die beiden zurück, aber Irene und ich hatten sowieso noch nicht geschlafen. Schlaf war ein Luxus, den wir uns im Moment nicht leisten konnten. Cal erzählte, dass Jo sich auf Selathiels Seite geschlagen hatte und der Meinung war, dass sie das Richtige tat, wenn sie ihren Körper Astarte zur Verfügung stellte. Weder Cal noch Ethan war es gelungen, sie davon abzuhalten. “Wir müssen noch einmal mit Hialee sprechen“, sagte Cal jetzt. Irene sah nicht glücklich darüber aus, aber sie sagte nichts. Wenig später kehrte er zurück, Hialee hatte ihm berichtet, dass AC die Wirkung eines Richtschwerts – Michaels Richtschwert, um genau zu sein – gegen Selathiel umkehren wollte, wenn sie es gegen ihn einsetzte. Denn nur ein Engelsschwert konnte einen Engel wirklich töten.
Wir sahen uns alle lange an, aber es war klar, was wir alle dachten: Wir mussten beide Engel loswerden, aber im Moment war es so, dass Selathiel unsere einzige Chance war, AC loszuwerden. Wir warnten sie davor, dass AC ihr im wahrsten Sinne des Wortes in den Rücken fallen wollte, und sie zog ihn dann aus dem Verkehr. Sobald sie begann, die Tore zu öffnen, würden wir das Ritual umkehren und die Tore wieder verschließen. Es war unglaublich riskant, aber es war im Moment wirklich die einzige Chance, die wir hatten. Außerdem würde es Cal wahrscheinlich seine Seele kosten, die er AC verkauft hatte, außer AC starb vor Mitternacht. Aber das mussten wir riskieren.
In diesem Moment stand Irene auf, und zu meinem Erstaunen sah ich, dass sie Tränen in den Augen hatte. Es war also wirklich ernst, wenn Irene “Toughness” Hooper-Winslow begann, Gefühle zu zeigen. Sie bat Ethan und mich eindringlich, das Zimmer zu verlassen, eine Aufforderung, der wir verwirrt nachkamen. Ich überlegte, ob ich noch einmal Felicity anrufen sollte, aber was sollte das bringen? Sie würde doch nur wieder lachen. Ich scrollte durch mein Telefonbuch, während Ethan sich eine Zigarette anzündete und ebenfalls eine Nachricht schrieb. Sollte ich meine Eltern anrufen? Aber was sollte ich ihnen sagen? “Hallo Mom, hallo Dad, ich bin gerade mitten in der Prärie, und werde die Apokalypse verhindern. Aber macht euch keine Sorgen, eure Tochter, von der ihr mir erzählt habt, dass sie tot sei, hat mich schon gewarnt.” Nein, besonders auf meine Mutter war ich zur Zeit nicht mehr gut zu sprechen.
Ethan steckte jetzt sein Handy ein und kam zu mir. “Fühl mich so hilflos“, gestand er mir. Ich schüttelte den Kopf. “Ich auch, glaub mir. Aber wir schaffen das schon.” Als Schauspieler warst du schon immer miserabel, Akintola. Er raufte sich die Haare, während ich begann, meine Brille zu putzen. Wir hatten beide keine Antworten mehr an diesem Abend.
Nach einiger Zeit kamen Cal und Irene aus dem Zimmer, Cal wollte jetzt los, und mit Hilfe von Jo Selathiel warnen. Cal sah uns alle ernst an, dann schüttelte er mir die Hand, umarmte Ethan mit einem Schulterklopfen und küsste Irene. Ich sah die beiden erstaunt an, aber jetzt wurde mir einiges klar… klarer. Ethan sagte nur “Scheiße, Cal”, und der schüttelte nur bedauernd den Kopf. Ich hatte Cal definitiv die ganze Zeit unterschätzt, und ich stellte fest, dass ich mich sogar ein wenig dafür schämte. Denn ob wir die Zeit haben würden, uns noch besser kennenzulernen, war in diesem Moment höchst fraglich.
“Ich will mir das ansehen“, sagte Irene jetzt, und Ethan und mir war klar, was sie meinte. Gemeinsam fuhren wir zu dem Treffpunkt hinaus. Durch ein Fernglas konnten wir sehen, wie AC und Cal am Auto standen und miteinander sprachen. Sie gestikulierten heftig, offensichtlich versuchte Cal, AC davon zu überzeugen, dass er das Tuch bis Mitternacht bringen konnte. Dann kam Jo dazu und überbrachte die Nachricht, dass AC zu Selathiel kommen sollte. AC begab sich zu Selathiel, um mit ihr zu sprechen. Von unserem Posten aus konnten wir sehen, dass DeVries AC heimlich umrundete, in seiner Hand das Richtschwert. Dann holte er plötzlich aus und stieß AC das Schwert in den Rücken. In einem hellen Leuchten verging der Engel, der uns soviel Kummer bereitet hatte. Für einen kurzen Moment hatte ich den Eindruck, dass Cal sich an die Brust griff, aber vielleicht hatte ich mich auch getäuscht. Als ich wieder hinsah, stand dort der alte Cal, mit unbewegtem Gesichtsausdruck. ACs Anhänger wurden von Selathiels Schergen zusammengetrieben, sie zeigten keinerlei Gegenwehr.
Wir hatten einen Etappensieg erreicht, aber zu welchem Preis?
Sonntag, 7.8.
We’re fighting fire with gasoline
We’ll leave the bridges burning
This is a warning
The devil’s calling
(Parkway Drive – Devil’s calling)
Sonntag nacht kam, und als es dunkel wurde, begannen wir, alles, was wir für das Ritual brauchten, in das Auto zu packen und loszufahren. Ich hielt das Trickstertuch fest umklammert, so fest, dass es beinahe wehtat.
Shango und Eshu, steht mir bei.
Ich stellte fest, dass es mir leichter fiel, zu den Göttern meiner Kindheit zu beten als zum Gott der christlichen Missionare. Nicht nach dem, was in den letzten Tagen passiert war. Nicht, nach dem, was ich gesehen hatte. Und was war naheliegender, als den Trickster anzurufen für ein Tricksterritual?
Währen Irene und Cal sich zu Selathiel und ihren Helfershelfern vorkämpfen wollten, wollte Ethan dafür sorgen, dass keiner der Helfershelfer der Engel an mich herankamen. Ich war ihm in diesem Moment unendlich dankbar, aber ich hatte auch ein schlechtes Gewissen, dass er sein Leben für mich aufs Spiel setzen würde. “Danke“, war jedoch alles, was ich dazu sagen konnte. Ethan nickte, aber er sah so aus, wie ich mich fühlte. Würden meine Eltern erfahren, dass ihr Sohn mitten in Wyoming gestorben war beim Versuch, die Apokalypse zu verhindern?
Selathiel war nicht allein, bei ihr waren DeVries und ein älterer Mann, der aussah, als würde er bei lebendigem Leib verfaulen. Wie ich wusste, war dies ein gewisser Colonel Hagen, Cals Vater. Auch Jo war bei der Gruppe, ebenso wie eine große Gruppe der Christen aus Ozark County, einschließlich ihres einäugigen Anführers. Allesamt waren sie bewaffnet, und sie sahen alle sehr kampfbereit und entschlossen aus.
Ich nahm gegenüber der Tore Aufstellung, so, dass ich alles im Blick hatte, aber auch so, dass mich der Engel und sein Gefolge sehen konnten. Neben mir standen Irene, Cal und Ethan, und hinter uns erschienen auf einmal eine Gruppe Menschen. Ihre Augen waren schwarz, auch in ihren Gesichtern sah ich Entschlossenheit. Das war also die Unterstützung, die Hialee und Isabelle uns versprochen hatten.
Als Selathiel den Arm hob, um das Ritual zu beginnen, gab Irene mir ebenfalls ein Zeichen. Gerade rechtzeitig, wie ein Heyoka hatte ich mir die Schuhe verkehrt herum angezogen. Ich bat noch einmal inständig Eshu um seine Hilfe, dann begann ich mit dem Tanz. Ich konzentrierte mich ganz auf diesen Teil des Rituals, ich durfte mich nicht ablenken lassen, denn sonst konnte alles verloren sein. Außerdem vertraute ich auf Ethan, er würde mich beschützen. Er musste mich beschützen.
Ich drehte mich immer schneller, und plötzlich hatte ich den Eindruck, mich selbst zu beobachten, wie ich immer wieder meine eigenen Spuren verwischte. Natürlich, das hatte ich schon damals gesehen, als ich Sarah geholfen hatte. Aber das Bild blieb, ich sah mir selbst dabei zu, wie ich das Tuch hinter mir herzog, wie ich das Wortspiel aufsagte und ich sah, wie Ethan vor mir stand und versuchte, die anstürmenden Ozark-Christen davon abzuhalten, mir zu nahe zu kommen.
Tanz, Oluwasegun, tanz.
Von irgendwoher hörte ich eine Stimme, die ich nicht kannte, aber die mir doch vertraut war. Du schaffst das. Tanz. Ein letztes Mal hörte ich die Stimme in meinem Kopf, ein letztes Mal fiel mein Blick auf Ethan, wie er mit seinem Gewehrkolben einen der Fanatiker abwehrte, ein letztes Mal sah ich, wie Hagen, besessen von Baphomet, Irene und Cal durch die Luft wirbelte.
Dann wurde mir schwarz vor Augen.
Als ich wieder zu mir kam, lag ich im Motelzimmer, Ethan stand neben mir. “Hast es geschafft“, sagte er, “Tore sind zu.” Weiter vorne im Zimmer erkannte ich Irene und Cal. Wie es schien, hatten wir alle überlebt und die Apokalypse verhindert. Doch glücklich sah keiner meiner Begleiter aus, und auch ich fühlte mich, als habe mich eine Dampfwalze überrollt. Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, was passiert war, das letzte, was ich noch wusste, war, dass ich mir die Schuhe verkehrt herum angezogen hatte. Aber dann… da war eine Stimme gewesen, in meinem Kopf. War es einem der Engel gelungen, mich zu beeinflussen?
Sei gegrüßt, Oluwasegun. Ich sah Ethan verwirrt an, doch er blickte ebenso verwirrt zurück. Außerdem, woher sollte er meinen zweiten Vornamen kennen, und woher sollte er auf einmal Yoruba können? Ich bin hier drin. Die Stimme klang uralt, nach lehmigem Boden, nach Mangroven und Hitze. Eine Stimme, die es gewohnt war, Befehle zu geben, eine Stimme, deren Sprecher schon viel mehr gesehen hatte, als ich es in meinem kurzen Leben zu sehen vermochte.
“Wer…?” formte ich eine Frage, doch dann hörte ich ein Lachen in meinem Kopf, ein rauhes, kehliges Lachen. Es klang spöttisch und seltsamerweise auch fürsorglich. Mir war langweilig, Oluwasegun. Du und deine Engel, das hat soviel Spaß versprochen wie lange nichts mehr. Und du, du versprichst auch viel Spaß. Ich werde also bleiben.
Ich war verrückt geworden, eindeutig. Engel, Bärengeister, Alkohol, die Bereitschaft, sich zu verstümmeln – ich war ganz eindeutig nicht mehr bei klarem Verstand. Du bist nicht verrückt. Noch nicht versuchte die Stimme in meinem Kopf mich zu beruhigen.
Und du kennst mich. Ich bin es. Der Herr der Kreuzungen.
Eshu. Der Herr der Strassenkreuzungen, Wege und Türen. In meinem Kopf wohnte ein Gott, und er hatte nicht die Absicht, sich von dort wieder zu verabschieden.
Mit einem Satz stürzte ich nach vorne zur Minibar und leerte die halbe Flasche Jack Daniel’s, die dort noch von Mittwoch nacht herumstand. Besser fühlte ich mich jetzt nicht, aber die betäubende Wirkung des Alkohols ließ nicht lange auf sich warten. Plötzlich kam mir ein Gedanke – oder war das sein Gedanke? Ich wusste es nicht, aber ich sah mich mein Smartphone aus der Tasche nehmen und Felicity anrufen.
“Nelson? Was soll das? Willst du mir schon wieder sagen, dass du in mich verliebt bist?” Sie klang absolut nicht begeistert. “Ach Lizzie. Natürlich tue ich das.” Das war nicht meine Stimme, die da sprach, hörte sie das nicht? “Ich habe jetzt einen neuen besten Freund. Und er wohnt sogar bei mir“, erklärte ich – oder er? – ihr. “Hast du jetzt etwa auch noch gekifft?” Mit diesen Worten legte sie auf. Oh wunderbar. Wenn jemals Hoffnung bestanden hatte, dass sie und ich noch zusammenkamen, dann war sie jetzt dahin. Und mein neuer Mitbewohner trug eine nicht unerhebliche Mitschuld daran.
Wie sollte es jetzt nur weitergehen?
Aftermath
Tired eyes, barely open
Crippled by a promise broken
I have seen an empire falling
Hopeless, can you hear me calling?
Turn away from all that I know
Burning this bridge behind me
Light the way and I’ll follow
Where you go
(Starset – Down with the fallen)
Montag morgen. Eine neue Woche, eine neue Zeit. Aber es schien ein Pyrrhus-Sieg zu sein. Selathiel hatte den Kampf nicht überstanden, wie die Dämonen und alles andere, außer den Naturgeistern, war sie in das Tor gesogen worden. Colonel Hagen war tot, gestorben, als Baphomet, der ihn als Gefäß genutzt hatte, ebenfalls in das Tor gezogen worden war. DeVries und Jo lebten noch, aber ihr Geist war irgendwo… anders. Und Cal? Wir wussten es nicht, aber er sagte auch nichts.
Irene wollte DeVries in eine Spezialklinik bringen lassen, während Cal Jo zu ihrem Bruder Ben fuhr. Ich hielt mich von meinen Begleitern fern, ich wollte nicht, dass sie bemerkten, was mit mir los war. Im Moment musste ich alleine fertig werden mit der Tatsache, dass ich nicht mehr alleine in meinem Kopf war. Außerdem musste ich die Ereignisse der letzten Tage verarbeiten, und zwar ohne irgendwelche Hilfsmittel.
Dann fiel mir etwas ein. Sarah hatte mir zwar eine Nachricht geschickt, dass sie gut angekommen war, aber ich wollte dennoch zu ihr und mich selbst davon überzeugen, dass es ihr gut ging. Ich packte meine Tasche und ließ ein Taxi kommen, auf dem Weg zum Flughafen buchte ich ein Flugticket nach New Orleans.
Ich ließ die Ereignisse der vergangenen Woche noch einmal Revue passieren, wieder und wieder, aber ich kam immer wieder zum gleichen Ergebnis. Ob mit “Mitbewohner” im Kopf oder ohne, ich würde nicht mehr derselbe sein wie vorher. Ich hatte dem Tod ins Auge geblickt, und das war eine Begegnung, die ich nicht so schnell vergessen würde. Ein paar Mal holte ich das Smartphone aus der Tasche, und überlegte, ob ich nicht doch in Lagos anrief, aber ich wollte nicht mit meiner Mutter sprechen. Und was war, wenn derjenige, der jetzt in meinem Kopf saß, anfing, mit ihr zu sprechen und ihr sagte, was ich dachte? Für ihn war ich ein offenes Buch, ein lustiges Spielzeug und eine Marionette. Irgendwann würden er und ich uns unterhalten müssen, ich war nicht gewillt, mir mein Leben von einem vergnügungssüchtigen Gott diktieren zu lassen.
Dennoch schickte ich Felicity eine Nachricht, um mich für mein Verhalten am Vorabend zu entschuldigen. Sie schien wieder milder gestimmt zu sein, als Buße für meinen nächtlichen Anruf sollte ich ihr mit der Essensliste für ihre Hochzeit helfen. Ihr Cousin war offensichtlich bereits geflohen, wie es mir schien, und ich konnte es ihm nicht verdenken. Glutenfreie vegetarische Menüs waren wirklich nichts, womit man sich gerne beschäftigte, außer, man heiratete in den Hochadel ein. Ich sagte ihr, dass ich im Laufe der Woche vorbeikommen würde, genaueres konnte ich ihr nicht versprechen. Genaueres wollte ich ihr auch nicht versprechen.
Viel später an diesem Tag kam ich in dem Ort an, in dem Fabrays Zirkus zur Zeit gastierte. Er unterschied sich nicht besonders von Campti, und für einen kurzen Moment hatte ich den Eindruck, dass keine Woche vergangen war. Doch dann griff ich mir an den rechten Arm, wo fünf lange Striemen davon zeugten, dass ich eine telepathische Verbindung mit dem Bärengeist der Kiowa eingegangen war. Tag Eins nach der Apokalypse. Nach der verhinderten Apokalypse. Tag Eins im Leben danach.
Als ich das Zirkusgelände betrat, kam Leon auf mich zu. Sein Blick war nicht mehr so feindselig wie noch vor einer Woche. Er reichte mir die Hand und sah mich lange an. “Du hast Sarah gerettet und sie heil zurückgebracht. Wenn ich ehrlich bin, hätte ich nicht damit gerechnet, als ich dich zum ersten Mal gesehen habe.” Ich nickte nur, ich konnte ihn verstehen. Ich hätte es ja beinahe selbst nicht geglaubt. “Aber jetzt… irgendetwas ist mir dir passiert. Du bist nicht mehr der, der hier vor einer Woche weggefahren ist.” Seine dunklen Augen ruhten auf mir, als könnte er in mein Innerstes sehen. Dann verzog sich sein Gesicht, und tatsächlich schien Leon Fabray zu lächeln. Er klopfte mir auf die Schulter. “Du musst hungrig sein. Und Sarah wird sich freuen, dich zu sehen.”
Das tat sie wirklich. Sie sah gut aus, noch viel besser, als ich sie zum letzten Mal gesehen hatte. Mit einem freudigen Lächeln kam sie auf mich zu, umarmte mich und hauchte mir einen Kuss auf die Wange. “Wie geht es dir?” fragte sie mich. Dann jedoch stutzte sie. “Was ist passiert?” Ihr Blick wurde ernst, das Lächeln verschwand. Sie deutete auf eine Bank. “Setzen wir uns, erzähl mir alles.” Ich seufzte, setzte mich dann aber neben sie. “Ich lasse euch mal allein“, sagte Fabray diplomatisch, aber ich wusste genau, dass er uns weiterhin im Blick behalten würde. “Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll“, erklärte ich ihr, doch Sarah sah mich aufmunternd an. “Am besten vorne“, meinte sie, während sie meine Hand griff. Es war eine zärtliche Geste, ohne jeden Hintergedanken, eine Geste, mit der eine Mutter ihr Kind tröstet, obwohl sie so viel jünger war als ich. “Ich mag vielleicht nicht mehr hellsichtig sein, aber ich sehe sehr wohl, dass etwas Schlimmes passiert sein muss“, sagte sie, und für einen Moment war ich versucht, angesichts ihrer etwas altklugen Aussage zu lächeln. Doch eigentlich war mir nicht nach Lächeln zumute. Dann jedoch holte ich Luft und berichtete ihr, was passiert war. Ab und zu stellte sie eine Zwischenfrage, aber die meiste Zeit hörte sie zu und ich redete.
Als ich geendet hatte, beugte sie sich vor und umarmte mich spontan. Lange saßen wir so da, ich in ihren Armen, schweigend. Dann irgendwann löste sie sich von mir und sah mich an. “Und jetzt?” wollte sie wissen. “Ich werde wohl erstmal nach Hause fliegen und dann Abbitte leisten. Und dann… ich weiß es nicht.” Tatsächlich hatte ich zum ersten Mal in meinem Leben keine Ahnung, wie es weitergehen sollte.
Seattle begrüßte mich, wie ich es verlassen hatte: Verregnet und grau. Warum war ich nochmal hierher gezogen, ich, der ich in der Hitze von Lagos groß geworden war? Achja. Wegen einer Frau. Einer Frau, die mich nicht liebte, die mich ausgelacht hatte, und die demnächst heiraten wollte. Während ich am Tacoma Airport stand, verregnet und viel zu dünn angezogen und auf ein Taxi wartend, überlegte ich, ob es nicht an der Zeit war, die Zelte abzubrechen. Was hielt mich denn noch hier?
Aber vielleicht konnte ich das Ruder ja doch noch herumreißen. Vielleicht gab es noch ein wenig Hoffnung. Ich glaubte es zwar nicht, aber bevor ich nicht mit ihr gesprochen hatte, wollte ich nicht aufgeben. Dem Taxifahrer gab ich sofort Felicitys Adresse, ich hatte keine Zeit zu verlieren. In diesem Moment riss der Himmel auf und ein einzelner kleiner Sonnenstrahl kam hervor. “Die letzte Woche hat es nur geregnet“, verriet mir der Taxifahrer, “man konnte fast denken, dass die Welt untergeht.” Ich nickte nur. “Aber jetzt – Sie haben Glück. Die erste Sonne heute. Und dabei haben wir doch erst August.”
Vor Felicitys Haus überlegte ich kurz, ob ich den Taxifahrer bitten sollte, zu warten, aber das schien mir zu fatalistisch. Als würde ich darauf warten, dass sie mich nicht sehen wollte. Also bezahlte ich ihn mit einem mehr als großzügigen Trinkgeld und hoffte auf mein Glück. Tief durchatmend klopfte ich an ihre Tür. Von drinnen hörte ich schon ihre Stimme. “Heckler? Wenn du das bist, dann wirst du endlich selbst die Benzinrechnungen bezahlen. Ich habe keine Lust mehr, dass du mein Auto… Oh. Hallo Nelson.” Mit diesen Worten öffnete sie die Tür. “Hallo, Liz.” “Hallo“, wiederholte sie noch einmal, ihre Stimme verriet nicht, ob sie sich freute oder ob sie mir am liebsten die Tür vor der Nase zugeschlagen hätte. “Was willst du?” Sie verschränkte die Arme vor der Brust und sah mich herausfordernd an. “Du hast doch gesagt, ich soll herkommen…” Ich war verwirrt, mit so einer Begrüßung hatte ich nicht gerechnet. “Hast du vergessen, was du mir dann als Antwort geschickt hast? Ich wusste noch nicht mal, dass du solche Wörter kennst!” Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen, und ich fischte mit zitternden Fingern mein Smartphone aus der Brusttasche. Nervös scrollte ich durch meinen Nachrichtenverlauf, und mein schlimmster Verdacht bestätigte sich. “Ich… oh gott, das war ich nicht!” Könnten Blicke töten, Felicity hätte es in diesem Moment mit mir getan. “Natürlich nicht. Ein pubertierender Teenie hat dir das Smartphone im Flugzeug geklaut und fand es witzig, mir so etwas zu schicken“, sagte sie, und ich überhörte den Sarkasmus in ihrer Stimme. “Ja… ja! Genauso wird es gewesen sein!” Ich hoffte, dass sie mir glaubte, auch wenn ich genau wusste, wie es gewesen war. Aber was sollte ich ihr denn sagen? “Entschuldige Liz, wir haben die Apokalypse verhindert. Kennst du ja, du bist ja eine Jägerin. Und seitdem habe ich in meinem Kopf einen Gott, der gerne mal meinen Geist übernimmt und Unsinn anstellt. Aber hey, wie geht es dir? Was macht Alfie?” Nein, ich konnte es ihr nicht sagen. Ich konnte es doch selbst immer noch nicht glauben.
“Akintola, für wie bescheuert hälst du mich eigentlich?” Sie war jetzt wirklich in Fahrt. “Du benimmst dich, als seist du nicht du selbst!” Oh Liz, wie recht du damit hast. “Es… es tut mir leid… ich hatte getrunken, und…” “Aha. Du gibst also zu, dass du betrunken warst. Was ist denn los mit dir, Nelson? Erst dieser Anruf, von wegen, dass du in mich verliebt bist, dann dieser zweite Anruf, dass du jetzt einen Mitbewohner hast, und schlussendlich diese Nachricht. Was soll das?” Sie sah mich wütend an, und ich wusste, dass ich verloren hatte. “Liz, ich… “ Soll ich das für dich machen? Die Weiber lieben mich. Sie wird dir zu Füßen liegen, ehe sie bis drei zählen kann. “Nein!” sagte ich laut, so laut, dass Felicity es gehört hatte. “Nelson, du machst mir Angst. Ich dachte, wir hätten das alles geklärt. Ich liebe Alfie, und ich werde ihn heiraten. Was dich angeht… Bridget Forrester wird meine Trauzeugin. Ich glaube nicht, dass du im Moment der Richtige bist.” Mit diesen Worten schlug sie mir die Tür vor der Nase zu.
“Danke für gar nichts“, schnaubte ich. Du gibst schon auf? Die Stimme in meinem Kopf klang ungläubig, wie ein Kind. “Ja, allerdings. Sie liebt mich nicht, und ich weiß, wann ich verloren habe. Abgesehen davon. Sollen wir vielleicht eine Beziehung zu dritt führen?” In diesem Moment überlegte ich, ob es wohl eine Idee war, eine Lobotomie durchführen zu lassen, um mich von diesem Quälgeist zu befreien. Ich kann dafür sorgen, dass sie dir gehört. Dass sie nur dich liebt und diesen Alfred vergisst. Das kam überraschend, und ich ertappte mich für einen kurzen Moment dabei, dass ich versucht war, das Angebot anzunehmen. Aber würde ich dann wissen, ob sie mich liebte, oder ob alles nur eine Illusion war? Nein, das würde ich nicht. “Danke. Aber wenn, dann will ich, dass sie aus freien Stücken zu mir kommt. Und ich denke, dieser Zug ist für immer abgefahren.”
Die nächsten Tage und Wochen fühlte ich mich wie ein Zombie. Ich stand morgens auf, duschte und rasierte mich, fuhr zur Arbeit, hielt meine Vorlesungen, fuhr wieder nach Hause und legte mich ins Bett. Ab und an fand ich mich plötzlich mitten in der Nacht in Vierteln wieder, die ich normalerweise nie betreten hätte, und der Postbote brachte mir Bestellungen von Dingen, von denen ich bisher nicht einmal gewusst hatte, dass sie existierten. Eshu kostete seine neue Freiheit voll aus, und ich war der Leidtragende. Aber was sollte ich auch tun, es war doch alles egal. Vielleicht stand die Welt noch, aber ich hatte alles verloren, was mir jemals etwas bedeutet hatte.
Als ich eines Tages zum Dekan gerufen wurde, der mir erklärte, dass sich Studenten über mein ungebührliches Verhalten beschwert hatten und mir nahelegte, dass eine Kündigung meinerseits die beste Idee war, wusste ich, dass es vorbei war. Ich verließ das Büro des Dekans und fand mich kurze Zeit später auf der University Bridge wieder. Wenn ich jetzt sprang, in den Portage Bay, wer würde mich denn vermissen?
Selbstmord ist vielleicht keine Lösung.
Barrys Worte fielen mir wieder ein, als wir damals in New Hampshire auf der Terrasse des Templeton-Anwesens zusammengesessen hatten. Damals. Es schien so unendlich lange her zu sein. Vielleicht hatte der Indianer dieses Mal nicht recht.
“Sie! Ja, Sie!” Eine ältere Frau näherte sich mir, sie erinnerte mich in ihrem Aussehen sehr an meine Großmutter, auch wenn sie natürlich amerikanische Kleidung trug und keine nigerianische Tracht. Ich drehte mich um. “Gehen Sie da weg“, erklärte sie mir bestimmt, und ihre dunklen Augen funkelten mich wütend an. Irgendetwas in diesen Augen kam mir so unendlich vertraut vor, aber ich wusste nicht, was es war, und ich machte instinktiv einen Schritt zurück. “Sie sehen so aus, als überlegten Sie, in den Portage Bay zu springen. Lassen Sie den Unsinn.” “Entschuldigen Sie, wer…?” Ich sah mich um, ein Pärchen ging an uns vorbei, aber sie schenkten der alten Frau und mir keinerlei Aufmerksamkeit. Auch ein Plakate-Ankleber lief an uns vorbei, als würde er uns nicht sehen. “Ihre Freunde brauchen Sie!” Meine Freunde? Welche Freunde? Ich hatte keine Freunde, die einzige Freundin, die ich gehabt hatte, hatte ich verloren, für immer. “Die Engländerin. Und der schweigsame junge Mann. Vielleicht auch der alte Jäger.” Ich machte einen weiteren Schritt zurück. “Wer sind Sie?” fragte ich jetzt, meine Stimme nahm einen scharfen Unterton an. “Das tut nichts zur Sache. Aber Sie, Sie werden jetzt nach Hause gehen, und aufhören, in Selbstmitleid zu zergehen. Die Welt dreht sich weiter. Dank Ihnen. Das Feuer wurde entfacht.” Mit diesen Worten drehte sie sich um und ging davon. “Daya…?” fragte ich, an niemanden bestimmten gewandt, immer noch verwirrt von dieser Begegnung. Doch als Antwort hörte ich nur weit entfernt ein mädchenhaftes Lachen.
Zuhause suchte ich wie wild nach den Emailadressen, die mir Ethan und Irene aufgeschrieben hatten. Zuerst Ethan, entschied ich. Wir hatten noch einiges mehr zu besprechen, als nur die verhinderte Apokalypse. Dann Irene. Vielleicht konnte sie mir helfen, einen neuen Job zu bekommen. Ich wollte weg aus Seattle, das wusste ich. Und warum nicht Vermont? Mir hatte es damals in Burlington gut gefallen, auch wenn ich bei meinem ersten Besuch außer Felicitys Wohnung nicht viel gesehen hatte und bei meinem zweiten Besuch in rotem Schlamm versunken war. Aber irgendwie war Vermont ein wenig wie England, und das mochte ich.
Ich schrieb Ethan eine Nachricht mit der Bitte um ein Telefonat, und Irene eine Email. Sie lud mich ein, dass ich sie jederzeit auf dem Red Hill besuchen konnte, ich sollte nur an Gummistiefel denken. Bei diesen Zeilen musste ich schmunzeln. Außerdem könnte ich ihren Ex-Mann Charles kennenlernen, der sich wohl auch mit arkanem Wissen und Monstern beschäftigte. Gespannt darauf zu erfahren, was das für ein Mann war, der es mit Irene sicher ein paar Jahre ausgehalten hatte, sagte ich ihr zu.
Ethan schickte mir seine Nummer, und ich rief ihn an, kurz nachdem ich aus dem Büro kam, bei ihm war es schon 20 Uhr am Abend. Ich spürte, dass ich aufgeregt war, wie war es ihm ergangen? Wunderte er sich über meine Anfrage? “Gale“, meldete sich schließlich die vertraute Stimme, nachdem es einige Male geklingelt hatte. “Ich bin es, Nelson“, meldete ich mich, und ich spürte, dass ich schon wieder kurz davor war, unkontrolliert loszuplappern. Aber dann bremste ich mich. “Wie geht es dir… nach der ganzen Sache?” Ethan zögerte, vielleicht suchte er nach der richtigen Antwort. Dann antwortete er: “Muss. Wird schon.” Wieder eine Pause. “Dir?”
Jetzt geriet ich doch ins Plappern, aber es tat so gut, mit jemandem zu reden, der das alles verstand. “Nicht so gut. Alles woran ich geglaubt habe, ist… weggebrochen. Irgendwie.” Ich verschwieg ihm, dass ich noch am Vortag auf der University Bridge gestanden hatte und überlegt hatte, meinem Leben ein Ende zu setzen. “Und ich glaube, da ist während des Kampfes noch mehr durch das Tor gekommen als nur Engel und Dämonen.” Jetzt war es raus. Wahrscheinlich legte Ethan gleich auf, weil er mich für genauso verrückt hielt wie Felicity, und ich konnte es ihm nicht verdenken. Er machte jedoch nur fragend “Hmm?”, und ich sah das als Aufforderung, weiter zu reden. “Naja, am Anfang hab ich gedacht, ich werde verrückt, wegen der Stimme in meinem Kopf. Aber, naja, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, es sieht wohl so aus, als hätte ich jetzt eine Gottheit im Kopf.” Schweigen am anderen Ende der Leitung, und ich wartete schon auf das Freizeichen, als die erlösende Gegenfrage kam. “Gottheit?” “Ja, Eshu, der Herr der Wege, Straßenkreuzungen und Türen.” “Eshu?” fragte Ethan weiter, und ich erklärte ihm, um wen es sich da genau handelte. “Ah. Hmmm. Im Kopf?” wollte er dann wissen. “Ja, und wie es aussieht, übernimmt er gelegentlich auch das Steuer. Ich tue dann Dinge, an die ich mich nicht mehr erinnern kann.” “Au. Oft?” Ich überlegte, tatsächlich hatten die… Übergriffe durch meinen göttlichen Mitbewohner in letzter Zeit nachgelassen. “Inzwischen seltener. Aber zu Anfang, direkt nach… du weißt schon was, da war es heftiger. So hab ich es mir auch mit Felicity für immer verscherzt.” Es schmerzte mich noch immer, daran zurückzudenken, wie ich vor ihrer Tür stand und die unflätige Nachricht las, die ich ihr angeblich geschickt hatte. “Hm. Dumme Sache. Wie das?” wollte Ethan jetzt wissen, doch ich musste ihm gestehen, dass ich nicht mehr wusste, wie es dazu hatte kommen können.
“Ich glaube, ich muss mal aus Seattle raus, eine andere Umgebung sehen“, wechselte ich jetzt das Thema, “wegen Felicity und wegen meiner Arbeit. Sie heiratet in zwei Wochen, und geht dann nach England.” “Achja. Cousin erwähnt“, meinte Ethan, und ich erinnerte mich, dass er und Niels Heckler sich kannten. “Ich habe ein bisschen die Befürchtung, dass sie möchte, dass ich mich dann um den Jungen kümmere.” Mit Schaudern dachte ich an meine Begegnungen mit Niels Heckler, einem Teenager im Körper eines jungen Mannes. “Aber der kann mich sowieso nicht leiden, und ich habe keine Lust, Babysitter für den Jungen zu spielen.” Ich rieb mir die Schläfe mit der freien Hand, ich wollte nicht über Felicitys Cousin sprechen. “Wegen… der Stimme in meinem Kopf werde ich vermutlich auch demnächst die Kündigung präsentiert bekommen.” Das ernste Gesicht des Dekans tauchte vor meinem inneren Auge auf, als er mich in sein Büro zitiert hatte. “Weswegen?” Ethan wirkte überrascht. “Naja, so genau weiß ich das auch nicht“, gestand ich ihm, “es hieß, wegen “ungebührlichen Verhaltens”. Was auch immer damit gemeint ist. Auf Facebook oder YouTube habe ich mich bisher nicht wiedergefunden.” Was vielleicht auch daran lag, dass ich von sozialen Netzwerken soviel verstand wie ein Pinguin vom Cocktail mixen. “Vielleicht habe ich eine Studentin angeflirtet oder so. Aber ich denke, ich werde vorher kündigen. Ich bin nicht unbedingt auf den Job angewiesen.” Zum Glück hatte ich immer noch die Einnahmen aus den Tantiemen aus meinen Buchverkäufen und dieser furchtbaren Fernsehserie. “Als erstes brauche ich aber erstmal eine Pause.” Das hatte ich beschlossen, bevor ich zum Telefonhörer gegriffen hatte. “Ich habe schon mit Irene gesprochen, sie hat mich eingeladen, sie auf dem Red Hill zu besuchen.”
Doch dann wurde mir bewusst, dass ich bisher nur von mir gesprochen hatte. “Und wie kommst du klar mit dieser ganzen… Sache?” fragte ich dann. Längeres Schweigen am anderen Ende der Leitung, dann brummte Ethan: “Nicht sonderlich gut. Gar nicht.” Er machte noch einmal eine Pause, dann fuhr er fort: “Musste raus. In die Wildnis.”
“Hmmm“, machte ich nur, “raus ist nicht so mein Ding. Ich hab dann immer Angst, dass die Leute denken, dass ich mir etwas angetan habe oder einen Unfall hatte, wenn ich mich plötzlich nicht mehr melde.”
Und das sagt ein Mann, der gestern noch von der Brücke springen wollte.
“Deswegen campen. Kein Netz. Vorher bescheid gesagt, weil versprochen. Wäre jetzt noch da draußen. Aber versprochen.” “Oh, du hast wen, dem du versprochen hast, dass du zurückkommst?” Ich spürte, dass diese Erkenntnis mir einen kleinen Stich versetzte. “Mhmmmm“, antwortete Ethan nur, und ich machte nur “Ah.” Was sollte ich auch sonst sagen? Dass ich in Liebesdingen eine absolute Niete war?
Ich beschloß, das Gespräch wieder in sicherere Gefilde zu bringen. “Ich war noch in New Orleans, um zu sehen, wie es Sarah geht“, erzählte ich jetzt. “Ah, gut. Wie geht’s ihr?” wollte Ethan wissen. “Jeden Tag besser. Sie kommt langsam damit zurecht, ohne den Schleier zu leben“, berichtete ich. “Aber… irgendwie ist es auch ein wenig schade, dass sie ihre Visionen verloren hat. Sie hat mir gesagt, dass Daya auf dem dritten Weg ist, und dazu hätte ich gerne mehr gewusst.” “Dritter? Hm. Erster? Zweiter?” Ethan schien zu überlegen, was damit gemeint war. “Ich vermute, dass der dritte Weg bedeutet, dass sie irgendwo zwischen Leben und Tod ist. Ich hätte doch gerne mehr gewusst.” Ich machte eine kurze Pause. “Jetzt bleiben mir wohl nur die Visionen, die mir Daya schickt.” Ich seufzte, als ich daran dachte, wohin mich die Visionen meiner Schwester bereits geschickt hatten. “Aber vielleicht ist das mein Schicksal, dass gerade nur Geister, Visionen und Götter mit mir reden und keine lebenden Menschen.” Diese Aussage brachte mir ein Schnauben von Ethan ein, und ich erkannte, dass ich wieder auf dem Weg zurück in mein Selbstmitleid war. “Naja, hey, dich erreiche ich wenigstens über ein schnödes Telefon und nicht irgendwelchen Hokuspokus.”
Und das war der Knackpunkt. Es fiel mir immer noch schwer zu akzeptieren, dass es mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gab, als unsere Schulweisheit uns träumen ließ. “Wie machst du das?” wollte ich von Ethan wissen. “Mmmm. Ist, wie’s ist. Irgendwie weitermachen. Kopf frei kriegen“, meinte er. “Wie?” hakte ich nach. “Rausgehen. Ist, was ich mache. Campen eben. Wildnis, rumlaufen. Immer schon.” Ich überlegte. Der Typ fürs Campen war ich noch nie gewesen, ich zog Strom und eine funktionierende heiße Dusche am Morgen jedem Wald und jedem Wohnwagen vor. Als ich das Ethan sagte, glaubte ich, ein amüsiertes Schnauben am anderen Ende der Leitung zu hören. “Nein, du nicht. Aber: für jeden was anderes. Ich draußen, du… Hobby suchen? Bogenschießen vielleicht?”
Beim Stichwort “Schießen” zuckte ich zusammen. “Na, ich muss wohl, bin ja jetzt wohl auch ein Jäger. Ich kann nach all dem kaum in den alten Trott zurück. Ich verabscheue zwar Schusswaffen, aber ich muss es wohl lernen. Oder soll ich die Monster vielleicht mit Capoeira tottanzen?” Auf diese Frage glaubte ich, ein Lachen zu hören, aber sicher war ich mir nicht. “Ob ich das noch lerne?” “Kannst Jäger sein ohne schießen“, meinte Ethan dann, “kenne einen. Gelehrter. Bart Blackwood.” Ich erinnerte mich an Bart Blackwood, einen Mann in meinem Alter, ein unglaublich kluger Kopf. Was ich nicht wusste, wusste er, und umgekehrt. Ich hatte ihn gleich bei unserer ersten Begegnung gemocht.
“Kannst Kram wissen, ohne Jäger zu sein“, fuhr Ethan jetzt fort. “Barry. Schriftsteller. Oder ich. Jäger, aber auch Job seit ’nem Jahr. Kannst du auch.” Konnte ich das wirklich? Oder war die Frage viel mehr, wollte ich das wirklich? “Aber ich kann nach all dem auch nicht mehr weggucken. Und ich weiß nicht, ob ich so abgebrüht werden kann wie Cal oder Irene“, überlegte ich laut, und Ethan schnaubte wieder. “Keiner gesagt, dass du sollst. Musst nicht so abgebrüht werden wie Cal oder Irene.” Mir fiel plötzlich ein Gespräch ein, das ich mit Felicity gehabt hatte, kurz nachdem ihr Cousin angekommen war. Niels hatte mit keinem von uns ein Wort gewechselt, sondern war nur mit stechendem Blick durch Felicitys Haus geschlichen und hatte sich in seinem Hoodie versteckt. Ich hatte irgendwann den Fehler gemacht und versucht, mit dem Jungen Freundschaft schließen zu wollen, und hatte ihm meine Hand auf die Schulter gelegt. Der Dank dafür war ein “Fuck off und lass mich allein!” mit einem furchtbaren Akzent gewesen und das ewige Schweigen, mit dem er mich immer noch bedachte. Als ich das Felicity erzählt hatte, hatte sie mir von Niels’ Kindheit erzählt, und der Ausdruck “schwer” war für das, was der Junge erlebt hatte, ein unglaublicher Euphemismus. Sein Vater war ebenfalls ein Jäger, und gegen das, was ich von Felicity wusste, waren Irene und vielleicht auch Cal freundliche und sensible Mitmenschen. “Das geht noch schlimmer“, meinte ich jetzt und fragte, ob Felicity Ethan jemals von ihrem Onkel erzählt hatte. “Nach allem, was ich von dem weiß, tut mir Niels eigentlich nur leid.” Trotzdem wollte ich nicht auf ihn aufpassen.
Ethan antwortete nicht, daher sprach ich weiter. Eines Tages musste ich mir das mit dem peinlichen Schweigen noch mal erklären lassen. “Naja, du bist irgendwie klargekommen, Barry ist irgendwie klargekommen, dann kann ich das auch.” “Cal und Irene auch“, ergänzte Ethan. “Von Irene weiß ich gar nicht so viel“, stellte ich fest. “Ich hab keine Ahnung, was sie für einen Hintergrund hat, und was für eine Motivation. Aber ich bewunderte sie zutiefst.” Dann holte ich noch einmal tief Luft. “Aber was Cal betrifft… ich weiß, dass du und er euch sehr nahe stehen, aber Cal ist… Zumindest hatten wir keinen guten Start.” Jetzt schnaubte Ethan wieder amüsiert, was mich überraschte. “Acht Jahre nicht mit Cal geredet“, erklärte er. “Was? Ihr kennt euch schon so lange? Das wusste ich gar nicht.” “Zehn Jahre. Fast elf“, antwortete Ethan leise. “Aber verwandt seid ihr nicht?” Himmel, was machte das denn für einen Unterschied? Im Dumme-Fragen-stellen war ich in letzter Zeit leider wieder ziemlich gut. “Nein“, antwortete Ethan, aber er erläuterte das Verhältnis der beiden nicht näher.
“Wegen klarkommen… Niemand zum Reden?” fragte er jetzt, und ich befürchtete, dass ich ihm mit irgendeiner Frage zu nahe getreten war. “Nein, niemanden. Felicity… aber das ist vorbei. Meine Großmutter… sie fehlt mir im Moment, sie hätte das alles verstanden und gewusst, was zu tun ist.” Niemals zuvor war mir bewusst geworden, was mir fehlte, seit Enitan Akintola nicht mehr lebte. Sie war nicht nur meine Großmutter gewesen, sondern meine Lehrerin und meine Seelenverwandte. Und sie hätte mir die Ohren langgezogen, hätte sie gewusst, wie ich mich im Selbstmitleid gebadet hatte.
“Hmm. Und Leuten, die nicht informiert sind, was sagen, geht schlecht. Klar“, stimmte Ethan mir zu. “Hm, vielleicht würden meine Eltern das schon verstehen“, gab ich jetzt zu, aber ich wollte nicht mit meinen Eltern reden. “Ich weiß nicht, ob ich ihnen vertrauen kann.” Ethan machte nur “Hmmm“, und so sprach ich weiter. “Meine Eltern haben mir gesagt, meine Schwester sei tot. Aber dann hat Daya mich kontaktiert, also kann sie ja nicht tot sein. Warum aber belügen meine Eltern mich dann?” Ich spürte, wie ich wieder wütend wurde. Es war dringend an der Zeit, dass ich nach Lagos flog und meine Eltern konfrontierte mit dem Verdacht, den ich hatte. “Beschützen, vielleicht?” vermutete Ethan. Das war eine Möglichkeit, die ich auch schon in Betracht gezogen hatte, aber was, wenn dem nicht so war? Wenn meine Eltern sogar selbst in die Sache verwickelt waren? “Sie ist meine Schwester, meine Zwillingsschwester. Wir stehen uns näher als sich die meisten Menschen vorstellen können. Sie ist meine zweite Hälfte, ein Teil meiner Seele. Und es sind jetzt schon fast 30 Jahre.” Ich schluckte, beim Gedanken an meine Schwester kamen mir auch nach all der Zeit immer noch sehr schnell die Tränen. “ich hoffe immer noch, dass sie nicht tot ist, wie meine Eltern gesagt haben. Dass sie eines Tages zu mir zurückkommt.”
“Eltern, Kontakt?” fragte Ethan jetzt. “Ja klar. Wir telefonieren viel, aber seit ich weiß, dass Daya vermutlich nicht tot ist, ist das Verhältnis etwas… Das Vertrauen ist nicht mehr da. Aber eigentlich ist immer alles wie immer. Meine Mutter fragt, wann ich heirate und sie endlich Enkel bekommt, und mein Vater ist stolz auf das, was ich erreicht habe und dass ich in den USA lebe und erfolgreich bin.” Das war nicht immer so gewesen, mein Vater hatte sich lange gewünscht, dass ich in Lagos blieb und seine Praxis übernahm. Aber inzwischen hatte er sich damit abgefunden, dass ich mein Glück in der Fremde gefunden hatte.
“Meine zehn Jahre nicht gesehen. Länger“, sagte Ethan jetzt. Gesehen hatte ich meine Eltern auch schon lange nicht mehr, aber ich vermutete, dass Ethan es nicht so meinte. “Ich nehme aber nicht an, dass du damit meinst, so wie bei mir, dass ihr nur telefoniert habt, statt einander zu besuchen?” fragte ich dann. “Gar nicht gesehen“, antwortete Ethan. “Umstände. Flucht, Monster. Fehler. Wiedertreffen vor Kurzem. Schock, beide Seiten.” Er holte wieder Luft und fuhr dann fort. “Sind enttäuscht: Beruf.” Jetzt war ich derjenige, der schnaubte. Was waren das denn für Eltern, die sich nach zehn Jahren, in denen sie nicht gewusst hatten, was mit ihrem Kind war, Sorgen machten, welchen Beruf es ausübte? “Klar, Eltern wollen immer das Beste für ihr Kind“, räumte ich ein, “aber sie werden darüber hinwegkommen. Mein Vater wollte immer, dass ich Medizin studiere, aber er hat sich damit abgefunden, dass ich Doktor der Ethnologie bin. Du bist ihr Kind, und das wirst du immer bleiben. Und das wichtigste sollte sein, dass du am Leben bist und dass es dir gut geht. Vielleicht brauchen sie einfach nur etwas Zeit.” “Schon klar“, meinte Ethan nur, und ich überlegte, ob meine Ansprache ihn nun getröstet hatte, oder ob ich ihm doch wieder zu nahe gekommen war.
Ich überlegte schon, ob ich mich verabschieden sollte, da fiel mir noch etwas ein. Ich war mir zwar ziemlich sicher, aber ich wollte es dennoch zur Sprache bringen. “Felicity… heiratet jetzt übrigens. Am 3. September. Ich wäre ihr Trauzeuge gewesen. Aber jetzt… Jetzt darf ich in der letzten Reihe sitzen. Sogar ihr komischer Cousin sitzt weiter vorne.” Eine eigenartige Mischung aus Trauer und Zorn machte sich jetzt in mir breit. “Familie“, entgegnete Ethan auf meine letzte Einlassung. “Aber soweit ich weiß, mag Niels Alfred genauso wenig wie ich.” Was für ein grandioses Argument. Der Debattierclub in Oxford wäre so stolz auf mich und hätte mir spätestens jetzt meine Mitgliedschaft entzogen. “Aber Niels mag sowieso niemanden“, fuhr ich jetzt fort, meine Wut auf Felicity und ihre Heirat hatte ein Ventil gefunden. “Der Junge hat Probleme, der sollte mal zum Therapeuten gehen. Aber statt zum Therapeuten rennt er ins Tattoo-Studio.” “Vielleicht auch Therapie“, meinte Ethan diplomatisch, und ich wusste, dass er recht hatte. “Ich dachte ja, ich könnte sie vielleicht umstimmen. Aber sie scheint diesen blöden Engländer ja wirklich zu lieben. Was auch immer sie an ihm findet.” Dann war ich endlich wütend genug, um mutig genug zu sein für die nächste Frage. “Du bist doch derjenige, oder?” Als Antwort erhielt ich wieder nur ein “Mmmmhm”. “Sie hat immer nur von einem Ethan oder Ewan erzählt, und ich hab’ gar nicht realisiert, dass du das bist. Aber als mir das klar war, ist mir da so eine Idee gekommen.” Ich war nicht stolz auf diesen Gedanken, tatsächlich war er noch dümmer als jedes meiner Telefonate gewesen, Eshu hin oder her. “Ich dachte, dass du mir vielleicht hättest helfen können, sie vor der Hochzeit mit Alfred zu bewahren.” So, jetzt war der Quatsch auch raus. Ethan sagte nichts dazu, und ich konnte es ihm auch nicht verdenken. “Liebst du sie?” wollte er dann wissen. Ich überlegte kurz. “Und wie.” Und es tat so verdammt, verdammt weh. “Mmhm. Und zurück?” Hatte sie mich geliebt? Oder war ich nur Mittel zum Zweck gewesen? “Ich dachte das zumindest mal. Wir sind uns mal… ziemlich nahe gekommen wenn du verstehst.” Dann schlug ich mir innerlich mit der flachen Hand vor die Stirn. “Tut mir leid. Das war unsensibel von mir.” Es entstand wieder eine längere Pause, bis ich schließlich fragte: “Wie kommst du damit klar?” “Okay. Gekommen, wie es gut war“, meinte er nur, und das klang ruhig und gefestigt. “Ich hoffe, dass es mir auch mal so geht.” Dann überlegte ich wieder. “Am liebsten würde ich gar nicht auf die Hochzeit gehen“, gestand ich ihm. “Dann geh nicht. Komm nach Vermont. Gibt Bier. Gute Privatbrauerei hier. Oder Steak.” Ich grinste. “Warum nicht beides?” fragte ich ihn. “Oder beides. Wir trinken auf Felicity. Ihr Leben. Ihr Glück.” Das klang nach einem Plan. Wir verabredeten uns, dass wir uns am 3. September, dem Tag von Felicitys Hochzeit, in Burlington treffen wollten. Die Adresse wollte Ethan mir per Mail schicken. Ich stellte fest, dass ich mich richtig auf dieses Treffen freute. “Wird seltsam, wieder nach Burlington zu kommen“, bemerkte ich dann, “war immerhin der Ort, wo sie und ich… wo wir eine Nacht glücklich waren.” Das war jedoch definitiv zu viel Information für Ethan, er räusperte sich und verabschiedete sich mit dem Hinweis, dass er die Adresse gleich schicken würde. Immerhin, treffen mit mir wollte er sich noch.
Ich legte auf und sah auf den Ibeji, den ich durch die geöffnete Tür im Schlafzimmer gegenüber meinem Bett thronen sehen konnte. Vielleicht war die Welt nicht untergegangen, zumindest dieses eine Mal nicht. Meine war es ganz sicher. Aber dafür wartete da draußen eine neue, schönere und ganz andere auf mich, und ich würde sie bis in jeden Winkel erkunden.
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