Supernatural – Faerie Tale

Melody Burke liest regelmäßig die einschlägigen Sensationsblätter. Ob im Auftrag von Dekan Brimley oder auf eigene Initiative, das hat Ethan bisher noch nicht herausbekommen. Sie hat auch nicht erwähnt, und Ethan hat nicht gefragt, ob die Lektüre dieser Dinger ihr vielleicht sogar Spaß macht. Alternative Perceptions. Ufo Digest. Die kanadische Conspirapedia. Ein kleines Blatt namens Unknown Reading Objects. Sowas eben. Es ist eine Ausgabe der letzteren Publikation, die auf dem Schreibtisch von Dekan Brimleys persönlicher Assistentin liegt, als Ethan deren Büro betritt. Und dann verweist ihn der Dekan bei der Auftragsvergabe tatsächlich auf genau diese Zeitung. Oder besser: einen Artikel darin. „Finden Sie raus, ob da was dran ist, Gale.“

Verschwunden in Athol!
Ohne aufzufallen, fast wie eine schleichende Plage, verschwinden Menschen in Athol, Massachusetts. Donnie Bridger, Mara Larkin, Ivan Hockstetter… die Liste ist lang. Was ist aus ihnen geworden? Sind sie wirklich nur „weggezogen“, wie die Chief of Police Ethel Reikveld behauptet? Oder steckt mehr dahinter?
„Meine Oma war so krank, und jetzt ist sie fort“, berichtet der siebenjährige Josh K. „Dauernd hat der Alte drüben gezetert – auf einmal war es still“, sagt Lindsay Z.
Aliens sind natürlich die naheliegende Erklärung. Aber Athol – „neues Irland“ – legt noch einen anderen Übeltäter nahe. Haben sich diese armen Menschen vielleicht ins Feenland verlaufen? Wer hat dafür einen Topf Gold bekommen? Chief Reikveld vielleicht? Wer hat für ihr neues Auto bezahlt???

Ethan hat wenig Lust, das alleine anzugehen. Aber Irene ist unterwegs, Sam hat versprochen, in der Zeit ein Auge auf den Hügel und den Schrein zu halten, und Barry zu bitten, den ganzen Weg aus Arkansas herzukommen, wäre Ethan doch eher peinlich. So schwerwiegend klingt der Fall jetzt auch nicht. Und es gibt noch einen anderen Grund, warum Ethan seinen Freund nicht von Zuhause wegrufen will. Es ist ihm noch immer ziemlich unangenehm, wenn er daran denkt, wie sehr Artie Ethans zweieinhalbwöchige Funkstille mitgenommen hat, auch wenn die Jacksons erklärt und aufgefangen haben, so gut es ging. Das hat Ethan aus Arties Bemerkungen nach seiner Rückkehr aus Pemkowet heraushören können, und daran hat auch Barry ziemlich wenig Zweifel gelassen. Verdammt. Aber es ging einfach nicht anders, elender Drecksmist.
Aber auch deswegen ist es Ethan jedenfalls lieber, wenn Barry nicht von zuhause weg muss, sondern bei Artie bleiben kann.
Bei dem Gespräch hat Ethan seinem Freund auch von Wyoming erzählt. Das fiel ihm nicht ganz leicht, aber leichter als Sam gegenüber am ersten Abend nach seiner Rückkehr aus den Bristol Cliffs. Heh. Die Nummer war ja an Hilflosigkeit und Unverständlichkeit auch kaum zu überbieten. Jedenfalls war Barry anfangs ein bisschen angefressen, hatte Ethan den Eindruck. Nicht wegen sich selbst, aber wegen Artie eben. Das gab sich dann im Verlauf des Gesprächs wieder, als der Schriftsteller mitbekam, wie sehr diese Sache auf Ethan lastete. So richtig etwas tun konnte Barry nicht, aber die ganze Sache war ja ohnehin etwas, mit dem Ethan hauptsächlich selbst fertig werden musste – in Teilen noch immer muss – und Sam hat in Pemkowet ja schon unschätzbare Hilfe in dieser Richtung geleistet.

Mit Nelson führte Ethan ein paar Tage nach seiner Rückkehr vom Lake Erie ebenfalls ein längeres Telefonat. Und auch darin ging es natürlich um die verhinderte Apokalypse. Wie Nelson damit klar kam. Wie Ethan selbst damit klar käme. Was man tun könne, um zu verarbeiten. Rausgehen in die Wildnis wäre wohl eher nichts für Nelson, aber es ist ja auch für jeden was anderes. Ob der Afrikanist mit all diesem Wissen um die Dinge jetzt automatisch ein Jäger sein müsse oder nicht. Und vor allem, ob er, wenn er denn jetzt ein Jäger wäre, auch kämpfen können müsse oder nicht. Und ob er, wenn er denn jetzt ein Jäger wäre, auch so abgebrüht werden müsse wie Cal und Irene. Nein, sagte ihm Ethan. Gibt immerhin auch Leute wie Bart. Und gibt auch genug Leute, die zwar Jäger sind, die gleichzeitig aber auch was anderes machen. Er selbst zum Beispiel, mit seinem Hausmeisterjob. Oder Barry, der Schriftsteller ist. Und genau das sagte er dem Älteren auch so. Der erzählte noch, dass seit Wyoming eine afrikanische Trickstergottheit in seinem Kopf herumspuke, die Nelson während des Rituals um Hilfe angerufen hatte und seitdem nicht mehr verschwunden war. Dass der Dozent wegen der Spielchen des Tricksters, über die er selbst keinerlei Kontrolle hatte und sich nicht daran erinnern konnte, vermutlich seine Stelle in Seattle verlieren würde. Unschön, das. Über Fey und deren bevorstehende Hochzeit und die Tatsache, dass Nelson davon ausgeladen wurde, oder besser: dass Nelson kein Trauzeuge mehr sein darf; auch das wohl aufgrund von irgendeiner Aktion, die dieser Trickster ohne Nelsons Zustimmung in dessen Körper veranstaltet hat. Am liebsten würde er gar nicht hingehen, sagte er, also schlug Ethan kurzerhand vor, sich stattdessen an dem Tag zu treffen. Ein Bier oder zwei auf Feys Leben und ihr Glück zu trinken. Die Steaks dazu waren Nelsons Idee. Und nach Vermont wollte der Afrikaner sowieso kommen, weil Irene ihn zu sich auf den Roten Hügel eingeladen hatte.

Also. Athol, Massachusetts. Das ist ungefähr so weit von Boston entfernt wie Hectorville von Burlington. Mit anderen Worten: gar nicht. Und wen kennt Ethan in Boston? Genau. Gideon Barker.
Der Rettungssanitäter freut sich sehr, von Ethan zu hören. Er ist sofort an dem Fall interessiert, gerne bereit, mitzukommen und erklärt, er könne da auch noch wen weiteres dazuholen, falls nötig. Sei gerade zufällig in der Gegend. Ein bisschen fühlt Ethan sich an ihr Gespräch vor der Sache mit dem Hanging Tree erinnert, und er muss ein leises Schmunzeln unterdrücken, als er trocken erwidert: “Alte Bekanntschaft?”
Gideon lacht. Der hat die Begegnung zwischen Cal und Ethan in Dimmitt offenbar auch noch lebhaft in Erinnerung. “Ich glaube nicht, dass du die junge Dame kennst. Aber man kann ja nie wissen. Lucy Baker?”
Ethan legt die Stirn in Falten. Das sagt ihm tatsächlich was, ganz flüchtig. Mit dem Namen verbindet er ein Gesicht aus einem Roadhouse, ungefähr in seinem eigenen Alter, mit langen, kastanienbraunen Haaren. “Mhmmm. Doch.”
“Au weia”, kommentiert Gideon amüsiert. “Muss ich mir Sorgen machen?”
Jetzt bricht Ethans Schmunzeln sich doch noch Bahn. “Keine.”

Bis Athol sind es nur drei Stunden. Der Ort ist eine typische neuenglische Kleinstadt, an den Randbezirken ziemlich weitläufig, im Stadtkern mit relativ viel alter Backsteinarchitektur. Ein bisschen wie St. Albans. Ein solches Backsteingebäude beherbergt auch den Irish Pub, in dem Ethan sich mit Gideon und Lucy trifft.

Die junge Dame sieht ungefähr so aus, wie Ethan sie in Erinnerung hatte. Motorrad vor der Tür des Pubs, Lederklamotten. Die Haare vielleicht ein bisschen dunkler, die Ausstrahlung tough, wie auch damals im Roadhouse schon. Wobei sie da mehr als ein paar Worte auch gar nicht miteinander gewechselt haben. Aber hey, das Mädel ist Jägerin. Da wird die Ausstrahlung gerne mal tough. Ethan wirkt ja vermutlich selbst nicht groß anders. Gideon hingegen macht denselben freundlichen, aufgeschlossenen Eindruck wie immer.

Der hochgewachsene Afroamerikaner hat sich, während Ethan unterwegs war, auch über die in dem Esoterikblatt genannten Namen informiert. Jetzt ergreift er die Initiative und fragt die Bedienung, einen jungen Mann mit jeder Menge Ohrringen, nach der alten Mrs. Larkin. Tatsächlich hat der Kellner vom Verschwinden der alten Dame schon gehört. Er will nämlich Reporter werden und liest aus journalistischer Wissbegierde auch die Sensationspresse.
Viele Leute fragten sich, wie es überhaupt zu Mrs Larkins Verschwinden habe kommen können, erzählt der junge Mann, denn die Rentnerin sei schwer krank gewesen und nach einem Schlaganfall gelähmt. Von selbst hätte sie sich wohl kaum aus dem Staub gemacht. Schon gar nicht aus ihrem Zimmer im Pflegeheim.
Heh. Doch. Absolut. Klare Kandidatin für einen Hippie-Komplettausstieg.

Verschwunden sind auch ein an Leukämie erkrankter kleiner Junge, ein junges Mädchen und ein Mitglied des Stadtrats. Um den sei es aber nicht schade, findet der Kellner.
Das junge Mädchen, eine gewisse Alison Golightly, sei öfters mal hier im Pub zu Gast gewesen, deswegen sei auch die Polizei mal vorbeigekommen und habe nach ihr gefragt, aber da der Kellner das Mädchen nur vom Gesicht her als Gast kannte, aber sonst nichts über sie wusste, konnte er auf die Fragen auch nichts antworten.

Aber laut dem Jungreporter hatte die Kleine hinten in der Ecke einen Stammplatz, wo sie immer saß. Diesen Stammplatz geht sich Ethan doch mal ansehen.
An Alisons Lieblingstisch ist nichts Besonderes. Keine Kritzeleien, keine Spuren, keine Hinweise. Jedenfalls nicht, soweit Ethan sehen kann. Aber nebendran steht ein Bücherregal, das anscheinend zum freien Austausch gedacht ist und wo die Leute Bücher hinterlassen können, die sie nicht mehr wollen. Da ist echt alles dabei, komplett durchgemischt, Teenie-Schmöker neben Klassikern der Weltliteratur neben neuem, offenbar anspruchsvollem Zeug, von dem Ethan im Leben noch nichts gehört hat.
Neugierig zieht er ein Buch nach dem anderen heraus, späht in die Lücken – und findet tatsächlich hinter einem Twilight-Roman ein kleines Notizbuch. Tagebuch, wie sich herausstellt. Mädchenhandschrift. Kreuzunglückliche Einträge, die von Mobbing in der Schule berichten und von dem Wunsch, die Schreiberin wäre tot. Oh-hoh.

Als Ethan von seiner Lektüre aufsieht, bemerkt er, dass sich in der Zwischenzeit ein Fremder zu Gideon und Lucy an den Tisch gesetzt hat. Er klappt das Notizbuch zu und geht mit seiner Beute zurück zu den anderen.
Der Unbekannte dürfte so Anfang, Mitte Dreißig sein. Dunkle Haare und Augen, Anzug. ‘Smart’ ist das Wort, das Ethan zu dem Typen einfällt. Lucy sieht ihn gerade ziemlich irritiert an, während Gideon grinst. “Nein, nein. Gideon Barker. Lucy Baker. Aber danke für die Glückwünsche.” Lucy funkelt den Bostoner an, und der fügt schleunigst hinzu: “Auch wenn sie fehl am Platz sind.”

Ethan sieht zu seinen beiden Bekannten, dann zu dem smarten Typen im Anzug. Versucht einzuschätzen, ob und wieviel der wohl über Kram weiß. Erkundigt sich dann bei seinen Begleitern mit Nicken in Richtung des Kerls und einem “Auch?”

Jein, stellt sich heraus. Der Mann heißt Nick Morrissey und ist Reporter, aber anscheinend ein Reporter, der schon das eine oder andere gesehen hat. Okay. Und er ist scheints auch wegen der verschwundenen Leute hier.
Das sind übrigens ein paar mehr als nur die alte Dame, das junge Mädchen, der kleine Junge und der Stadtrat. Auf die Liste kommen auch noch ein Rentner, ein junger Veteran aus dem Irakkrieg und eine Hausfrau Ende Dreißig.
Hm. Eine kranke alte Dame. Ein krankes Kind. Ein Mobbingopfer. Ein Kriegsveteran – traumatisiert vielleicht? Das klingt doch beinahe so, als könnten die alle einen Grund gehabt haben, von hier weg zu wollen. Bei den anderen schreit zwar auf den ersten Blick kein Motiv erkennbar ‘hier!’, aber vielleicht hatten die ja auch eines.

Müsste man mal ein bisschen mehr über die Leute herausfinden. Also aufteilen. Lucy Baker und dieser Nick Morrissey wollen zur örtlichen Zeitung, während Gideon und Ethan sich die Polizeistation zum Ziel nehmen.

In Athol, Massachusetts, wird das Gesetz hauptverantwortlich gehütet von der bereits in dem Zeitungsartikel namentlich erwähnten Ethel Reikveld. Die Polizeichefin ist nicht mehr jung, aber auch nicht alt, und ziemlich ruppig. Oder zumindest mal so überhaupt nicht in der Stimmung für Blödsinn.
Gideon tischt ihr ein Meisterwerk von Ausrede auf: Sein Neffe habe mit Donnie Bridger in der Armee gedient und sei vor kurzem verstorben, habe Donnie aber noch etwas geben wollen, und das wolle Gideon jetzt für ihn übernehmen. Schon echt faszinierend, was dem Rettungssanitäter auf die Schnelle an Stories einfällt, und an einigermaßen glaubwürdigen noch dazu.

Zumindest die Polizistin glaubt die Ausrede – oder lässt sich jedenfalls nicht anmerken, falls nicht. Vielleicht hat sie aber auch einfach zu viel Wut im Bauch, um den Bullshit als solchen zu erkennen. Denn wütend ist Reikveld. Ärgerlich wegen des Spinners mit dem Aluhut, der so nervig-süffisante Fragen gestellt hat. Aufgebracht über die Banden drüben aus New Hampshire, die ständig über die Staatsgrenze gefahren kommen und hier Schießereien veranstalten. Genervt von der Politik und von Leuten, die Politik machen. Vom Wahlkampf und den Kandidaten, Trump ebenso wie Hillary.
Und sie hat offensichtlich ein dickes Fell. Im Büro der Polizeichefin hängt ein großes, unübersehbares ‘Nicht Rauchen’-Schild, aber Chief Reikveld tut es trotzdem. Als Ethan, der seine eigene Zigarette unangezündet zwischen den Fingern herumwandern lässt, der Polizistin einen ungläubig-amüsierten Blick zuwirft, schnaubt die nur gereizt. “Mir doch egal! Und wem es nicht passt, der soll kacken gehen!”

Neben einer geballten Ladung Ärger-Laune vor den Latz geknallt bekommen die beiden Jäger aber auch Infos von Reikveld. Dass Stadtrat O’Donnell ein Arsch und ein Grabscher war, zum Beispiel, und dass er Bordelle besucht habe, in denen Minderjährige arbeiteten. Dass das Verschwinden der 17-jährigen Alison vermutlich auf Weglaufen zurückzuführen sei. Dass das mit den Fällen von Verschwinden vor ungefähr zwei Monaten angefangen hat. Und dass die Familien sämtlicher Verschwundener sich auffällig wenig Sorgen gemacht und auffällig wenig Hilfsbereitschaft gezeigt haben. Es schien allen ziemlich gleichgültig zu sein, dass da Angehörige spurlos verschwunden waren.

Die anderen beiden haben indessen bei der Zeitung natürlich auch Dinge herausgefunden, erfahren Ethan und Gideon kurze Zeit später. Das mit dem Zeitraum von zwei Monaten nämlich, und dass die alte Mrs Larkin der erste Fall war. Donnie Bridger, der Veteran, hat mal ein Interview gegeben, wollte aber ansonsten mit der Presse nichts zu tun haben. Stadtrat O’Donnell ist auch der Presse unangenehm aufgefallen; bei der Zeitung vermutet man, dass er vielleicht in illegale Geschäfte verwickelt gewesen sein könnte. Und auch von der waffenschmuggelnden Gang aus New Hampshire haben Lucy und Nick zu hören bekommen.

Gemeinsam grübeln die Jäger an der Sache herum, nachdem sie einander auf den neuesten Stand gebracht haben.
“Wirklich Feen?” mutmaßt Ethan. “Und Familien wissen’s?” Denn wenn die Verwandtschaft tatsächlich so unhilfreich war, wie Chief Reikveld gesagt hat, dann ist es ja vielleicht echt möglich, dass die bescheid wussten.
Logischer nächster Schritt: mit den Leuten reden. Immer ein Jäger pro Familie, spart Zeit.

Ethan nimmt sich die Golightlys vor, die Angehörigen der jungen Alison. Deren Tagebuch ist immerhin ein glaubwürdiger Aufhänger.
Die Tür wird ihm von einem jungen Mädchen geöffnet, dreizehn vielleicht, oder vierzehn. “Miss Golightly?”
Das Mädchen ist tatsächlich Alisons Schwester, Tara, und sie ist allein zuhause, die Eltern nicht da. Oh. Ethan hatte eigentlich versuchen wollen, mit den Leuten in Gespräch zu kommen und wenn möglich zu fragen, ob er sich vielleicht mal Alisons Zimmer ansehen dürfte. Aber so? Ähm.
Also stellt er sich nur etwas unbeholfen vor und erzählt von dem Tagebuch. Ja, sagt Tara, es stimmt, Alison sei in der Schule übel gemobbt worden. Sie, Tara, hätte sich das nie gefallen lassen, sondern die Mobber einfach verprügelt. “Aber Alison war da anders. Die hat das einfach hingenommen. Ich habe in ihrem Computer nachgeguckt – sie hat recherchiert, wie man sich am besten umbringt!”
Ethan ist das ‘war’ nicht entgangen.
“Meinst, sie hat?” Aber dafür ist die Kleine eigentlich nicht bestürzt genug. Tara wirkt sogar ziemlich vergnügt, um genau zu sein.
“Ich meine, sie hat einen besseren Ort gefunden. Glauben Sie an Magie, Mister?”
Bei dieser Frage bedenkt Ethan das Mädchen einen Moment lang mit einem Stirnrunzeln, ehe er nickt. “Mmhmm.”
Tara nickt ebenfalls, scheint dann zu einer Entscheidung zu kommen. “Eine Sekunde.”
Sie schließt die Tür und lässt Ethan draußen stehen, aber kurze Zeit darauf kommt sie zurück und drückt ihm einen Flugzettel in die Hand. Dunkelgrüne, keltisch angehauchte Schrift auf heller grünem Papier, Fotos in auf alt gemachten Sepiatönen. “O’Finn’s Magical Emporium”.
Interessiert hebt Ethan eine Augenbraue. “Was das?”
“Sollten Sie sich vielleicht mal ansehen. Alison hat auch an Magie geglaubt. Und das hier lag bei ihren Sachen.”
Sieh an. “Okay”, erwidert Ethan.“Danke dir.” Er schenkt der Kleinen ein schmales Lächeln und deutet dann mit dem Kinn an ihr vorbei in den Flur des Hauses. “Weißt du, wann deine E–”
“Was geht hier vor? Wer sind Sie? Tara, wer ist dieser Mann? Warum hast du ihm aufgemacht?”
Oh. Genau jetzt. Extrem schlechtes Timing.
“Mr Gale hier interessiert sich für Alison, Mum.”
Ethan hebt schnell die Hand zu einem Gruß. “Ähm. Tag.”
Drecksmist. Das plötzliche Auftauchen der Mutter hat Ethans sorgfältig vorformulierte Erklärung komplett aus seinem Gehirn geblasen. Er murmelt etwas von dem Tagebuch, das er gefunden hat und wo, verhaspelt sich aber und druckst ziemlich hilflos herum. Zum Glück sind wenigstens die verheilenden Reste seiner Verletzungen aus Wyoming alle unter Kleidung, genauso wie der Stüpp-Biss. Macht aber keinen Unterschied, denn Mrs Golightly ist nicht überzeugt. So überhaupt nicht überzeugt, um genau zu sein. Mit einem verlegenen “Dachte, Sie sollten das haben” drückt Ethan ihr das Tagebuch in die Hand und verzieht sich, ehe die empörte Mutter die Polizei rufen kann.

Über die anderen Verschwundenen ist in der Zwischenzeit folgendes herausgekommen: Denise, die Frau des Veteranen Donnie Bridger, ist schwanger. Sie wollte das Kind eigentlich nicht, klang unterschwellig so, als habe sie Angst vor ihrem unter PTSD leidenden Mann (auch wenn sie das Wort ‘gewalttätig’ nicht in den Mund nahm) und schien über sein Verschwinden nicht sonderlich unglücklich, erzählt Gideon.

Der Sohn des Stadtrats war nicht gerade überrascht, dass sein Vater verschwunden ist, berichten Nick und Lucy. Er – also der Stadtrat, nicht der Sohn – habe seine Frau mit einer polnischen Studentin betrogen, und O’Donnells Sekretärin fand ihren Boss sehr anstrengend. Der habe sie nur zum Ansehen und Betatschen eingestellt. Gah. Sehr angenehmer Zeitgenosse.

Jeweils gemeinsam besuchen sie die beiden letzten Familien. Kate McNamara war depressiv, stellt sich heraus, aber auch hier sind die Angehörigen nicht sonderlich besorgt über deren Verschwinden. “Wird wohl die Nase voll gehabt haben”, ist die einhellige Überzeugung von Mann und Schwiegereltern. Und Ivan Hockstetter, der Rentner, war so der Typ, der den ganzen Tag am Fenster hängt und alle nur ankeift. Seine Tochter tut schwer besorgt, aber es ist ihr ganz deutlich anzumerken, dass die Sorge nur gespielt und sie herzlich froh ist, den alten Tyrannen los zu sein.
Also gut. Scheint, als sei dieser Flyer von Tara Golightly der nächste logische Anhaltspunkt.

O’Finns Magical Emporium liegt in einer schmalen, versteckten Seitengasse im alten Stadtkern. Es geht ein paar Stufen hinunter, und durch die staubigen Schaufenster ist von dem Inneren des Ladens nicht sehr viel zu erkennen. Ein kleines Glöckchen klingelt fröhlich, als sie die Ladentür öffnen, und aus einem Hinterzimmer ertönt eine Stimme. “Ich komme sofort!”
Das Ladenlokal wirkt von innen deutlich größer als alles, was man von außen hatte erwarten können. Ziemlich vollgestopft trotzdem, und es herrscht ein charmantes Chaos, in dem die Mischung aus Antiquitäten und Büchern den Eindruck erweckt, es gebe nichts, was man hier nicht finden könnte.
Während die Jäger sich noch neugierig umsehen, betritt der Ladenbesitzer den Verkaufsraum, ein ziemlich kleiner Mann unbestimmbaren Alters mit irisch-roten Haaren und gekleidet in einen dunkelgrünen Cordanzug. Leutselig stellt der Kerl sich als “Finley O’Finn, Eigner” vor und strahlt seine Besucher reihum an. “Was kann ich für Sie tun, meine Herrschaften?”
“Das ist ja sehr spannend alles”, sagt Gideon aufgeräumt mit einem interessierten Blick umher, “wie lange gibt es den Laden hier denn schon? Der ist mir bisher noch nie aufgefallen.” “Oh, schon laaaaange”, antwortet O’Finn gedehnt, “schon ganz lange.”
Ethan unterdrückt ein sarkastisches Schnauben. Er hat keinerlei Beweis dafür, aber sein Instinkt schreit gerade ‘seit ein paar Wochen schon ewig’. Heh. Ja klar.

Finley O’Finn redet gerne. Sehr gerne. Und viel. Vermutlich hilft das beim Verkaufen. Oder er hört sich einfach selbst gerne beim Reden zu. Er sei früher Bühnenmagier gewesen, erzählt er, aber seine magischen Gegenstände kämen aus allen möglichen Quellen.
Nick Morrissey interessiert sich für ein Pack besonders hübscher Pokerkarten, zu denen der Ladenbesitzer eine Geschichte über einen Pokerspieler erzählt, der seine Seele vom Teufel zurückgewinnt. Morrissey hört sehr interessiert zu und kauft die Karten schließlich tatsächlich.
Ethan kauft auch Karten. Allerdings keine zum Spielen, sondern ein altes Set Landkarten aus den 1950ern. Praktisch ist mit denen zwar nicht mehr viel anzufangen, aber sie kosten nur ein paar Dollar, und an der Wand machen die sich bestimmt super. Ihn labert O’Finn auch nicht so zu wie den Journalisten. Vielleicht hat er gemerkt, dass das für Ethan eher ein Argument gegen einen Kauf wäre.

Lucy erkundigt sich, ob der Ex-Magier auch seltene Sachen im Angebot habe. So… – sie wackelt vielsagend mit den Augenbrauen – besondere. Aber natürlich, versichert O’Finn ihr sofort, jede Menge! Er zeigt der jungen Frau einen Kompass, der immer in die Richtung der ‘wahren Heimat’ desjenigen zeigen soll, der das Ding in der Hand hält. Und wirklich schlägt die Nadel in unterschiedliche Richtungen aus: ungefähr nach Norden für Lucy, direkt nach Osten für Gideon. Ethan hält sich raus aus der Sache. Er weiß nicht so genau, ob das Ding für ihn eher Richtung Norden oder eher Richtung Südwesten ausschlagen würde, aber macht im Endeffekt auch keinen Unterschied.
Den Kompass will Lucy nicht kaufen, aber sie fragt dann noch nach etwas, mit dem man Leute ausfindig machen kann. “Aber selbstverständlich”, strahlt O’Finn wieder und führt die Jägerin in eine Ecke des Ladens, wo eine alte Druckerpresse steht. Man müsse nur den Namen des Gesuchten setzen, dann werde die Presse etwas Nützliches über die Person ausdrucken. Aber es ist eben auch eine Druckerpresse: groß und sperrig, und dazu ist diese spezielle Druckerpresse noch selten und daher teuer. Und außerdem ist es eine chinesische Druckerpresse mit chinesischen Schriftzeichen, in denen man den gesuchten Namen setzen soll. Lucy verzichtet dankend.

Aber jetzt hat doch Ethan selbst doch auch nochmal ein Anliegen. Nicht, dass er wirklich denkt, er werde hier was finden, aber ein Nein hat er, ein Ja kann er kriegen, wie seine Oma immer zu sagen pflegte. Also fragt er nach irgendwas, das gegen Flüche hilft. Daraufhin fördert O’Finn eine Halskette mit einem vierblättrigen Kleeblatt aus Gold zutage und bietet es ihm an. Aber das Ding soll nur vorbeugend gegen Flüche wirken, die neu gegen einen gesprochen werden, und auch das nur dann, wenn man Ire ist oder wenigstens irische Vorfahren hat. Da Ethan seinen Fluch ja nun schon seit acht Jahren mit sich herumschleppt und die Gales außerdem, soweit er weiß, Ende des achtzehnten oder Anfang des neunzehnten Jahrhunderts aus England eingewandert sind, rührt er das Kleeblatt nicht an. Und außerdem trägt er schon einen Anhänger, herzlichen Dank. Nick hingegen grinst. Klar, der heißt ja auch Morrissey, und das ist ein irischer Name. Aber kaufen tut er den Fluchschutz trotzdem nicht.

Als dann alle Geschäfte getätigt sind oder eben nicht, erklärt Ms. Baker dem Besitzer, dass sie den Hinweis auf seinen Laden von der Schwester einer der Verschwundenen bekommen hätten, und dass die einen Flyer vom Emporium bei ihren Sachen gehabt hätte. Dass sie wegen dieser Fälle in der Stadt seien. Der Ex-Magier nickt und lächelt höflich und erklärt, er helfe eben gerne Leuten, das liege in seiner Natur. “Aber warum wollen Sie das wissen? Warum sind Sie hier?”

“Leuten helfen”, wiederholt Ethan die Formulierung des Iren, aber vermutlich hat das niemand gehört. Denn jetzt übernimmt Gideon. Geht auf den kleinen Mann zu.
Ethan weiß, dass die anderen sich vorher überlegt haben, ob sie hier im Laden nicht auch eine Story von kranken Verwandten erzählen sollten. Als der Bostoner also jetzt auf O’Finn zutritt und zu einer Erklärung ansetzt, wundert Ethan sich nicht. Worüber er sich allerdings wundert, ist die Reaktion des Kerls. Denn der macht einige Schritte zurück hinter die Theke und greift unter den Ladentisch – fühlt der sich von dem großen Afroamerikaner etwa bedroht? Zieht der da etwa gerade eine Schrotflinte? -, aber ehe Ethan etwas sagen, noch sonst irgendwie reagieren kann, macht es leise ‘plopp’, und der rothaarige Mann ist verschwunden.

Was zum…?! Gideon ist am nächsten dran und mit zwei schnellen Schritten hinter dem Tresen. In dem Regal darunter steht eine große, altmodische Schneekugel, in der die Flocken leise rieseln und deren Miniaturhäuser irgendwie nach London aussehen. Nicht ganz, aber schon irgendwie. Wohlweislich fasst der Sanitäter das Ding nicht an – sie sind sich alle sehr sicher, dass es genau dieser Gegenstand war, der O’Finn wegteleportiert hat. Oder in die Kugel hineingezogen, vielleicht? Die Miniaturwelt darin sieht verdächtig so aus, als würden sich Dinge in ihr bewegen. Okay… und wenn O’Finn in diese Feenwelt verschwunden ist, dann die Vermissten wahrscheinlich auch. Und das wiederum heißt, sie müssen hinterher, wenn sie die Leute zurückholen wollen – oder auch nur, wenn sie zumindest herausfinden wollen, was da genau passiert ist. Drecksmist.

Erstmal fallen Nick Morrisseys und Lucy Bakers Blicke aber auf einen Goldklumpen von ansehnlicher Größe, der da im hinteren Bereich des Ladens liegt. “Nicht”, warnt Ethan. Eine Fee – oder was auch immer für ein magisches Wesen er sonst sein mag; ein normaler Mensch ist O’Finn mal mit ziemlicher Sicherheit nicht – zu bestehlen, ist keine gute Idee, aber der Reporter steckt das Nugget trotzdem ein. Na wenn er meint.

Okay. Aber dann hilft es wohl alles nichts, dann müssen sie jetzt wohl wirklich in diese Feenwelt. Ehe aber irgendwer die Schneekugel berührt, hebt Ethan die Hand. “Moment noch.”
Hier im Laden gibt es zwar so gut wie kein Netz, aber draußen vor der Tür. Er will – er muss – Sam erst bescheid sagen. Nur für den Fall, dass… naja. Für den Fall.
Er hat seine eilige Nachricht so gut wie fertig – keine Zeit für ewiges Löschen und Neuformulieren diesmal, mit dem unkoordinierten Text muss Sam jetzt leben -, da tritt Gideon an seine Seite. “Wer ist die Kavallerie?”
Ethan sieht vom Bildschirm auf und den Bostoner etwas verwirrt an. “Hmmm?” “Wem hast du Bescheid gesagt, wo wir hingehen?” erläutert der Sanitäter. Ach so. Ja klar. Duh. “Sam.”
Und wenn sie wirklich nicht zurück finden, und Sam kommt ihnen hinterher und kann dann auch nicht wieder raus… Drecksmist. Aber sie muss es erfahren. Das ist nicht mal der Hauch einer Frage.

Drinnen beim Tresen fassen sie einander bei den Händen, dann berühren sie die Schneekugel. Der Laden um sie herum fängt an, sich zu drehen, langsam erst, dann immer schneller, wird größer um sie herum, oder vielleicht schrumpfen auch die Jäger, und die Schneekugel wird größer, füllt bald ihr ganzes Gesichtsfeld aus, und die London-artige Stadt kommt näher, näher…

Und dann sind sie in einer anderen Welt. Es ist Abend, früher Abend, wie es scheint. Alle Farben wirken etwas blasser, sepia-artig wie alte Fotos, aber nicht ganz einfarbig. Nur… abgetönt. Die Straße, in der sie stehen, sieht aus wie aus einem Sherlock-Holmes-Film, und zwar nicht wie diese neue Serie, die in der heutigen Zeit spielt. Kopfsteinpflaster. Gaslaternen. Pferdekutschen. Altmodische Läden. Die Leute in viktorianisch anmutender Kleidung. Und ja, auch Ethan und seine Begleiter haben dieselbe Art von altmodischen Sachen an. Lucy Baker trägt Schürstiefel, ein knöchellanges Kleid mit – wie heißen diese Polster hinten im Kreuz, die man an den Kleidern in Filmen aus der Zeit immer sieht? So ein Ding halt – und ein kleines, fesches Hütchen auf den kunstvoll hochgesteckten Haaren. Nick Morrissey hat einen Gehrock an, während Gideon und Ethan selbst Arbeiterkleidung tragen. Leo DiCaprio und Henry Thomas in Gangs of New York, so der Stil ungefähr.

Nichts aus Eisen ist mit hierher gekommen, stellen die vier Jäger einen Moment später fest. Das spricht für die Theorie mit der Feenwelt. Die Schneekugel – oder irgendwas anderes, das so aussieht, als könnte es sie nach Hause bringen – ist natürlich weit und breit nicht zu sehen. War so klar.
Die Menschen hier sehen auch seltsam aus, teilweise. In dieser ohnehin schon sepiafarbenen, abgetönten Welt bestehen manche von ihnen tatsächlich nur aus Grautönen, andere hingegen aus normalen, kräftigen Farben, sind richtig bunt und kontrastreich, und alles dazwischen gibt es auch. Wie eine Art Pleasantville, nur andersrum, kommt es Ethan vor. “Schillernde Persönlichkeiten”, murmelt Lucy, während sie ein besonders technicolor-grelles Pärchen beim Vorbeigehen mustert.

Das Geräusch rennender Schritte aus einer Seitengasse lässt die Gruppe aufhorchen. Es ist ein buntes junges Mädchen, das panisch angerannt kommt, verfolgt von zwei bedrohlich aussehenden Männern in schwarzweiß. ‘Schergen’, fährt es Ethan durch den Kopf. ‘Skript.’ Er könnte gar nicht sagen, von welchem Film genau: In From Hell zum Beispiel gibt es keine Szene, wo eine Frau vor zwei Typen davonläuft, auch in den ganzen Sherlock-Holmes-Verfilmungen nicht so richtig, aber trotzdem hat er das ganz, ganz starke Gefühl, einen Film zu sehen. Nein, sich selbst in einem Film zu befinden. Und er kennt das fliehende Mädchen. Nicht persönlich, natürlich, aber vom Foto. Das ist Alison Golightly. Die anderen haben sie auch erkannt. “Alison, zu mir!” ruft Lucy und fängt die Kleine auf, während Ethan und Gideon sich schon ihren Verfolgern in den Weg stellen. Gegen die beiden erfahrenen Jäger können die grauen Gestalten ziemlich wenig ausrichten, und nachdem sie sich wieder aufgerappelt haben, rennen die Kerle eiligst davon.

Während des zugegebenermaßen kurzen Kampfes hat Morrissey sich vornehm zurückgehalten, was ihm einen kurzen, etwas giftigen Blick von Ms. Baker einbringt. Jetzt kümmert die junge Jägerin sich um das Mädchen, das ihre Retter etwas verwirrt anschaut. “Wer sind Sie? Woher kennen Sie meinen Namen?”
“Athol”, erläutert Ethan. “Vermisst.”
Die Aussage überrascht Alison etwas, weil sie wohl nicht damit gerechnet hatte, dass ihr tatsächlich jemand in diese Welt hier folgen würde, aber sie nickt. Und erzählt dann, auf ihre Verfolger hin angesprochen, dass die beiden Schläger zu einem Zauberer namens Hockstetter gehörten, der Alison unbedingt heiraten wolle und der schon mehrmals seine Handlanger oder auch unheimliche Monster auf sie gehetzt habe, um sie einzuschüchtern beziehungsweise zu ihm zu bringen.
Hockstetter? Der alte, griesgrämige Rentner ist hier ein Zauberer? Na ganz spitzenmäßig.

“Wir sollten wo hingehen, wo man sich besser unterhalten kann”, wirft Lucy jetzt ein, und Alison erklärt, sie wisse da was. Die Straßen sind auch um diese Uhrzeit ziemlich belebt, und je weiter sie kommen, desto mehr ähnelt die Kleidung der Bevölkerung der Arbeiterkleidung, die Ethan und Gideon tragen, und weniger den vornehmen Sachen der beiden anderen. Teils mit einfachen Pressen gedruckte, teils von Hand gezeichnete Plakate zieren die Mauern. Ein Motiv davon sticht Ethan besonders ins Auge. “O’Donnell muss Bürgermeister werden!!” O’Donnell, ja? Interessant. Er deutet auf eines der Wahlplakate, aber die anderen haben es auch schon bemerkt.

Ganz in der Nähe des Hafens – zumindest kann Ethan Möwengeschrei hören und meint, den typischen Salzgeruch in der Nase zu spüren, auch wenn er das Meer nicht direkt sehen kann – führt Alison die Jäger in eine Kneipe. Und nicht nur in irgendeine eine Kneipe. Es ist eine waschechte, filmreife Piratentaverne. Ethan erwartet förmlich, an einem der Tische Captain Jack Sparrow sitzen zu sehen.

Kaum dass sie sitzen, kommt eine in ein typisches Rüschenmieder, langen Rock und Stiefel gekleidete Kellnerin an ihren Tisch und stellt jedem einen Krug Bier hin. Ethan will noch abwehrend die Hand heben, aber die junge Frau funkelt ihn an. “Wer kein Bier vor sich stehen hat, kann gleich wieder gehen!” Ethan zieht eine Grimasse und nickt, wendet sich aber sofort an die anderen, als die Bedienung gegangen ist. “Nicht trinken. Feenwelt: unschön.” Auch nichts essen. Vielleicht ist die Vorsicht fehl am Platz, und es würde gar nichts passieren, aber Ethan hat zu oft Geschichten gehört von Menschen, die im Feenreich etwas zu sich genommen haben und dann entweder gar nicht mehr nach Hause kamen oder hundert Jahre, nachdem sie aufgebrochen waren, und all solche Dinge. Uh-uh. Nicht, solange er er das vermeiden kann, herzlichen Dank. Lieber ein bisschen paranoid sein.

Während sie sich also an ihren Bierkrügen festhalten und nur so tun, als würden sie ab und zu mal einen Schluck nehmen, erzählt Alison Näheres über ihre Zeit hier. Dieser Ort scheint Finley O’Finns ganz persönliche, private kleine Welt zu sein. Offenbar holt er Menschen hierher, um sich von ihrer Lebenskraft und Kreativität und Vorstellungskraft zu ernähren, und je mehr er sich davon nimmt, um so blasser werden die Leute. Und es ist wohl eine Geschichtenwelt. Das Leben hier gleicht einer Geschichte, und die Geschichte muss irgendwie enden. Mit einer Hochzeit. Mit einer Hinrichtung. Oder mit einer Ehrung.

Nach den anderen Verschwundenen fragen die Jäger natürlich auch, aber Alison kennt längst nicht alle: Der kleine Jake Reilly und die Hausfrau Kate McNamara sagen dem Mädchen nichts, aber Athol hat immerhin mehr als 10.000 Einwohner, da kann nicht jeder jeden kennen. Aber begegnet ist sie schon Mara Larkin (die alte Dame habe hier eine Bäckerei, erzählt Alison) und dem Soldaten Donnie Bridger. Der habe sie schon mal vor Hockstetters Monstern gerettet, aber der Arme habe sein Gedächtnis verloren. Die junge Frau schaut sehr verträumt drein, als sie das sagt. Sieh an.
Alle Bewohner dieser Taschenwelt seien von O’Finn hierher geholt worden, damit er sich von deren Lebenskraft ernähren kann, erklärt Alison dann weiter. Nicht alle aus Athol, und nicht alle aus dem 21. Jahrhundert – manche Bewohner sind offenbar schon sehr lange hier -, aber alle sind Menschen und kamen ursprünglich aus der echten Welt.

Sich nach Hause schicken zu lassen, wenn man das unbedingt will, ist laut Alison wohl schon möglich. Anscheinend kann das aber nur der Lord of the Green. Und der taucht nur dann auf, wenn es um eine Eheschließung, Ehrung oder Hinrichtung geht, sagt ihre junge Bekannte. Und nicht nur er. Auch das ganze Town Green, der Stadtanger, wird überhaupt erst nur zu diesem Zweck sichtbar. Besteht gerade keiner dieser Anlässe, dann kann man den Anger gar nicht finden. Na ganz spitzenmäßig.

“Eine Hochzeit, ja?” wendet Gideon sich an Ethan. “Wollt ihr nicht zum Schein so tun, als ob ihr heiraten wollt, Lucy und du?”
“Bist du wahnsinnig?” fährt Lucy auf. Ethan hingegen schüttelt brüsk den Kopf und bedenkt Gideon mit einem langen, aufgebrachten Blick. Der weiß doch ganz genau, dass– Okay, nein. Vielleicht weiß er nicht. Dimmitt ist ein halbes Jahr her. Oder vielleicht denkt Gideon auch, so zum Schein und für die gute Sache, um hier rauszukommen, sei es kein Problem. Wäre es aber doch. Allein der Gedanke fühlt sich unendlich falsch an. Selbst, wenn es nur zum Schein wäre: nein. Einfach nein.
“Willst du etwa auch zum Schein heiraten?” fragt Lucy jetzt den Journalisten. Der legt den Kopf schief und sieht die junge Frau amüsiert an. “Ich bin jedenfalls nicht vergeben”, erklärt er in kokettierendem Tonfall, was ein heftiges “Das wollte ich gar nicht wissen!” von Lucy zur Folge hat.
“Wir sollten uns mal unterhalten”, wechselt die Jägerin dann schnell das Thema in Richtung Alison, “so von Frau zu Frau. Das mit dem Mobbing geht gar nicht.”
Alison lächelt verlegen und deutet zu einer Frau an einem der anderen Tische hinüber. “Das hat Maggie – Captain Quincey – auch schon gesagt.”
Captain Quincey, Mitte 30 und in Piratenkleidung gewandet, ist noch überhaupt nicht verblasst, sondern genauso bunt wie die Jäger selbst. Ethan nickt in die Richtung der Piratin. “Neu hier?”
“Nein”, antwortet Alison, “schon ganz lange.” Hm. Okay. Dann hat Quincey vielleicht einfach ganz besonders viel Lebensfreude in sich.
Da fällt Ethan ein… “Grau”, fragt er, “und dann?”
Nach Grau vergehen die Leute irgendwann ganz, erklärt Alison. Das ist ihrer Ansicht nach aber vielleicht gar kein allzu schlechtes Ende. Hah.

Gideon sieht mit einem leichten Kopfschütteln seine Begleiter an, steht dann auf und geht sich in der Kneipe umhören, wie man denn hier überhaupt heiraten kann, wenn man das möchte. Das geht ganz einfach, erfährt er: einfach den Antrag machen, jubeln und das Aufgebot bestellen. Dann zieht man gemeinsam zum Stadtanger. Das wäre ja nun nicht so schwierig. Bloß heiraten kommt eben nicht in Frage, zumindest nicht für Ethan.

Also gut. Dann die Frage erstmal anders angehen. Dass sie hier wieder weg müssen, ist klar. Aber wen sollen sie alles mitnehmen? Da müssen die Jäger nicht lange überlegen. Alle, die gerne zurück wollen. Die alte Mrs. Larkin vermutlich nicht. Und der kleine Jake, wenn sie ihn denn überhaupt finden, vermutlich auch nicht. Aber Alison vielleicht, und Donnie Bridger?
Wobei sie ja immer noch erstmal dieses Town Green finden müssen, wenn sie hier raus wollen. Wenn schon keine Hochzeit, dann vielleicht eine Ehrung? Eine Hinrichtung kommt jedenfalls auch nicht in Frage. Also: Ehrung. O’Donnell macht ja Wahlkampf für die Bürgermeisterwahl. Die muss also irgendwann stattfinden, bloß wann, ist die Frage. Das weiß Alison nur selbst nicht so genau, weil die Zeit in dieser Welt etwas seltsam vergeht. Es ist ja auch immer Abend hier, wie sie erklärt. Aber irgendwann gehen die Trommeln, und dann wird gewählt. Da das hier ja eine Geschichtenwelt ist, wahrscheinlich einfach dann, wenn es von der Geschichte her am besten passt. Und weil das hier eine Geschichtenwelt ist, wird auch Hockstetter, der Zauberer, seine Pläne für eine Hochzeit mit Alison so schnell nicht aufgeben. Diese Befürchtung äußert zumindest das junge Mädchen, und ja, sie möchte gerne mit zurückkommen, da in dieser Welt hier nicht so doch alles nicht so einfach und schön ist, wie sie gedacht hatte.

“Das ist ja wie im kleinen Hobbit hier”, befindet Lucy, “ich will aber keinem Drachen ein Arkenjuwel stehlen!” “Das hat Bilbo auch gesagt”, stimmt Alison der Jägerin sofort zu.
Ethan zieht die Augenbrauen zusammen. Als Junge hat er das Buch gerne und oft gelesen, und die Filme sind auch ziemlich gelungen, aber den Zusammenhang zwischen dem Hobbit und einem alten, griesgrämigen Zauberer, der partout ein Mädchen heiraten will, das gut und gern seine Urenkelin sein könnte, sieht er nun nicht so richtig.

“Wie forcieren wir denn eine Ehrung?” bringt Nick Morrissey das Thema wieder auf den Punkt zurück. “Vielleicht, indem wir eine holde Dame retten?” “Na dann bist du schon mal nicht derjenige, der die Ehrung bekommt!” hält Lucy ihm spitz vor.
“Okay”, wiegelt Nick schnell ab. “Dann werfen wir vielleicht jemanden in den Fluss und retten den?”
Umgehend stellt Alison klar, dass sie schwimmen kann. Lucy ebenfalls. Hmm. “Gideon?”
“Nein”, kontert der Bostoner sofort, “das sind doch alles Archetypen hier. Es muss schon eine Frau gerettet werden.”
Ähm, was? “Ey!” macht Ethan, während Alison den Rettungssanitäter empört anfunkelt. “Wie sexistisch ist das denn bitte?”

Jetzt schüttelt Lucy Baker genervt ihre kastanienbraune Mähne und sieht dem Journalisten direkt in die Augen. “Das ist mir alles zu blöd hier. Morrissey, wollen Sie mich heiraten? Zumindest nur so lange, bis wir hier rauskommen.” „Ich mag Frauen, die schnell auf den Punkt kommen”, erwidert Nick mit einem entwaffnenden Grinsen. „Wie könnte ich auch nein sagen bei einer so bezaubernden Dame und einem so hingebungsvollen Antrag?“

Die ganze Kneipe hat den Wortwechsel mitbekommen. Und bei Morrisseys Antwort fängt die ganze Kneipe laut an zu jubeln. Erst lassen die Gäste die beiden ‚Verlobten’ hochleben – und zwar im wahrsten Sinne, indem ein paar kräftige Piraten (und Piratinnen: Captain Quincey mischt unter anderem auch mit) je ein Stuhlbein packen und Nicks und Lucys Sitzgelegenheiten unter donnerndem ‚Hipp ‚Hipp Hurra’ dreimal in die Luft heben. Der Tavernenwirt spendiert eine Runde für alle auf’s Haus, dann zieht die gesamte Belegschaft mit großem Hallo Richtung Stadtanger. Hoffentlich jedenfalls.

Unterwegs wird der Hochzeitszug immer größer. Die ganze Stadt schließt sich ihnen an, kommt es Ethan vor. Gideon und er werden ziemlich schnell von den beiden anderen getrennt – das Brautpaar wird umschwärmt von einer Traube aus fröhlichen, feiernden Menschen und die beiden Jäger schlicht abgedrängt. Keine Chance, an Lucy und Nick ranzukommen, also müssen Gideon und Ethan ihren Schlachtplan alleine schmieden. Heh. Nicht dass es so viel zu schmieden gäbe. Viel Ruhe haben sie in dem Gedränge nämlich nicht. Wenn O’Finn eine Fee ist, und davon geht Ethan jetzt einfach mal aus, dann muss er sich an seine Versprechen halten und an die Regeln, die er selbst aufgestellt hat. Eisen würde ihn verletzen, aber Eisen haben sie gerade nicht greifbar. Drecksmist. Na, muss irgendwie ohne gehen.
Nur was genau? Sollen sie sich die Leute einfach schnappen? O’Finn zwingen, alle gehen zu lassen, die das wollen? Ihm einen Vertrag aufschwatzen, weil Feen ja Verträge so lieben? Heh. Ja klar. Wenn, dann muss das aber wer anders machen als Ethan.
Es ist keine Zeit für große Pläne. Das Gejubel um sie herum wird lauter: Da vorne ist irgendwas. Schnell einigen die beiden Jäger sich auf die simpelste aller Vorgehensweisen: O’Finn schnappen und solange festhalten, bis er sie gehen lässt.

Das Irgendwas da vorne ist der Stadtanger. Wiese aus etwas grünerem Gras als der Rest dieser abgetönten Welt mit einem Maibaum in der Mitte. Daneben ist eine Art Bühne aufgebaut, und auf dem Podest erscheint, einfach so aus dem Nichts, Finley O’Finn. Oder wie auch immer er sich hier nennen mag. Denn hier ist das kein kurz gewachsener Mensch. Kaum eineinhalb Meter groß, karottenrote Haare, die in alle Richtungen abstehen, Technicolor-grüner Anzug. Leprechaun.

Die Menge klatscht begeistert, als Nick und Lucy auf das Podest steigen und vor den Lord of the Green treten. “Wie schön!” freut der sich. “So neue Neuzugänge wollen schon heiraten! Habt ihr denn auch etwas Neues dabei?”
“Uns selbst!” ruft Nick Morrissey zum lauter werdenden Beifall der Umstehenden.
“Etwas Altes?”
Lucy hebt die Hand, so dass man einen silbernen Ring daran sehen kann. “Den habe ich von meiner Großmutter geerbt!”
“Etwas Geborgtes?”
Da hält Nick mit schelmischem Gesichtsausdruck den Goldklumpen aus dem Laden hoch, was O’Finn mit einem breiten Grinsen quittiert. “Und etwas Blaues?”
Die beiden ‚Verlobten‘ sehen an sich herunter, aber Lucys Kleid ist weinrot und Nicks Gehrock klassisch schwarz, und weit und breit kein Blau. Ehe der Leprechaun näher darauf eingehen kann, bekommt Lucy von irgendwo aus der Menge schnell einen blauen Seidenschal gereicht, den sie mit einem dankbaren Winken und Lächeln zu der Spenderin umlegt.

Während all dessen hat Ethan sich hinter die Bühne geschlichen. Jetzt springt er mit einem schnellen Satz auf die Bretter und packt O’Finn von hinten, während Gideon von seitwärts kommt und dem Feenmann sein Edelstahl-Skalpell an die Kehle hält. “Du lässt jetzt alle, die nicht freiwillig hier sind, gehen!” zischt der Bostoner, aber sich irgendwie davon beeindrucken lässt der Leprechaun sich so überhaupt nicht. “Was soll das? Das ist eine Hochzeit hier!”

Unten im Publikum macht sich Unruhe breit. Besonders finsteres Gemurmel kommt von einem Pulk Leuten nahe der Bühne, in dem Ethan ein bekanntes Gesicht bemerkt. Also kein persönlich bekanntes Gesicht wieder mal, aber das ist Donnie Bridger, der Ex-Soldat. Ethan muss sich auf O’Finn konzentrieren, aber im Hinterkopf merkt er sich Bridgers Position in der Menge. Drecksmist. Der Typ bewegt sich! Kommt auf die Bühne gesprungen, auf Gideon zu, und Ethan kann dem Sanitäter nicht beistehen, weil er den Leprechaun festhalten muss! Bridger packt den anderen Jäger von hinten, stößt ihn mit einem wilden Aufschrei von O’Finn weg. Macht mit wutverzerrtem Gesicht Anstalten, nochmals zuzuschlagen – oder Schlimmeres. Jetzt ist Ethan doch drauf und dran, in den sauren Apfel zu beißen und den Feenmann loszulassen, Gideon zu Hilfe zu kommen, aber da kommt der junge Ex-Soldat schon wieder zur Besinnung. Er schnauft nur erregt und hält den Rettungssanitäter fest am Schlafittchen gepackt.
“Ruhig”, macht Ethan. Er weiß selbst nicht so genau, ob in Richtung Donnie oder in Richtung Gideon, der grollt, aber sein Skalpell sinken lässt. “Ganz ruhig.”
Der Feenmann – Feer? Feerich? – wendet sich mit einem etwas zivilisierteren Ausdruck in den Augen an Ethan, nachdem er zuvor erst Gideon mit einem bitterbösen Blick durchbohrt hat. “Darf ich das jetzt hier vielleicht mal fertig machen?”
“Lass uns gehen”, brummt Ethan, aber der Leprechaun lächelt ihn nur gewinnend an. “Komm schon. Geht von der Bühne, ich führe die Zeremonie zuende, und dann reden wir über alles, ja?”

Hah. Das hätte der wohl gerne. Wenn sie auch nur einen Schritt von dem Podest tun, ist der doch wieder weg, wie im Laden auch schon!
“Bitte”, versucht O’Finn es jetzt mit Hundeblick und einschmeichelnder Stimme, “ich will doch nur diese beiden Leutchen hier verheiraten. Die Geschichte will es so!”
Die Geschichte wäre doch anders viel spannender, aber das sagt Ethan nicht. Er seufzt und lockert seinen Griff, hält den Leprechaun aber weiterhin zumindest ansatzweise fest. Macht dann eine auffordernde Kinnbewegung in Richtung Brautpaar.
Der Leprechaun lächelt selig und fährt mit seinem Sermon fort. Heute hier zusammengekommen, Bund der Liebe, Kraft seiner Position und so weiter. Ein paar endlos lange, salbungsvolle Sätze später kommt er zum Schluss. “… erkläre ich euch zu Mann und Frau. Sie dürfen die Braut jetzt küssen!”
Das lässt Morrissey sich nicht zweimal sagen. Er beugt sich zu Lucy und bedenkt sie mit einem hingebungsvollen Kuss, den die junge Jägerin erst sichtlich widerwillig und offenbar nur des Anscheins wegen über sich ergehen lässt, dann aber nach dem ersten Zögern doch auftaut und den Kuss ebenso stürmisch erwidert.

Zum lauten Jubel des Publikums wirft O’ Finn grünen Glitter – vierblättrige Kleeblätter, erkennt Ethan – über die Brautleute, der in Lucys Haar und auf ihrer Kleidung hängen bleibt, von Nick aber komplett abprallt. Die Jägerin runzelt die Stirn, als sie das bemerkt, und macht ein enttäuschtes Gesicht. Ethan versteht auch nicht so recht, warum die glitzernden Plättchen Morrissey so vollständig verfehlen, aber hey. Vielleicht was an seiner Kleidung oder so. Hm. Nein. Eher nicht. Okay, gelogen. Ethan versteht es gar nicht.

“So”, macht O’Finn, als die Ehe geschlossen ist, “können wir jetzt vielleicht reden wie zivilisierte Leute? Das ist ja kein Zustand hier, also wirklich!”
“Okay”, brummt Ethan. “Zivilisiert.” Er lässt den Leprechaun los, bleibt aber wachsam und hält sich bereit, jederzeit wieder zuzupacken, falls der Kerl Anstalten machen sollte, Blödsinn anzustellen. “Lass uns gehen”, wiederholt er dann, etwas ruhiger als zuvor. “Und alle, die wollen. Versprich es.”

Ethan wirft einen Blick zu den Leuten auf und vor der Bühne. “Mit zurück?” fragt er Donnie Bridger, und der Ex-Soldat überlegt einen Moment lang, während die junge Alison ein hoffnungsvolles Gesicht macht. Dann nickt der junge Mann. “Ich habe gedacht, ich würde hier Frieden finden”, sagt er. “Habe ich aber nicht. Und ich will bei Alison bleiben” – hier strahlt die Kleine förmlich auf – “also ja. Ich komme mit.” Ethan erwidert sein Nicken. Dass in Athol eine schwangere Ehefrau auf Bridger wartet – oder besser eben nicht wartet – und dass Alison so um die acht bis zehn Jahre jünger sein dürfte als Donnie, das sind zwei Dosen Würmer, über die Ethan sich jetzt besser nicht den Kopf zerbrechen will.

“Wartet! Wartet! Ich komme auch mit!!” Eine Stimme aus dem Publikum, von einem rundlichen Mann mittleren Alters in einem vornehmen Gehrock und Zylinder. Stadtrat O’Donnell. Ach sieh mal einer an. Ethan hebt eine Augenbraue und deutet auf das ‚O’Donnell for Mayor’-Plakat, das am Rand des Town Green unübersehbar am Zaun prangt. “Nicht?”
“Bah”, spuckt der Politiker verächtlich. “Hier muss ich gegen diese alte Schabracke Mara Larkin antreten. Zuhause bin ich schon Stadtrat.”
“Ich seh mir das auch mal an”, tönt eine Frauenstimme fest. “Hier wird es auf Dauer langweilig.” Ah. Captain Quincey. Die ja eigentlich aus dem siebzehnten Jahrhundert oder wann stammt. Wer weiß, ob die überhaupt mitkommen kann. Aber wenn sie es versuchen will, warum nicht. Bei Artie ging es ja auch.
“Also. Lässt du uns jetzt gehen?” wendet Ethan sich wieder an den Lord of the Green. “Ja, ja, ja”, murrt der, “haut nur ab. Ich will euch ohnehin nicht hier haben. Vor allem den Oger da” – er deutet auf Gideon – “nicht!”
“Nichts für ungut”, murmelt Ethan. “Will nur heim. Wollen alle nur heim.”
“Ja, ja, ja”, schnappt O’Finn wieder. “Oger. Haut schon ab. Husch husch.”
Der Leprechaun tut irgendwas, gemurmelte Worte und tanzende Fingerspitzen. Daraufhin fangen die Bänder des Maibaums zu flattern, dann sich zu drehen. Werden bunt und bilden eine Art Korridor, auf den der Feenmann deutet. “Husch, ab.”

Als sie in den Bänderkorridor treten, verschwimmt die Welt um sie her. Wird wieder kleiner, wie vorhin auch schon, und der Maibaum das Zentrum allen Seins. Und dann stehen sie wieder in O’Finns Magical Emporium – oder besser: sie stehen da, wo O’Finns Magical Emporium zuvor noch war. Nur jetzt ist das Ladenlokal völlig leer, und es sieht aus, als stünde es schon sehr lange so leer. Eine dicke Staubschicht bedeckt den Boden und das Gerümpel, das herumsteht.

Es sind alle wieder zurück, die das wollten: Maggie Quincey ebenso wie die drei Vermissten aus der Jetztzeit. Während die anderen Geretteten es nicht gar so eilig haben, setzt Stadtrat O’Donnell sich sehr schnell ab. Hat für die vier Jäger auch kaum ein Wort des Abschieds oder gar Dankes übrig. Aber okay. Das ist so ein Typ, bei dem Ethan das gar nicht wundert.

Ihre Einkäufe aus dem Laden – das Pokerdeck und der Landkartensatz – sind tatsächlich noch vorhanden. Erstaunlich. Da hätte Ethan sich jetzt auch anderes vorstellen können. Aber zu Ethans Verwunderung und Nicks Freude ist ja sogar der Goldklumpen noch da, den der Reporter aus dem Emporium hat mitgehen lassen. Wobei da Ethan dem Frieden so gar nicht traut. Leprechaun und Gold? Hah.

Das blaue Tuch, das Lucy in der Feenwelt bekommen hat, trägt die junge Jägerin noch immer um den Hals, auch wenn sie alle wieder ihre normalen Sachen anhaben. Mit einem Grinsen und der Bemerkung, immerhin sei man ja verheiratet, lädt Morrissey seine ‚Frau’ noch zu einem Kaffee ein, was diese mit einem ähnlich schelmischen Grinsen annimmt.

Captain Quinceys Kleider haben sich zu moderner Seemannskleidung gewandelt. Überhaupt sieht die Frau so aus, als werde sie ziemlich problemlos hier in der neuen Zeit zurechtkommen. Sie schnappt sich Alison und erklärt im Weggehen, mit dem Mobbing in der Schule sei jetzt ein für alle Mal Schluss.

Donnie Bridger sieht dem jungen Mädchen bedauernd hinterher, aber die beiden haben Adressen ausgetauscht. Die werden sich schon finden, wenn das wirklich etwas Ernsteres werden sollte. Fürs Erste gibt Gideon dem traumatisierten Soldaten einige gute Ratschläge sowie ein paar Adressen für PTSD-Therapie mit auf den Weg.

Dann stehen die Jäger wieder alleine vor dem ehemaligen Antiquitätengeschäft, und Ethan kommt endlich dazu, mal auf sein Handy zu schauen. Mit Schrecken stellt er fest, dass hier draußen drei ganze Tage vergangen sind, während es in der Feenwelt nur ein paar Stunden waren. Drecksmist. Was, wenn Sam sich in der Zwischenzeit auf die Suche gemacht hat? Oder – eine Sekunde lang zuckt Ethan der panische Gedanke durch den Kopf, ehe er ihn als albern von sich schiebt – die Schneekugel sogar schon angefasst hat, selbst auch in O’Finns Welt gelandet ist, die anderen Jäger aber verpasst hat und nun selbst dort feststeckt? Albern mag der Gedanke sein, aber so schnell wird Ethan ihn trotz allen Beseiteschiebens nicht los. Verdammt. Er wählt Sams Nummer, bekommt aber nur die Mailbox. Dann eben eine E-Mail. Das, und die Hoffnung, sie später zu erreichen. Mehr kann er jetzt nicht tun.

Ethan lehnt sich gegen die Hauswand und ruft auf dem Handy sein Mailprogramm auf. Öffnet ein neues Nachrichtenfenster und fängt an zu tippen. Gideon, der sich eben noch schnell von Lucy und Nick verabschiedet hat, kommt herübergeschlendert und bedenkt den Jüngeren mit einem verschmitzten, wissenden Lächeln, als er das Telefon in Ethans Hand bemerkt. Und bei den Worten des Sanitäters kann Ethan gar nicht anders, als das Lächeln zu erwidern. “Grüße an Sam.”

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