Warnung für die Diaries zu „New Orleans – Tage des Teufels“:
Diese Geschichte ist ziemlich extrem, und auch ziemlich bitter. Es werden Themen wie Gewalt und Kindesmissbrauch angesprochen, und es kommt eine Vergewaltigung darin vor. Nicht explizit in den Diaries ausgesprochen, sondern nur angedeutet, aber diese Themen durchziehen die Geschichte. Ein oder zwei Sexszenen gibt es auch. Wer mit solchen Dingen ein Problem hat, sollte diese Beiträge vielleicht nicht lesen.
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Das Haus am Fluss. Ich stolpere hinein. Irgendwo habe ich ein Messer. Soll der Teufel doch meine Seele bekommen. Was davon noch übrig ist.
Timothy ist noch da. Timothy. Audreys Vater. Ich falle vor ihm auf die Knie.
„Es tut mir so leid“, stammele ich. „Ich wollte das nicht… Audrey…“
Er versteht nicht. Hebt mich auf. Sagt irgendwas. Keine Ahnung, was. Aber seine Stimme klingt freundlich. Sanft. Wie Audreys Stimme. Wenn ich krank war, hat sie immer so mit mir gesprochen. Oh, Audrey.
Ich finde das Messer. Ein einfacher Schnitt, und es ist vorbei. Endlich.
Timothy lässt mich nicht. Er nimmt mir das Messer weg. Redet weiter auf mich ein. Schlägt vor, ich soll es aufschreiben.
Als ich ein Kind war, hat Mutter mich immer einen Satz aufschreiben lassen. Zur Strafe. Im Herrenhaus liegen Dutzende, Hunderte Hefte, die ich mit diesem Satz vollgeschrieben habe.
Ich habe ein Heft hier. Fange an zu schreiben:
„Ich bin schlecht. Bitte, lieber Gott, hilft mir, damit ich mit meiner Schlechtigkeit niemandem schade.
Ich bin schlecht. Bitte, lieber Gott, hilft mir, damit ich mit meiner Schlechtigkeit niemandem schade.
Ich bin schlecht. Bitte, lieber Gott, hilft mir…“
Timothy nimmt mir das Heft weg. Runzelt die Stirn. Schüttelt den Kopf.
„Nein“, sagt er, „das ist ganz falsch. Kannst du ein Gebet?“
Ja, natürlich kann ich ein Gebet. Mutter hat es mir beigebracht. Ich knie mich wieder hin und fange leise an:
„Lieber Gott, beschütz mich vor der Sünde.
Lieber Gott, beschütz mich davor, schlecht zu sein.
Lieber Gott, beschütz mich vor dem Teufel.
Lieber Gott, wenn ich sündige,
dann bestraf mich.
Lieber Gott, wenn ich schlecht bin,
dann bestraf mich.
Lieber Gott, wenn ich dem Teufel nachgebe,
dann lass mich sterben.“
Ich bin beim zweiten Durchgang, als Tim mich wieder unterbricht.
„Das ist kein richtiges Gebet“, sagt er. „Das ist doch kein richtiges Gebet.“ Dann kniet er sich neben mich und spricht ein anderes Gebet. Eins ohne Strafen. Eins, bei dem ich nicht sterben muss. Ich fange an zu weinen. Er betet weiter. Für mich.
Es hilft. Einen Augenblick. Dann ist der Teufel wieder in meinem Kopf. Erzählt mir, was ich getan habe. Was ich meiner Schwester angetan habe. Sie ist meine Schwester. Ich reiße an den Wunden, die Vater mir geschlagen hat, bis Tim meine Hände festhält.
Dann ist der Teufel weg. Ganz plötzlich. Antoine ist da.
Ich kann nicht einmal aufstehen. Ich denke an die zwei Tassen Kaffee. Audrey und Antoine.
„Es tut mir so leid“, sage ich. „Ich wollte das nicht.“
„Was wolltest du nicht?“, fragt er.
„Ich wollte nicht mit Audrey schlafen“, antworte ich. Leise, aber ganz klar.
Antoine weicht zurück und starrt mich an. Seine Fäuste ballen sich. Seine Augen, gerade noch dunkelbraun, werden golden. Katzenpupillen. Die Fingernägel wachsen zu Krallen und ich denke, jetzt zerreißt er mich.
Aber das tut er nicht. Stattdessen geht ein Hurrikan durch das alte Haus am Fluss. Erfasst die Matratze, die Kaffeemaschine, meine Kleider und wirbelt sie durcheinander. Meine Instrumente. Das Akkordeon zerbirst mit einem klagenden Ton. Die Gitarre zerbricht in kleine Holzstücke. Das Banjo knallt gegen eine Wand und zersplittert. Die Oboe pfeift ganz kurz eine wilde Note und zerschellt an der Tür.
Es sind nur tote Gegenstände. Trotzdem tut es mir weh, als sie sterben. Merkwürdig, dass ich das überhaupt noch spüren kann.
„Was ist passiert“, knurrt Antoine. Ich erzähle ihm alles. Er schüttelt den Kopf. Will es nicht glauben. Vielleicht hätte ich ihn einfach anlügen sollen, damit er ein Ende mit mir macht.
Tim spricht mit ihm. Erfährt, dass Antoine wieder bei Soléne war. Seiner Mutter. Dass beide keine Menschen sind. Dass Antoine Leute getötet hat mit seinen Kräften.
Er nimmt das einfach hin. Genau wie er einfach hingenommen hat, was ich mit seiner Tochter getan habe. Aber ich spüre keine Schwäche in ihm. Im Gegenteil. Vielleicht ist das seine Stärke. Dass er Dinge akzeptieren kann. Dass er versuchen kann, Menschen zu retten, ohne Wut. Ohne Hass.
Ich ertappe mich bei dem Wunsch, er wäre mein Vater gewesen.
Sie sprechen weiter, Tim und Antoine. Über das Herz im Mausoleum. Tim glaubt, es wäre vom Teufel. Aber ich sage ihm, dass der Teufel Angst davor hat. Er glaubt mir. Antoine sagt, das Herz gehört seiner Mutter Soléne. Mein Vorfahr hat es ihr gestohlen.
Als wir vom Mausoleum reden, fällt mir ein: Audrey ist noch da. Vater hat sie nicht mitgenommen. Ich konnte nicht zu ihr gehen. Wir haben sie beide ganz allein gelassen.
Ich sage Antoine, er muss gehen und sie holen.
„Du hast sie einfach dort gelassen?“, fragt er. Wütend und ungläubig. Voller Abscheu.
Er dreht sich um und rennt los, um Audrey zu holen. Tim bleibt bei mir. Betet weiter. Für meine Seele. Ich glaube, es ist zu spät, viel zu spät, aber ich lasse ihn beten. Es scheint ihm zu helfen.
Die Zeit vergeht. Tim betet. Ich sitze nur da. Erinnere mich. Was ich getan habe. Was der Teufel mit mir und Audrey getan hat.
Antoine kommt nicht zurück. Ich stehe mühsam auf. Mein Kopf dreht sich. Meine Beine zittern. Aber ich muss nach ihm sehen. Ich kann dem Teufel nicht noch ein Opfer in den Rachen werfen. Er lacht nur.
„Du kannst nichts bewirken, kleine Motte“, summt er in mein Ohr. „Sie werden alle sterben, und es wird deine Schuld sein.“
Es ist schon fast Morgen, als wir am Herrenhaus ankommen.
Aus dem Labyrinth hören wir ein merkwürdiges Fauchen und Krachen. Als würde ein Raubtier versuchen, herauszubrechen. Vor uns hilft Audrey einer alten Frau ins Labyrinth. Soléne. Die alte Frau ist Soléne. Antoine hat gesagt, dass sie gealtert ist.
Beim Mausoleum treffen wir alle zusammen. Ich und Tim. Audrey und Soléne. Antoine, der das Herz hat und aussieht wie ein Raubtier. Und Vater. Er steht vor dem Eingang zur Gruft, ein Messer in der Hand. Blutüberströmte Schulter. Platzwunde am Kopf. Hat er versucht, Antoine aufzuhalten, als der das Herz seiner Mutter holen wollte?
Antoine eilt zu seiner Mutter und versucht, ihr das Herz zu geben. Sie jedoch schüttelt mühsam den Kopf.
„Einer von ihnen…“, krächzt sie und deutet auf Vater und mich. „Ein Sauvageau muss es mir geben… Gebt mir mein Herz zurück!“ Fordernd streckt sie ihre magere Hand aus.
Vater zögert. Er ist kurz davor, ihr das Herz zu geben.
„Tu es nicht“, rufe ich ihm zu. „Das Herz ist doch das einzige, was uns vor dem Teufel schützt!“ Ich kann seinen unregelmäßigen Schlag in meinen Knochen spüren. Es pocht an der Stelle, an der sonst der Teufel sitzt. Der Teufel kann mich gerne haben, aber nicht Vater.
Audrey verlässt Soléne Seite und geht auf Vater zu. Im Vorbeigehen streckt sie die Hand nach mir aus. Eine Aufforderung, mit ihr zu kommen. Aber ich weiche zurück. Ich kann sie nicht anfassen. Nicht nachdem, was passiert ist. Es ist genau hier passiert, an dieser Stelle. Ich kann den Abdruck unserer Körper im Gras noch sehen.
Für einen Moment bin ich wieder da. Liege auf dem weichen, feuchten Boden. Ein Stein bohrt sich in meinen Rücken. Meine Kehle rau und leer. Nicht Herr meines Körpers. Hilflos. Ausgeliefert. Ich schließe die Augen und sehe schwarze Kreise, die sich vor meinen Augen drehen.
„…wenn es sein muss, dann werde ich eben sterben.“ Vaters Stimme. Ich komme wieder zu mir. Was ist passiert? Warum will er sterben? Seine Augen sind so hoffnungslos, und er starrt auf das Messer in seiner Hand. Was tut er?
„Nein“, entfährt es mir unwillkürlich. „Wenn einer von uns sterben muss, dann ich.“ Ich gehe zu ihm hinüber. Seine große, starke Gestalt schwankt.
„Du?“, sagt er und schüttelt den Kopf. „Nein, du musst weiterleben. Du bist noch so jung.“
„Aber wofür soll ich denn leben?“, frage ich ihn. „Nach allem, was passiert ist?“ Ich schaue zu Audrey hinüber. Meine linke Hand berührt unwillkürlich die Wunde, die sein Siegelring in mein Gesicht geschlagen hat.
Er schüttelt wieder den Kopf. „Wofür soll ich denn noch leben?“, erwidert er. Er klingt nicht wie er selbst. So unbeherrscht. So verzweifelt.
„Ich… ich weiß es nicht.“ Aber ich habe nie gewusst, wofür er eigentlich lebt. Für seine Karriere? Für seine Firma? „Aber du… du bist stark genug, du wirst etwas finden“, fahre ich fort. „Ich… ich werde ohnehin nicht mehr lange leben. Bitte, Vater… ich bin so müde.“ Es ist wahr. Als ich das sage, spüre ich auf einmal meinen Körper wie eine bleischwere Marionette, an die meine Seele gefesselt ist. Aber die Fessel ist brüchig geworden.
Vater starrt mich an. Ich kann seinen Blick nicht deuten.
„Ich habe deine Entscheidungen nie respektiert“, sagt er schwer. „Vielleicht wird es Zeit, dass ich damit anfange.“
Dann reicht er mir das Messer.
Ich nehme es. Ich weiß nicht recht, was ich fühle. Erleichterung, sicher. Sterben erscheint mir nicht schrecklich. Ich habe so lange gekämpft. Versucht, stark zu sein, und dabei wieder und wieder versagt. Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr existieren, nicht mehr fühlen. Keinen Schmerz mehr. Keine Verwirrung. Nur Ruhe.
Aber… ein Teil von mir ist enttäuscht, dass Vater nicht mehr um mich kämpft. Ein Teil von mir sagt, dass er meine Entscheidungen immer respektiert hat, solange er sie richtig findet. Ein Teil von mir weiß, dass er mich nie geliebt hat, nie lieben wird. Dass er mich deswegen so schnell aufgibt.
Tim hat mir gestern ein Messer weggenommen. Er hat mir gesagt, dass ich meine Seele nicht so einfach wegwerfen darf.
Ich halte Vaters Messer lose in der Hand und denke an Tims Worte.
„Ich kann nicht“, sage ich leise. „Ich kann mich nicht umbringen… dann würde meine Seele dem Teufel gehören. Welchen Sinn hätte das?“
Vater weiß nicht, was er dazu sagen soll. Sein Gesicht… was ist das für ein Ausdruck?
Soléne unterbricht uns.
„Gebt mir mein Herz!“, verlangt sie wieder. „Bitte, gebt es mir, sonst muss ich sterben!“
Ich drehe mich zu ihr um.
„Ich kann nicht“, sage ich. Es geht nicht nur um meine Seele, sondern auch um die von Vater. Vielleicht um die Seelen aller meiner Vorfahren. „Aber… kannst du nicht ein anderes Herz nehmen? Kannst du nicht mein Herz nehmen?“
„Nein“, sagt sie. „Ich brauche mein Herz. Ich will nicht sterben!“
„Aber ich kann es dir nicht geben“, sage ich. Sie tut mir leid, diese alte, alte Frau, die all ihre Kraft braucht, um auf den Füßen zu bleiben. „Versteh doch… hast du eine Seele?“
„Nein, ich brauche keine Seele“, antwortet sie. Sie achtet gar nicht richtig auf mich. Ihr Blick hat sich an Vater festgesaugt. „Nur mein Herz.“
Mit mühsamen Schritten quält sie sich auf ihn zu, einen nach dem anderen. Ich verstehe nicht, warum sie so unbedingt leben will.
Als sie ihn erreicht, stürzt sie. Hält sich an ihm fest. Er greift nach ihr, will sie abschütteln oder aufheben. Ich bin nicht sicher.
Sie zieht sich an ihm hoch. Ihr Gesicht verzerrt sich. Bitterkeit. Hass. Hilflosigkeit. Sie sieht ihn an, als würde sie ihn kennen. Als hätte er sie verraten.
„Gib mir mein Herz zurück, Victor!“, schreit sie. „Du darfst es nicht behalten, dafür habe ich es dir nicht gegeben!“
Ihre dürren Hände umfassen Vaters Handgelenke. Wie Krallen schlagen sich ihre Finger in sein Fleisch. Er schwankt unvermittelt. Bernsteinfarbene Funken tanzen über seine Haut, tanzen in Solénes Augen. Ein ganzes Gewitter von Funken, die die beiden kurz einhüllen.
Dann ein kurzer, scharfer Knall. Der Gestank von Bourbon und nasser Katze. Vater und Soléne sacken zusammen.
„Mein Herz…“, stöhnt sie. „Victor, gib mir mein Herz zurück…“
Ich laufe zu Vater. Er atmet noch, mühsam und schwerfällig. Seine verletzte Schulter blutet wieder, schwerer als zuvor.
Audrey ist neben mir. Sie ist kreidebleich, ihre verstörten Augen riesig in dem hellen Gesicht. Mit einem schnellen Griff entreißt sie mir Vaters Messers und richtet es gegen sich selbst.
„Das wird jetzt aufhören“, ruft sie gequält. „Hörst du, Teufel? Ich werde das jetzt beenden!“
Dann stößt sie zu. Ich bin nicht schnell genug, um sie aufzuhalten.
Aber Tim ist es. Er hat kein Wort bisher gesagt, aber er ist da, und er reißt ihre Hand zur Seite. Das Messer trifft trotzdem, fährt tief in ihre Seite. Sie ist nicht tot, nicht von diesem Stich. Aber es ist keine leichte Wunde, und ein Schwall Blut strömt aus ihrem Körper. Ach Audrey, was hast du nur getan?
Keuchend sinkt sie zu Boden. Redet vom Sterben. Nein, nein, nicht Audrey. Nicht Audrey!
Soléne atmet mühsam. „Gebt mir mein Herz“, stöhnt sie wieder. „Gebt mir mein Herz, und ich kann sie heilen.“
Vater und ich müssen uns nicht einmal ansehen. Wir strecken beide die Hand aus und machen eine Geste mit der offenen Hand in Solénes Richtung. Genau zum gleichen Zeitpunkt. Genau die gleiche Geste. Ich habe diese Geste schon hundert Mal bei Vater gesehen. Ich habe sie selbst schon hundert Mal benutzt. Merkwürdig, dass mir das jetzt auffällt. Ich hätte nie gedacht, dass es etwas gibt, das Vater und ich gemeinsam haben.
Sie bedeutet „Nimm“. Oder „Es ist deins“.
Vaters gekeuchte Worte sind danach beinahe überflüssig. Tim reicht Soléne den pulsierenden Stein. Mit einem Ausdruck absoluter Ekstase ergreift sie ihn und verwandelt sich und ihn in pures, reines Licht.
Einen Moment lang ist alles in ihren Glanz gehüllt, heller und genauso schmerzhaft wie die Sonne. Dann wird sie blasser, eine leuchtende Frauengestalt, die über uns schwebt. Glücklich lächelt. Sich wegbewegt. Aber Audrey liegt noch im Gras und blutet.
„Wir hatten einen Handel, Soléne“, rufe ich ihr zu. „Du musst dich daran halten.“ Nicht, dass ich sie zwingen könnte. Aber sie hat mich gehört.
Soléne – die Lichtgestalt, die einst Soléne war – schwebt auf Audrey zu und hüllt sie kurz in ein sanftes, goldenes Licht ein. Ich sehe, wie die Blutung schwächer wird und versiegt. Schließlich verschwindet die Wunde in Audreys Seite. Soléne schwebt wieder nach oben. Ich weiß nicht, ob sie Antoine noch einen Blick zuwirft. Ich glaube, sie tut es nicht.
Wie ein funkelnder Stern verschwindet Soléne am Himmel. Ich wünschte, ich könnte ihre Freude über die neu gewonnene Freiheit teilen. Aber der Preis dafür war viel zu hoch.
Audrey kommt auf die Füße. Rennt zu Vater und mir, wirft sich auf seinen Körper. Klammert sich an ihn. Packt meinen Arm und hält ihn ganz fest, als wollte sie uns beide vor dem Ertrinken retten.
Vater bewegt sich mühsam und streicht ihr über den Kopf.
„Du musst jetzt gehen“, sagt er leise. „Der Teufel kommt, um uns zu holen.“
Sie klammert sich nur noch fester an uns.
„Nein, nein, ich lasse euch nicht gehen, ihr dürft nicht sterben“, ihre Stimme schwankt. „Nicht so, nein.“
„Bitte, geh“, sage ich zu ihr. „Du kannst dich noch retten.“
Sie schüttelt nur den Kopf. „Nein, ich gehe nicht weg… ich kann euch nicht verlieren…“ Sie sieht Vater an. „Papa, ich will, dass du deine Enkelkinder im Garten toben siehst… ich will, dass du siehst, wie Ash mit den Kleinen spielt…“
„Es ist zu spät“, stöhnt Vater. Sein Atem geht röchelnd. Ich glaube, er liegt im Sterben. „Audrey, du kannst nichts mehr für uns tun… du musst gehen.“
Tränen laufen über ihr Gesicht. „Nein… wenn ihr bleibt, bleibe ich auch… soll der Teufel doch uns alle holen…“
„Audrey“, sage ich eindringlich, „dann ist unser Tod sinnlos… willst du denn, dass wir umsonst gestorben sind?“
Das ist der Augenblick, in dem sie begreift, dass sie mich und Vater nicht retten kann. Dass sie nichts tun kann, gar nichts, um uns zu helfen. Ich wünschte, ich könnte ihr sagen, wie sie weiterleben soll, aber ich weiß es nicht.
Aber Tim und Antoine sind noch da. Ich hoffe, die beiden können es ihr zeigen.
„Passt auf sie auf“, sage ich zu ihnen, und Vater flüstert neben mir die gleichen Worte. Dann zieht Tim seine Tochter von uns weg. Sie weint laut, ihr Körper schüttelt sich wie im Krampf, aber sie lässt es zu. Sie lässt Vater los. Sie lässt meine Hand los, und dann ist sie weg, zusammen mit Tim und Antoine. Leb wohl, Audrey. Leb wohl.
Vater liegt in meinen Armen. Er hat angefangen, zu weinen, als Audrey weggegangen ist.
„Es tut mir leid“, murmelt er. „Es tut mir so leid. Bitte verzeih mir.“
Ich weiß erst nicht, mit wem er spricht. Mit Audrey? Mit seiner zweiten Frau, Amber? Mit Mutter?
Aber dann sehe ich, dass er mich ansieht. Mich. Er spricht mit mir.
„Schon gut“, sage ich. Mein Gesicht ist auf einmal nass von Tränen. „Schon gut. Ist schon in Ordnung.“
Seine Hand klammert sich an meinen Arm. Ich weiß nicht, ob er meine Worte versteht. Ich würde ihm gern mehr sagen. Dass es mir leid tut. Dass es nicht seine Schuld ist. Dass ich ihn liebe. Aber ich weiß nicht, wie.
Doch. Ich weiß, wie.
Ich fange an, zu singen. Ein einfaches Lied. Ohne Worte. Nur eine Melodie. Eine Melodie, die meinen Vater und mich einhüllt und die all das sagt, was weder ich noch er in Worte fassen können. Er lächelt durch seine Tränen. Ich glaube, er versteht mich, und ich ihn. Endlich.