Miami Files – Small Favors 1

16. Oktober

Oho. Robertos Bruder Carlos ist frei. Aber klar, er hatte ja keine zehn Jahre bekommen wie Enrique, und von den sechs Jahren, zu denen er verurteilt war, haben sie ihm zwei wegen guter Führung erlassen. Roberto hat ihn abgeholt, und als er sich hinterher mit uns traf, hatte er beunruhigende Dinge zu berichten.

Mitte November soll doch dieser Supermond sein: der Vollmond, der so nah an die Erde herankommt wie seit 70 Jahren nicht. Und Carlos macht sich große Sorgen um Enrique und die drei anderen Koyanthropen, die noch im Gefängnis sind, weil sie dort natürlich auf engstem Raum zusammenhocken und sich bei einem Supermond vermutlich noch viel schlechter unter Kontrolle hätten als bei einem normalen Vollmond ohnehin schon. Carlos hat ernsthaft Angst, dass sie dort drin austicken und jemanden umbringen könnten, sagte Roberto.

Edward hat auch schon gemerkt, dass der Supermond seine Schatten vorauswirft. Er ist noch gereizter als sonst und hat eine noch kürzere Lunte. Er hat sich auch schon darüber informiert, was so ein Supermond in magischer Hinsicht bedeutet, und eines ist sicher: Das ist mal richtig gefährlich. Mierda.

17. Oktober

Ich war bei Oliver im Laden und habe ein bisschen nachgeforscht. Beim letzten Supermond vor 70 Jahren sind die Verbrechensrate und die Anzahl der Gewaltdelikte massiv nach oben geschossen. Wobei ich für diese Info natürlich nicht zu Oliver in den Laden musste, die war im Internet frei verfügbar. Aber was ich im Behind the Cover fand, war die Information, dass dieser Kanal, diese Verbindung zu ihrem Wutdämon – oder was auch immer es genau ist, was die Lykanthropen bei Vollmond so ausrasten lässt – beim letzten Supermond einen ganzen Monat lang offen blieb, sich nach dem vorigen Vollmond gar nicht erst richtig schloss. Oh oh. Dios, ayudame! o, mejor dicho, ayuda Edward. Wenn das wirklich so ist, dann wird das kein Spaß. Aber Edward hat ja schon gesagt, er merkt einen Unterschied. Das wird wohl auch diesmal wirklich so sein. Mierda.

Wieder zuhause. Wir haben überlegt, was wir machen können, um Enrique und den anderen im Gefängnis zu helfen, aber so eine richtig zündende Idee hatten wir noch nicht. Es wäre sicherlich nicht schlecht, wenn die vier während des Vollmonds nicht zu vielen Leuten zusammengepfercht wären, aber Einzelhaft für alle vier zu arrangieren, wäre so gut wie unmöglich. Dazu müssten sie so viel Ärger machen, dass sie in Einzelhaft gesperrt werden, und das entsprechend abzupassen, gerade genug für Einzelhaft, aber nicht so viel, dass sie austicken und wen umbringen, und das während des Supermonds? Das wäre viel zu riskant. Das würde nicht gutgehen. Beruhigungsmittel könnte man auch nicht mit der gebotenen Sicherheit einschleusen, oder besser: Für Beruhigungsmittel müsste man den Gefängnisarzt dazu bringen, dass er sie verschreibt, und dazu bräuchte es einen validen Grund. Und „Ihre Insassen sind Kojanthropen, Herr Doktor“ wäre mit ziemlicher Sicherheit keiner. In Quarantäne packen, weil sie eine ansteckende Krankheit haben? Auch kein guter Plan. Denn erstens müsste auch die vom Gefängnisarzt diagnostiziert werden, und selbst wenn es etwas zu diagnostizieren gäbe, weil man sie irgendwie damit infiziert bekäme, hieße das immer noch, dass sie dann krank wären: krank und geschwächt und mit potentiell noch weniger Kontrolle als ohnehin schon, und das auf der Quarantänestation mit eventuellen anderen Kranken und Geschwächten, also Beute? Keine gute Idee, wenn ihr mich fragt, Römer und Patrioten. Die vier entführen, um sie über die Zeit des Vollmonds irgendwo sicher unterzubringen? Jahaaaa. Y una leche. Das wäre eine schwerwiegende Straftat, und was, wenn der Vollmond vorbei ist? Die vier einfach wieder im Gefängnis abliefern? Sie für den Rest ihres Lebens untertauchen lassen? Ich wiederhole mich, aber: Y una leche. Aber irgendwie beruhigt werden müssen sie da drin, da geht kein Weg daran vorbei.

Da wir uns bei der Diskussion irgendwann nur noch im Kreis drehten, beschlossen wir, mit James Vanguard zu reden. Immerhin ist er, von Edward mal abgesehen, unser Kontakt in Sachen Lykanthropie.

Vanguard erklärte sich bereit, uns zu treffen, was angesichts der derzeitig herrschenden Nervosität gar nicht so selbstverständlich war. Tatsächlich war die Stimmung zwischen Edward und ihm noch angespannter als sonst, aber beide konnten sich beherrschen. Vanguard erklärte, dass Enrique und die anderen Kojanthropen seien, keine Lykanthropen, mache es etwas schwierig für ihn, Vorhersagen abzugeben, weil er mit denen immer noch nicht so viel Erfahrung bzw. Berührungspunkte habe, auch wenn ihre Erschaffung (was für ein Wort, aber genau das war es ja nun mal) ja nun schon einige Jahre her ist. Aber was er uns sagen konnte, war folgendes:
Kojanthropen sind schneller als Lykanthropen, aber ihre Stärke trotzdem nicht zu unterschätzen. Und sie verhalten sich weniger wölfisch als Lykanthropen, bilden keine so stark miteinander verbundenen Rudel. Aber obwohl ihr Rudelverband nicht so fest sei, könnten vier Mitglieder einander vermutlich schon helfen, einander gegenseitig Stabilität geben. Und Ginseng-Tee. Ginseng-Tee helfe enorm.

Ich glaube, ich muss mal wieder meinen Bruder im Gefängnis besuchen gehen. Ich war ja auch tatsächlich schon eine ganze Weile nicht mehr dort, Schande über mich.

18. Oktober

Ja. Jahaaaaa. Das hätte ich mir ja fast denken können. Enrique war ziemlich aggressiv drauf, Stichwort: Traust du mir etwa nicht zu, dass ich selbst auf mich aufpassen kann, hältst du mich etwa für eine Pussy, weißt du mal wieder alles besser, rah rah rah. Jahaaaaa, Enrique, du bist mein Bruder, und ich liebe dich, aber du bist auch echt anstrengend, weißt du das? Ich will doch nur nicht, dass du in noch größere Schwierigkeiten kommst, ¡carajo!.

Naja. Der Besuch war also etwas anstrengend, gelinde gesagt, aber nachdem wir den ganzen Spaß mit „ja, Enrique, ich weiß, was du bist, und ja, Enrique, ich glaube an den ganzen übernatürlichen Scheiß, wir können also offen reden“ hinter uns hatten, habe ich dann doch irgendwie in Enriques Schädel reinbekommen, dass seine Leute und er unbedingt auf Sandsäcke boxen müssen statt auf ihre Mitgefangenen und dass sie einander wieder runterziehen sollen, falls einer von ihnen auszurasten droht. Mehr konnte ich in dem Moment dann auch nicht tun, leider.

19. Oktober

Ha, aber Edward hatte vorhin eine Idee! Eine richtig, richtig gute Idee. Hilary Elfenbein und ihr spezieller White Court-Hunger! Ein Aggressionsbewältigungsprogramm unter den Insassen, das wäre es doch! Totilas rief gleich bei Hilary an, und das Ende vom Lied war, dass es zwar nicht leicht wird, aber das sich hoffentlich etwas machen lässt. Ms. Elfenbein wird ein Projekt zur Aggressionsbewältigung unter Gefängnisinsassen planen und ich werde meine Kontakte ins Bürgemeisteramt spielen lassen, damit sie ihr Projekt dann auch in der Everglades Correctional Facility umsetzen kann.
Derzeit ist der Plan, dass erst irgendwann eine Vor-Sichtung der Kandidaten für die Studie stattfinden soll, bei der natürlich dann unter anderem Enrique und seine Leute dafür ausgewählt werden, und dass die eigentliche Behandlung dann während des Supermondes selbst passiert. Nicht ideal, aber besser bekommen wir das nicht hin, glaube ich. Drückt bloß die Daumen, dass das klappt, Römer und Patrioten.

21. Oktober

Mit Selva Elder haben wir auch geredet. Sie war allerdings nicht sehr begeistert, uns in der Way Station zu sehen – irgendwie passieren zu oft unschöne Dinge, wenn wir dort sind – und hielt sich entsprechend bedeckt. Sie wollte nicht sagen, ob von ihren Leuten jemand als Wächter im Gefängnis Dienst tut, aber sie meinte immerhin, wenn sie etwas hört, sagt sie bescheid.

25. Oktober

Oho? Jack White Eagle möchte uns treffen. Er hat uns eben alle kontaktiert und uns zu einem Treffen ins Dora’s gebeten. Ob es irgendwas mit der Sache zu tun hat, über die er letztes Jahr nicht sprechen wollte?

Hatte es nicht. Oder nur sehr, sehr indirekt. Indirekt insofern, als dass Jack uns bei der Gelegenheit – und bei vielen anderen Gelegenheiten vorher auch schon – geholfen hat und wir uns jetzt endlich mal revanchieren können. Also vielleicht. Hoffentlich. Zumindest werden wir es versuchen.

Die Sache ist folgende: Es geht um Feen, denen Jack selbst bereits zweimal einen Gefallen getan hat. Beim dritten Mal wären sie ihm verpflichtet, und jemand anderem etwas schulden, das ist etwas, das keine Fee so gut ertragen kann, also kann Jack ihnen kein weiteres Mal helfen.
Die Feen um die es geht, sind Heinzelmännchen, also Brownies deutscher Herkunft gewissermaßen. Wenn sie jemanden mögen, kommen sie nachts und räumen bei dem auf, weil sie einfach gerne putzen und saubermachen, aber man darf sie dabei nicht beobachten wollen, sonst sind sie weg und kommen nie wieder. Sie wohnen tatsächlich ganz offen im deutschen Viertel der Stadt, sagte Jack, und betreiben dort deutsche Restaurants und Bäckereien und dergleichen. Und einer von ihnen sei wegen seines Karpfenteichs von Winterfeen unter Druck gesetzt worden, sie wollten aber wie gesagt auf gar keinen Fall Hilfe von White Eagle annehmen, weil das sonst der dritte Gefallen wäre, den er ihnen täte. Johannes Bonifer heißt der Bürgermeister der kleinen Feengemeinschaft, sagte Jack noch.

Na gut. Jack White Eagle kann ihnen also nicht helfen, aber wir. Ich meine, sie sind zwar streng genommen Wyldfae und gehören nicht zum Sommer, aber es sind Feen, und Winter hatte seine Finger im Spiel. Das kann sich der Ritter des Sommerherzogs dieser Stadt ja mal ansehen gehen. Ich habe schon ewig keinen guten Karpfen mehr gegessen.

Ich vermelde: Der Karpfen war ganz ausgezeichnet. Das Problem der Heinzelmännchen… nicht so. Aber mal sehen, ob wir nicht vielleicht trotzdem was tun können.

Das deutsche Viertel besteht aus ein paar Straßen, wo Tafeln mit deutschen Namen unter die amerikanischen Straßenschilder gehängt wurden. Das entspricht nicht gerade der städtischen Beschilderungsordnung, glaube ich, aber bisher scheint das niemanden gestört zu haben, oder die Schilder würden da nicht mehr hängen. Jedenfalls sah die ganze Gegend auch sehr danach aus, wie man sich einen deutschen Straßenzug in einem kleinen Städtchen so vorstellt: Die Häuser waren tatsächlich aus Stein gebaut, nicht aus Holz, und auch von der Form und Größe her eher deutsch als amerikanisch. Das Ganze wirkte auch nicht zuckrig-kitschig – okay, ein klein bisschen vielleicht, aber nicht sehr. Ziemlich viele Märchenmotive waren zu sehen, zum Beispiel eine ‚König-Drosselbart-Straße‘ und ein Restaurant ‚zur Krone‘. Unser eigenes Ziel, dessen Namen Jack White Eagle uns genannt hatte, war das Restaurant ‚zum Hirsch‘: klassisch deutsch anmutend, mit klassischen deutschen Gerichten auf der Speisekarte. Die Kellnerin eine hübsche junge Frau mit blonden Schneckenzöpfen und in einem Dirndl, das ihre kurvigen Formen ziemlich ideal zur Geltung brachte.

Wir würden gerne mit Bürgermeister Bonifer sprechen, erklärte ich. „Ah, Bonny“, meinte die Kellnerin, und „ja, ich habe schon von euch gehört. Ihr seid die schönen Männer, oder?“ Grrrrr. „Ihr seid nett, habe ich gehört“, fuhr sie dann fort. Na wenigstens etwas. „Um was geht es denn?“ „Stichwort Karpfen“, sagte Roberto, und das zeigte Wirkung. Das Mädchen verschwand sofort.

Es dauerte eine Weile, aber dann kam ein kleiner, rundlicher Mann hereingewuselt. Für seine Fortbewegungsweise kann ich kein anderes Wort verwenden. Er kam gleich zu uns an den Tisch, strahlte uns an und fühlte sich ganz furchtbar geehrt, dass wir ihn aufsuchten. Auch er hatte von uns schon gehört, oder besser von mir. Oder noch besser von Pans neuem ersten Ritter.

Als ich ihn darauf ansprach, dass ich gehört hätte, es gebe hier Probleme, wollte er erst abwiegeln, weil er unter keinen Umständen einen Gefallen annehmen wollte, aber ich erklärte, als Ritter sei es doch meine Pflicht, für Ordnung zu sorgen. Aber sie seien doch nur Wyldfae, nicht dem Sommer angeschlossen, erwiderte Bonifer. Egal, erklärte ich, es sei mir zu Ohren gekommen, dass der Ärger mit dem Winterhof bestehe, also sähe ich es als meine Aufgabe an, da ausgleichend einzuschreiten. Von diesem Argument ließ Bonifer sich überzeugen, und außerdem habe er ja schon gehört, dass Pans derzeitiger Ritter sehr ehrenhaft sei und sich gegen Unrecht auf allen Seiten wende. Tío. Ich wäre fast rot geworden bei dem Gebauchpinsel. Aber okay, stimmt schon, ich versuche es zumindest.

Jedenfalls lenkte ich ihn dann vorsichtig darauf, dass er doch mal erzählen solle, was überhaupt los sei.
Mr Bonifer – Bonny – überschlug sich etwas bei seiner Darstellung, und wir mussten ein bisschen nachhaken, aber schließlich kam folgendes heraus:

Ein Teil des zum Restaurant gehörigen Karpfenteichs ist eingefroren. Als Gustav (wer auch immer Gustav sein mag) das Eis wegbrach, kroch ein Tier auf seine Hand, die daraufhin ganz blau wurde. Das Tier war ein Frostegel, und die Frostegel gehörten Mr. Dahl, einem Svartalf. Der habe erklärt, die Heinzelmännchen dürften seinetwegen ihre Karpfen weiterhin in seinem Egelteich halten, und als die Heinzelmännchen protestierten, das sei ihr Karpfenteich, nicht Dahls Egelteich, legte der Svartalf Dokumente hervor, aus denen hervorging, dass der Teich jetzt ihm gehörte. Und Liesel habe sich auch schon verkühlt, als sie einen Karpfen herausziehen wollte!

Dahl komme einmal im Monat, immer zur Mitte des Monats, vorbei und hole einige Frostegel aus dem Teich. Die Egel vermehrten sich ziemlich schnell, sagte Bonny, und die Kälte tue den Karpfen gar nicht gut!

Erst einmal tranken wir Kaffee aus hauchdünnem Meißner Porzellan, dann sahen wir uns diesen Karpfenteich einmal an. Der war auf den zweiten Blick größer als auf den ersten, weil er sich auch ins Nevernever erstreckte, und im Nevernever stand er in einer idyllischen Landschaft an einer ebenso idyllischen Windmühle. An einer Stelle allerdings war der See völlig zugefroren, und die Bäume, die auf dieser Seite des Gewässers standen, waren von Rauhreif bedeckt.

Ja, es ist November und für Miami-Verhältnisse relativ frisch in der Stadt, aber zufrierende Gewässer sind in Miami auch für November nicht unbedingt normal. Als es in Miami das letzte Mal geschneit hat, war ich noch nicht mal geboren.
Im Nevernever sei das Wetter zwar etwas „klassischer“ winterlich, aber auch hier im Nevernever friere der See normalerweise erst Ende Dezember oder im Januar zu, erfuhren wir. Die Windmühle gehöre den Heinzelmännchen, erfuhren wir ebenfalls, die bräuchten sie ja für ihr Mehl zum Brotbacken.

Wir erkundigten uns noch ein bisschen ausführlicher über die Umstände. Die Gruppe lebt schon seit mehreren Generationen hier, aber es gibt keinerlei Dokumente, die belegen können, dass sie eingewandert sind oder offiziell hier wohnen. Als sie ins Land kamen, siedelten sie einfach auf dem Gelände und rissen die unbewohnten Bruchbuden ab, die stattdessen bis dahin dort standen. Sie bauten ihre Häuser und fingen an zu leben, und niemand wollte je etwas von ihnen wissen. Steuern zahlten sie auch, sagte Bonny. Einen Gefallen wollte er noch immer auf gar keinen Fall akzeptieren, aber wenn wir ihnen helfen würden, das Problem zu lösen, dürften wir 300 Jahre lang hier umsonst Karpfen essen, so viel und so oft wir wollten. Das war doch ein Handel, auf den wir uns gerne einließen.

Totilas machte den Vorschlag, doch einfach einen zweiten Teich zu graben und die Karpfen umzusiedeln, aber davon wollte Bonny nichts wissen. „Aber das hier ist doch unser Teich“, stammelte er entgeistert, „und außerdem geht das doch gar nicht, da ist doch überall Wiese!“

Tío. Feen. Dann werden wir wohl keinen neuen Teich graben.
Totilas griff in das Wasser und holte einen dieser Frostegel heraus. Von der Berührung wurde seine Hand blau und eiskalt, und er spürte darin nichts mehr, sagte er. Der Egel zog ihm Blut ab und veränderte selbst auch die Farbe: Er wurde silbrig und auf einmal erstaunlich… das ist ein so völlig falsches Wort in Bezug auf einen Blutegel, aber ich kann es tatsächlich nicht anders beschreiben, attraktiv. Was nur wieder einmal zeigte, wie stark Raith-Blut ist, wenn es sich sogar auf einen hässlichen Wurm auswirkt.

Mr Dahl hatte Bürgermeister Bonifer seine Karte gegeben. Sie war in exklusivem, elegantem Design gehalten und trug die Aufschrift „Dahl. Antiquitäten und Kunsthandwerk“ neben einer Adresse nahe der Lincoln Street und einer Telefonnummer.

Ebenso exkusiv und vornehm war auch sein Antiquariat, das wir als nächstes aufsuchten, und sein Besitzer hager und mit markantem Gesicht in tadellosem Maßanzug. Er begrüßte uns, mich vor allem, mit kühler Höflichkeit, was mich nicht weiter wunderte, denn ich selbst hielt es ja bei meiner Begrüßung nicht anders. Immerhin gehören Svartalfar zu Winter. Entsprechend vorsichtig brachte ich das Thema auf den Karpfenteich.

Er habe das Gelände mit dem Teich im August von der Stadt erworben, sagte Dahl. „Interessant“, kommentierte ich. „Das fand ich auch“, erwiderte Dahl. Ach? Sieh an? Sagen, ob er den Kauf selbst angestoßen habe oder ob er von jemandem dazu angeregt worden sei, wollte er aber nicht. Überhaupt wollte er nicht mehr zu der Sache sagen, denn was gehe es uns an?
Der Fall sei mir zu Ohren gekommen, erwiderte ich, und ich wolle mich vergewissern, dass alles seine Richtigkeit damit habe. „Ah, ein nobles Unterfangen“, entgegnete Dahl mit nur dem geringsten Hauch von Spott und bot mir dann einen Schreibtisch an, der einmal einem Schriftsteller gehört habe und der angeblich die Kreativität beflügele. Ich sagte, ich werde es mir überlegen; auch wenn er keinerlei magische Eigenschaften haben sollte, ist der Tisch ziemlich hübsch, aber eigentlich bin ich versorgt, und eigentlich passt er vom Stil nicht so ganz in mein Arbeitszimmer. Roberto äußerte sich sich ähnlich höflich und ähnlich ausweichend bezüglich eines Original-Ikea-Schranks von 1977, von dem insgesamt nur fünf Exemplare existierten, und dann waren der Formalitäten Genüge getan, und wir zogen weiter ins Katasteramt.

Das wiederum war ein Griff in das sprichwörtliche Waschbecken. Also, nein, wir fanden schon heraus, was wir suchten. Es war nur nicht das, was wir hören wollten. Das gesamte Viertel gehört der Stadt, bis auf ein kleines Stück, bei dem ein gewisser Egil Bafursson eingetragen ist. Das dürfte dann wohl Dahls echter Name sein, da er für einen notariellen Kaufvertrag vermutlich kein Alias angegeben hätte. Es war auch alles rechtmäßig, soweit wir feststellen konnten, keine Lücke weit und breit. Die Stadt war bereit, das Land zu verkaufen, Dahl erwarb es, bezahlte es, es gehört ihm, da gibt es nichts daran zu rütteln.

Wir mutmaßten, dass es den Svartalf vermutlich selbst überrascht haben könnte, dass das Gelände zum Verkauf stand, und dass er dann kurzerhand zuschlug. Aber auch das ändert nichts daran, dass ihm der Teich tatsächlich gehört und zusteht. Mierda.
Natürlich fingen wir an zu überlegen, was wir tun könnten. Den See austrocknen? Das würde den Karpfen darin ebensowenig gefallen wie den Frostegeln. Einen neuen Teich graben und die Karpfen umsiedeln? Das hatte Bürgermeister Bonifer ja schon vehement abgelehnt. Das Wasser künstlich erwärmen? Das ginge vielleicht, wäre aber sehr aufwendig. Und da der magische Teil des Sees sich im Nevernever befindet, wäre da mit technischen Lösungen nicht so viel geholfen. Ich könnte mir zwar vorstellen, tatsächlich genug Sommermagie zusammenzubekommen, um sie in den Teich zu leiten und ihn damit aufwärmen zu können, aber das wäre erstens ziemlich aufwendig und zweitens nur kurzfristig. Um sowas auf Dauer am Laufen zu halten, hätte ich im Leben nicht die Kraft, ganz abgesehen davon, dass ich auch noch ein paar andere Dinge zu tun habe, als für den Rest meines Lebens an einem Karpfenteich zu stehen und ihn auf Temperatur zu halten, herzlichen Dank.

26. Oktober

Wir hatten noch eine andere Idee. Könnte man vielleicht etwas mit dem Niesbrauchsrecht der Heinzelmännchen erreichen, die ja immerhin schon seit Generationen hier leben? Zu diesem Thema befragten wir heute Marshall Raith, der ist immerhin Anwalt und muss es wissen. Aber leider hatte auch Marshall keine positive Auskunft für uns. Das wäre schwierig, um nicht zu sagen unmöglich, denn sie sind ja noch nicht einmal legal hier im Land, wie sich herausstellte, als wir nachfragten. Als sie nach Amerika kamen, hatte keiner von ihnen die schlaue Idee, sich bei den mundanen Behörden anzumelden, also sind sie illegale Einwanderer und haben keine Geburtsurkunden und nichts.

Das einzige, was uns sonst noch einfiel, war, Dahl nahezulegen, einen anderen See für seine Egelzucht zu verwenden und ihm den Karpfenteich abzukaufen. Dazu müssen wir nur von ihm wissen, was er gerne dafür hätte. Das behagt mir zwar gar nicht, weil der Kerl ein Vertreter des Winters ist, aber egal. Das ist doch nur wieder der Sommermantel, der da aus mir spricht. Da muss ich drüberstehen, ¡demonios!

So, wir haben einen Termin mit Senor Dahl vereinbart. Morgen, heute war der Herr nicht mehr verfügbar. Ein sehr geschäftiger Geschäftsmann eben. Haha. Hat es nicht nötig. Grrrr. Aus, Alcazar, das ist immer noch Sommer, der da spricht.

Eines ist aber wichtig, das dürfen wir auf gar keinen Fall vergessen: Die Heinzelmännchen müssen schnellstmöglich der Stadt den Rest des Landes abkaufen, damit sowas nicht demnächst gleich wieder passiert. Die Situation lädt ja geradezu dazu ein. Dazu brauchen sie aber Geburtsurkunden, damit sie sich legal im Land aufhalten und legal das Land kaufen können. Okay. George ist der Beauftragte des Wyld, seit Sergeant Book auf der Insel ist. Dann muss George, den die Wyld den „grauen Herrn“ nennen, als offizieller Wyld-Beauftragter zu mir kommen, dann kann ich zu Vin Raith gehen, der kann die Dokumente beschaffen, damit gehe ich wieder zu George, der gibt sie den Heinzelmännchen, damit die damit das Land kaufen gehen können, und niemand hat irgendwem einen Gefallen getan, weil alles ganz hochoffiziell war. Ha.

Wir waren gerade auf dem Rückweg von unserem Termin bei Marshall Raith, da bekam Edward einen Anruf von seinem Partner – ehemaligen Partner, genauer gesagt, jetzt Untergebenen – Henry, der sagte, in einem Walmart in der Nähe gäbe es ein Problem: ein Kunde sei durchgedreht. Er habe an der Kasse gestanden, dann sei er plötzlich ausgerastet, habe seinen Einkaufswagen herumgeworfen wie ein verdammter Marvel-Superschurke (Henrys Worte, nicht meine) und sei dann abgehauen, renne noch da draußen rum, und Edward möge sich doch bitte darum kümmern!

Da keine Zeit war, um Autos zu wechseln und so weiter, fuhren wir mit zu dem Walmart. Ein paar uniformierte Polizisten nahmen gerade Aussagen auf, und zwischen zwei anderen war ein Nerdgespräch im Gange: Es fielen die Begriffe ‚Hulk‘, ‚Luke Cage‘ und ‚Jessica Jones‘.
Aber von diesen Scherzchen mal abgesehen, war die Stimmung unter den Zeugen und Passanten ziemlich gereizt: Auch bei den ganz normalen Bürgern warf der Supermond schon ganz schön seine Schatten voraus.

Der Einkaufswagen, mit dem der Täter um sich geworfen hatte, war noch da, und Edward nahm dort den Geruch des Mannes auf und wollte ihm folgen.
Sagte ich schon, dass die Stimmung gereizt war? Ein paar Umstehende machten blöde Sprüche wegen Edwards Schnüffelns, und er fuhr zu ihnen herum und wäre beinahe auf die Spottenden los. Ich schaffte es irgendwie, ihn davon zu überzeugen, dass die Sache wichtiger war, und zog ihn mit mir, während Totilas den Spott der Leute auf sich zog, damit wir ungestört wegkamen.

Edward folgte der Spur des Mannes bis in eine Gasse, wo der gerade auf eine Mülltonne einprügelte. Und wir kannten den Typen: Es war einer der Kojanthropen, die damals von Michael Fable betreut wurden, nachdem Ernesto Sanchez sie geschaffen hatte. Außerdem hockte in der Gasse auch noch ein Obdachloser, zusammengekauert und voller Angst.
Als Edward den Kojanthropen sah, knurrte er auf. „Lasst mich das machen.“
Er ging einige Schritte auf den Wütenden zu. „Unterlassen Sie das. Sir. Bitte.“
Der Mann fuhr mit glühenden Augen zu Edward herum. „Lass mich in Ruhe.“ Bäm – seine Faust fuhr wieder in die Mülltonne und hinterließ eine tiefe Delle. „Sonst“ – bäm – „geht’s wem dreckig.“
„Das kann ich auch“, konterte Edward und verpasste der Tonne eine eigene Delle. „Und ich bin bei der Polizei.“

Der Typ knurrte wild auf und griff Edward an, und die beiden machten es unter sich aus. Glücklicherweise wurde niemand sonst in die Sache hineingezogen, und am Ende, nachdem sie einander die Mülltonne um die Ohren gehauen hatten, war der Kojanthrop ohnmächtig und hatte einen gebrochenen Arm, und Edward eine lange Schramme und diverse blaue Flecken. Aber immerhin waren beide noch am Leben.
Während ich Edward verarztete, leistete Totilas dem ohnmächtigen Kojanthropen erste Hilfe, ehe wir einen Krankenwagen für ihn riefen und er, inklusive Warnung bezüglich seiner Gewalttätigkeit und der Notwendigkeit eines Beruhigungsmittels, der Polizei übergeben wurde.

26. Oktober

Hui. Heute nacht war die dünne Mondsichel schon um einiges größer zu sehen als üblicherweise. Ich glaube, da dürfen wir uns noch auf einiges gefasst machen.

Der Kojanthrop von gestern wurde heute dem Haftrichter vorgeführt, blieb aber nicht lange in Gewahrsam: Dr. Fable stellte Kaution für ihn. All die neuen Kojanthropen – also alle außer Enrique und seinen Kumpels im Gefängnis – sind ja bei ihm in Therapie.

Nachher steht auch der Termin bei Mr. Dahl an. Grrrrrr. Durchatmen, Alcazár. Professionell bleiben. Das ist der Mantel, der aus dir spricht. Bleib du selbst.

Na, das ging doch erstaunlich gut.
Dahl empfing mich wieder mit kühler Höflichkeit, was mir aber gerade recht war, denn dasselbe Verhalten wollte ich auch an den Tag legen. Er bat mich in sein Büro, das in hellem und modernem skandinavischen Stil möbliert war. Und heute war Dahl tatsächlich bereit, ein paar mehr Worte über das Geschäft mit dem Teich zu verlieren.
Colin Mendoza habe ihm zu dem Teich geraten, und von ihm habe er überhaupt erfahren, dass das Land der Stadt gehöre und erworben werden könne. Ach. Colin. Sieh an. Hat der kleine cabrón von meinem Vorgänger seine Finger auch noch in anderen Töpfen als nur im Diebstahl von Lebenswasser.

Aus, Alcazár. Du hast den kleinen cabrón zu verantworten, das weißt du. Ja, weiß ich, ¡carajo!

Dahl musste mir meine Abneigung gegen Colin angesehen haben, denn er erklärte, er habe sich mit meinem Vorgänger immer gut verstanden. Für einen vom Sommer jedenfalls, war der unausgesprochene Zusatz.
Ich hätte bisher kein größeres Problem mit Winter gehabt, führte ich aus.
Oh, er hoffe, das werde in seinem Fall auch so sein, erwiderte Dahl. Aber ich sei nicht sonderlich gut auf Señor Mendoza zu sprechen, oder?
Er habe sich nicht ehrenhaft verhalten, knurrte ich. Oh, nickte Dahl, das sei natürlich nicht gut für einen Ritter.

Jedenfalls. der Svartalf sagte, er sei bereit, den Teich gegen einen anderen auszutauschen, seine Frostegel umzusiedeln, wenn wir dafür bereit wären, ihm bei einem Problem zu helfen. Vor einer Weile hätten sich Selkies auf Elliot Key angesiedelt, und die müssten weg da.
„Das kann ich Ihnen nicht versprechen, aber ich werde mit den Selkies reden“, erklärte ich.
„Also kommen wir nicht ins Geschäft?“ fragte Dahl. Ähm. Wie kam er denn jetzt darauf?
„Wenn die Selkies umziehen, dann kommen wir natürlich ins Geschäft“, stellte ich klar. „Wenn ich sie nicht davon überzeugen kann, umzuziehen, dann nicht.“
„Also ziehe ich meine Egel erst um, wenn die Selkies weg sind?“
Ich wiederhole mich, aber: ähm.
„Natürlich, nur so ist es doch fair.“
Jetzt schien Dahl überrascht. Jedenfalls sah er so aus, als er den Handel mit einem Handschlag besiegeln wollte. Er hatte kalte Hände, sehr kalte Hände, oder zumindest kam es mir in meiner Eigenschaft als Vertreter des Sommers so vor. Aber ich glaube, meine eigenen Hände müssen Dahl auch sehr warm vorgekommen sein.

Okay. Edward hat mit Suki Sasamoto über Elliot Key und Dahls Anliegen gesprochen. Wie es scheint, braucht der Schwarzalb die Insel, damit seine Schiffe dort anlegen und er seine Schmuggelgeschäfte betreiben kann – ich will es gar nicht genau wissen, solange es ’nur‘ Schmuggelgeschäfte sind und er nicht den ewigen Winter nach Miami bringen will. Svartalfar seien tückisch, ergänzte Suki, und dieser spezielle Svartalf habe schon versucht, die Selkies von Elliot Key zu vertreiben. Sie könnten vielleicht in die Everglades ziehen, irgendwohin an deren Rand, wo es Salzwasser gebe und keine Fischernetze, ein Ort, wo sie nicht gesehen würden. Nicht gesehen zu werden, sei wichtig, da viele Selkies oftmals ohne ihre Häute unterwegs seien, und nicht alle kämen mit Menschenkleidung klar. Jedenfalls, die Glades gingen vielleicht, aber andererseits gebe es zu viele Krokodile dort, und Krokodile fressen Selkies.

Also gut. Dann müssen wir wohl nochmal mit Selva Elder reden, ob sich da etwas machen lässt.

In der Way Station war wieder mal einiges los, als wir ankamen. Natürlich war Selva Elder selbst anwesend, aber auch Cherie Raith, dieser Sarkos, von dem wir immer noch nicht genau wissen, ob er jetzt ein Black Court-Vampir oder ein Ghul oder etwas ganz anderes ist, außerdem Angel Ortega, der so aussah, als habe er hier eine neue Anstellung als Aufpasser gefunden, und Hans Vandermeer. Der Fliegende Holländer war betrunken und redete auf Cherie ein, die ihm gerade entgegenschleuderte, er solle ihr nicht auf die Nerven gehen.

Als Vandermeer Edward zu Gesicht bekam, fing er an, über den herzuziehen und ihn bei Cherie schlechtzumachen. „Er ist aber besser im Bett“, konterte sie trocken, woraufhin Vandermeer zu Edward herumfuhr. „Lass die Finger von ihr!“
Edward blieb erstaunlich ruhig dafür, dass der Supermond bevorstand. Er klang fast milde. „Wer die Finger an sie legt, entscheidet immer noch sie selbst.“
Cherie grinste den blonden Holländer kurz an. „Siehst du, und genau deswegen ist er besser im Bett als du.“

Und so ging es weiter. Vandermeer und Edward feindeten sich noch ein bisschen länger an, bis Selva Elder schließlich einschritt, wenn sie sich prügeln wollten, sollten sie das draußen tun. Nicht in ihrem Laden, der sei immerhin neutraler Boden. „Lass ihn leben“, ermahnte ich Edward noch. Der wirkte inzwischen richtig auf Hundertachzig, und froh, sich abreagieren zu können, aber er nickte. Draußen vor der Way Station prügelten die beiden sich tatsächlich, was damit endete, dass Edward seinen Gegner ins brackige Wasser warf, dann aber doch darauf achtete, dass der andere ungefressen wieder herauskam.

Hinterher trugen wir Selva unser eigentliches Anliegen vor. Sie erklärte, sie wolle die Selkies nicht in den Glades haben, weil es hier zu gefährlich für sie sei. Es gebe aber eine Insel draußen beim Cayo Huracán, die ziemlich ideal für ihre Zwecke sein dürfte. Tanit sollte das wissen, die Insel liege in ihrem Bereich.
Alles in allem war Selva aber ziemlich genervt von uns. „Darf ich jetzt vielleicht weitermachen? Ich habe ein Gumbo zu kochen.“
Klar durfte sie. Auf immer verscherzen wollten wir es uns ja mit ihr auch nicht. Deswegen, und weil wir hungrig waren, bestellten wir uns jeder eine Portion. Falls ihr mal richtig leckeres Gumbo essen wollt, Römer und Patrioten, geht in die Way Station.

Während des Essens beratschlagten wir, wie wir am besten an Tanit rankämen. Direkt zu ihr zu gehen, wäre unhöflich, aber wozu habe ich Kontakt zu Yahaira Montero. Ritter zu Ritterin, das gäbe dem Ganzen gleich nochmal einen semiformellen Anstrich, der in diesem Fall vielleicht gar nicht schaden kann.

Dann aßen wir in Ruhe auf und tranken noch einen Kaffee hinterher, und ich hab den Kram hier aufgeschrieben. Aber jetzt geht’s zurück.

27. Oktober

Au. AU. Au, verdammt. Kopfschmerzen. Kann mich immer noch kaum konzentrieren. Und ich dachte, eine Nacht Schlafen würde vielleicht helfen.

Okay, ich bin ja selbst schuld, aber in dem Moment ging es nicht anders, oder zumindest wusste ich mir in dem Moment keinen anderen Ausweg.

Auf dem Rückweg nach Miami klingelte Edwards Handy schon wieder. Diesmal war Salvador Herero in der Leitung, der seinem Chef mitteilte, dass schon wieder jemand ausgetickt sei, auf einer Straßenkreuzung diesmal. Natürlich fuhren wir hin.

Auf der besagten Straßenkreuzung stand ein Mann, oder zumindest eine Gestalt, denn sie wirkte nur noch entfernt menschlich. Der Mann war angeschwollen vor Muskeln und trug tierhafte Gesichtszüge, machte auch tierhafte Geräusche. Hier stimmte der blöde Witz vom Hulk, den die Cops gestern gemacht hatten, tatsächlich. Mit einem Ächzen, das nur wenig nach Anstrengung klang, viel mehr nach unbändiger Wut, stemmte er ein Auto hoch und zerriss es in der Luft. Ich wiederhole das nochmal. Ein Mann stemmte mit bloßen Händen ein Auto hoch und zerriss es.

Als er uns sah, kam der Kerl auf uns zugestampft. Trotz seiner Masse war er erschreckend schnell auf den Beinen, und wir hatten Glück, dass wir ein Stück von der Kreuzung entfernt waren und der Mann ein gewisses Stück zurücklegen musste. Roberto stellte sich breitbeinig hin und verspottete den Typen, der sich daraufhin in dessen Richtung drehte. Totilas wollte ihn auch ablenken, aber der Kerl war derart auf Roberto fixiert, dass Totilas‘ Rufe keinerlei Wirkung zeigten. Ich dachte, ich versuche es mal mit meinem patentierten Sonnenlichtzauber und blende ihn, aber ein Hulk ist nunmal kein Vampir, und so wurde es zwar hell um den Typen herum, aber das störte ihn nicht groß. Ich vermute mal, er orientierte sich ohnehin nicht sonderlich stark über die Augen in dem Moment.

Edward versetzte seinem Gegner einen kräftigen Hieb, aber das schien den Hulk auch nicht sonderlich zu beeindrucken; die Beule, die er von Totilas kassierte, genausowenig. Er war immer noch derart auf sein erstes Ziel konzentriert, dass er die beiden Treffer ignorierte und stattdessen nach Roberto schlug. Weil der allerdings geschickt auswich, wurde er nicht getroffen, hatte sich aber gegenüber dem Hulk in eine ungünstige Position gebracht. Der nächste Schlag würde ihn mit ziemlicher Sicherheit treffen, und zwar gewaltig.

Ich bin nun keine große Leuchte im Nahkampf, das ist kein Geheimnis, auch wenn ich dank des Unterrichts bei Eileen im Umgang mit Jade schon deutliche Fortschritte gemacht habe. Mich diesem Koloss also jetzt mit meiner Feenklinge in den Weg zu stellen, würde es auch nicht bringen. Der Kerl würde gleich Roberto zu Klump schlagen, und soweit durfte es nicht kommen. Es war mit Sicherheit keine meiner schlaueren Ideen, aber die einzige Möglichkeit, die ich in dem Moment sah, um ihn aufzuhalten, wo mein patentiertes Sonnenlicht schon nicht funktioniert hatte, waren Ranken. Schöne, feste, sommerliche Ranken, um den Kerl festzuhalten. Soweit so gut. Der Zauber klappte wie geplant, und die Ranken sprossen aus der Erde. Nur war der Hulk eben extrem stark, also mussten die Ranken auch richtig, richtig solide sein. Und um sie eben so richtig, richtig solide zu machen, steckte ich mehr Kraft hinein, als ich es mir leisten konnte.
Die Strafe folge auf dem Fuße: Ich konnte richtiggehend spüren, wie ich mich mit dem Wirken des Spruchs überanstrengte, und im selben Moment begann mein Kopf so heftig zu schmerzen, als würde er im nächsten Moment platzen, während mir ein Blutfaden aus der Nase lief. Ich wiederhole mich, aber: au. Au, verdammt.

Memo an mich: Du bist kein echter Magier, Alcazár. Du hast jetzt diese Sommerkräfte, ja, aber leichtsinnig solltest du deswegen nicht werden.

Der Hulk war aber jedenfalls von den Ranken gefesselt, oder zumindest so stark behindert, dass er nicht an Roberto herankam. Edward aber kam an ihn heran. Und jetzt hielt er sich nicht mehr zurück. So schwer es mir fällt, das zu schreiben: Diesen Gegner prügelte Edward tot. Richtig tot. Und sogar, als der Kerl schon tot war, stand Edward noch mit geballten Fäusten über ihm und sah aus, als wolle er ihn gleich in tausend Fetzen reißen.

Irgendwann kamen auch Suki Sasamoto und Salvador Herero dazu, um zu helfen. Beide hatten schon vorher im Kampf gegen den Hulk kräftig einstecken müssen: So war Sukis Arm gebrochen, und Herero blutete aus mehreren Wunden. Suki, ganz die Japanerin, entschuldigte sich verlegen, während Herero bei Henry Smith anrief, damit der den Vorfall hinerklären sollte. „Das wird aber schwer zu erklären“, unkte Totilas. Na mal sehen. Spin Doctoring ist immerhin Henrys Spezialität.

Ich tat ansonsten gestern abend jedenfalls nicht mehr viel, außer ein paar Kopfschmerztabletten einzuwerfen und mich ins Bett zu packen, sobald Alejandra auch schlief. Und ich hatte eigentlich gehofft, die würden über Nacht wirken. Aber Fehlanzeige. Mierda.

Beim Aufwachen dröhnte mein Kopf immer noch. Aber da konnte ich erstens nichts daran ändern, und zweitens gab es auch genug zu tun, was mich das ein bisschen vergessen, oder zumindest ignorieren, ließ. Wir hatten ja schon überlegt, wie wir Tanit am besten kontaktieren könnten. Über Hurricane war eine Idee, aber da hätte Totilas nicht mitkommen können, weil dem ja für Fae die Aura des Wortbrüchigen gegenüber der Herrin der Stürme anhaftet. Aber im Verlauf des Vormittags bekam ich die Nachricht, dass Yahaira Montero sich im Behind the Cover mit mir treffen würde. Da konnte dann auch Totilas mitkommen. Alex allerdings nicht – der schickte heute morgen eine kurze Nachricht, er habe was zu erledigen, und er würde dann später wieder zu uns stoßen. Was auch immer er zu tun hatte: Lichterketten aufhängen, witzelten wir herum, Weihnachtsbäume dekorieren? Jedenfalls irgendwem irgendwelche Gefallen tun vermutlich.

Die Unterhaltung mit der Winterritterin verlief sehr höflich und durchaus konstruktiv. Ich erzählte ihr von unserem Dilemma mit der Insel für die Selkies und dass wir natürlich nichts über Tanits Kopf hinweg unternehmen wollten. Oh, meinte Yahaira, fast ein wenig erstaunt, das sei aber sehr diplomatisch von mir. Und als ich mich daraufhin ebenfalls etwas überrascht zeigte, setzte sie noch hinzu, Pans frühere Ritter hätten es nicht so mit der Diplomatie gehabt. Oh. Oho. Aber ja, da könnte sie recht haben. Wenn ich mir das so überlege, könnte Eileen die letzte Sommerritterin gewesen sein, von der man so etwas wie Diplomatie erwarten durfte.

Wie dem auch sei, wir besprachen das Problem sehr ruhig und sachlich. Ich könnte natürlich meinen Gefallen bei Tanit einfordern, das wäre eine Möglichkeit. Oder vielleicht könnten wir der Winterherzogin von Miami einen anderen Dienst erweisen?
Die Fürstin sei besorgt wegen der Anwesenheit von Lord Frost, erklärte Yahaira. Er sei jetzt seit einer ganzen Weile hier in der Gegend, aber es sei eigentlich im Interesse aller, wenn er sich hier nicht fest ansiedeln würde. Ihn davon abzubringen bzw. sich um diese Angelegenheit zu kümmern, wäre aber kein Gefallen für Tanit.

Na gut. Dann musste ich wohl meinen Gefallen einfordern. Für genau eine solche Gelegenheit gab es ihn ja, auch wenn ich eigentlich ursprünglich gedacht hatte, dass ich ihn vielleicht für etwas… Persönlicheres würde verwenden können. Aber wenn schon nicht persönlich, war das doch immerhin für Miami, also auch die Sache wert.
Langer Rede kurzer Sinn: Als Gegenleistung für den Gefallen, den sie mir schuldet, gestattet Tanit den Selkies, auf die Insel umzuziehen. Dann kann Dahl mit seinen Egeln auf den Elliot Key, und die Heinzelmännchen bekommen ihren Teich wieder.

Als nächstes suchten wir die Heinzelmännchen auf, um ihnen die gute Nachricht zu überbringen und die weiteren Schritte mit ihnen abzusprechen. Da der Teich ja rechtmäßig Dahl gehört, müssen sie einen Kaufvertrag mit ihm aufsetzen, sobald sie ihre Geburtsurkunden haben, und die sind ja dank Vin Raith auch schon in der Mache. Wir boten ihnen ebenfalls an, dabeizusein, falls sie beim Verhandeln mit Dahl einen neutralen Vermittler bräuchten, was sie sich überlegen würden, wie Bürgermeister Bonifer erklärte. Und dann sangen die Heinzelkinder uns noch ein Ständchen. Auf Deutsch. Es war richtig rührend.

Mr. Dahl informierten wir dann auch noch über die neuesten Entwicklungen. Auch er zeigte sich höflich und einverstanden, den Tausch wie geplant durchzuziehen. Als wir ihn dann noch auf Lord Frost ansprachen und ebenfalls erwähnten, dass ja gerade der Supermond anstehe, und ob Lord Frosts derzeitige Aktivitäten damit irgendwie in Zusammenhang stehen könnten, glaubte er das aber eher nicht: Der Mond sei nicht Lord Frosts Domäne.

Sobald wir den Svartalf verlassen hatten, sprach Roberto einen interessanten Gedanken aus. Damals vor vier Jahren, als Catalina Valdez (oder vermutlich eigentlich Cicerón Linares als Drahtzieher im Hintergrund) mit den Latin Raiders zusammen während des Vollmonds das Biest beschwören wollte, kam die Bestie zwar nicht durch, aber die Wand zwischen unserer Welt und dem Nevernever wurde da ziemlich geschwächt. Vielleicht hat dieses Biest ja jetzt beim Supermond wieder eine Gelegenheit, herauszukommen – auch wenn es niemand direkt ruft?

Auf dem Heimweg bekam Edward einen Anruf von einem Streifenpolizisten, der irgendwo in der Stadt unterwegs war. Eigentlich war die Situation schon wieder unter Kontrolle, aber Ms. Wong habe gesagt, es sei besser, wenn Lieutenant Parsen vorbeikomme.

Ms. Wong? Ach ja, richtig, Cynthia Wong, James Vanguards Stellvertreterin bei Vanguard Security. Oha. Und wohin vorbei? Ins Museum für Moderne Kunst.

Im Museum fanden wir neben dem Streifenpolizisten, der Edward angerufen hatte, auch seinen Partner vor. Der Anrufer war ein ziemlicher Neuling, sein Partner schon ein altgedienter Veteran. Sie standen vor einem Raum, dessen Tür geschlossen war, davor ein Feuerlöscher, der anscheinend von der Wand gerissen und mit großer Gewalt herumgeworfen worden war, denn das Gerät war geplatzt und es waren Spritzer von Löschschaum überall. Cynthia Wong war im Moment nirgendwo zu sehen.

Ein schwarzer Teenager sei durchgedreht, informierten uns die beiden Cops. Jemand von der Museumssicherheit – gestellt von Vanguard Security – habe versucht, den Jungen zu beruhigen, sei dann aber selbst auch durchgedreht. Ms. Wong von Vanguard sei gerade dabei, die Sache einigermaßen zu regeln, denn das sei erst mal eine interne Vanguard-Angelegenheit. Alles weitere, wie der entstandene Sachschaden und so weiter, könne man später klären. Und mit diesen Worten zogen die beiden Cops erst einmal ab.

In dem Raum fanden wir Cynthia Wong und eine junge Frau in Vanguard Security-Uniform. Cynthia redete gerade beruhigend auf die jüngere Wachfrau, die offensichtlich ein Teil des Vanguard-Rudels war, ein: „Denk an das weite Feld. Denk an den Mond. Denk daran, wie du mit dem Mond läufst“, und allmählich gelang es ihr, die andere tatsächlich wieder einigermaßen auf den Teppich zu bringen.
Dann wandte sie sich uns zu und erklärte, sie bräuchte keine Hilfe hier, mit der Situation hier kämen sie schon irgendwie zurecht. Aber der Junge sollte aufgehalten werden. Der sei irgendwie durch das Fenster raus.
Da Cynthias Kollegin immer noch nicht so aussah, als habe sie sich völlig unter Kontrolle und auch Ms. Wong selbst sichtlich gereizter wirkte, als sie es zugab, sahen wir zu, dass wir ihren guten Vorschlag aufgriffen.

Als Edward draußen den Geruch des Flüchtigen aufnahm, machte er ein verwundertes Gesicht. Irgendwas daran sei vertraut, meinte er dann, auch wenn er sich sehr sicher sei, dass er diese Witterung noch nie in der Nase hatte.

Beim Verfolgen der Geruchsfährte merkten wir, dass der Flüchtende wohl aus vollem Leibe gerannt sein musste und alle Kraft in das Rennen gelegt hatte, so dass er eher wenig Verwüstung hinter sich zurückgelassen hatte, sondern mehr wie ein Parkour-Springer unterwegs war.
Wir holten den Jugendlichen ein, als er gerade von einer Brücke auf die darunterliegende Straße sprang. Er machte das sehr geschickt, rollte sich ab und rannte weiter, hatte sich offenbar kein bisschen verletzt. Wir hingegen nahmen lieber die Treppe, auch wenn das den Abstand wieder etwas vergrößerte.

Zum zweiten Mal holten wir dann an einer großen Kreuzung zu dem Jungen auf, der vielleicht so fünfzehn oder sechzehn Jahre alt sein mochte. Er stand in der Mitte der Kreuzung auf einer Verkehrsinsel und wurde wild angehupt. Ampeln blinkten, Telefone klingelten, und man konnte richtig sehen, wie der Lärmpegel den Teenager zum Kochen brachte. Meinen Kopfschmerzen tat das auch nicht so richtig gut, muss ich gestehen, und ich konnte spüren, wie ich auch schon ein bisschen aggressiv zu werden drohte. Dieser Supermond ist anstrengend, wenn ich das mal so sagen darf.

Jetzt hieb der Junge mit voller Wucht auf einen Hydranten ein. Ein Passant wollte ihn mit einem „das kannst du doch nicht machen, Kleiner!“ davon abhalten, aber Edward zückte seine Polizeimarke und blaffte den Mann an: „Gehen! Sie! Weiter! Sir!!“
Der Teenager drehte sich um. „Du bist Edward.“ Und während der ihn noch anstarrte, fuhr der Kleine fort: „Ich geh‘ nicht wieder zurück!“
„Zurück?“ machte Edward verblüfft, und der Junge antwortete: „Zu Dad!“

Oooookay. Das erklärte natürlich auch den vertrauten Geruch. Jedenfalls fasste Edward sich ziemlich schnell und bot seinem dem Kleinen an, er könne bis auf weiteres erst einmal bei ihm unterkommen. „Hast du ’nen Namen?“ fragte er dann? „Cassius.“ „Guter Name.“ Besser als Julius, stimmte der Teenager zu, das sei nämlich die Alternative gewesen.

Als wir Cassius von der Kreuzung weggeholt hatten und auf dem Weg zu Edward waren, erzählte der Junge erst einmal, was im Museum überhaupt passiert war. Da sei so ein blöder Arsch gewesen, der sich mit ihm habe anlegen wollen, da sei Cassius wütend geworden, und Imana und Cynthia wollten ihn aufhalten. Die beiden kenne er aus einem Internetforum, wo lauter Leute posteten, die mit Wutanfällen zu kämpfen hätten.

In dem Moment musste Edward, in dessen Auto wir saßen, scharf in die Eisen steigen, weil er von vorne ausgebremst wurde, und hieb mit einem ärgerlichen Knurren, das Cassius ihm in doppelter Lautstärke nachmachte, auf die Hupe. Der durchdringende Ton brachte meinen Schädel beinahe zum Platzen, und ich fuhr mir mit der Hand vor die Augen. „Au, mein Kopf!“
Cassius warf mir einen misstrauischen Blick zu. „Ist der auch seltsam?“ „Anders seltsam“, erwiderte Edward. „Er schreibt Bücher.“
Wenn mein Kopf mir nicht so wehgetan hätte, dann hätte ich laut herausgelacht, glaube ich.
Cassius jedenfalls bekundete, dass Bücher toll seien, dass er von mir aber noch nie gehört hätte. Auf meine Erklärung, ich schriebe Urban Fantasy, schüttelte er nur altklug den Kopf und erklärte sehr ernsthaft, er lese solche Sachen wie The Catcher in the Rye und so. Hach ja. Teenager, die ernsthafte Literatur entdecken. Es sei ihm von Herzen gegönnt.

Zuhause unterhielten wir uns dann ausführlicher. Wie wir schon vermutet hatten, ist Cassius Edwards Halbbruder: gemeinsamer Vater, aber eine neue Frau – auch wenn Mr. Parsen sich vermutlich nie offiziell von Marie hat scheiden lassen. Nachdem Marie und Edward weg waren, verbrachte Parsen Senior einige Zeit im Gefängnis, erzählte Cassius. Dort lernte er dann Cassius‘ Onkel kennen, der ebenfalls mondsüchtig war (wie Cassius das formulierte), und nach seiner Entlassung traf er dann auf die Schwester seines Mitgefangenen und kam mit ihr zusammen. Cassius‘ Mutter sei auch mondsüchtig, erzählte der Junge, was ihr erlaube, ihrem Freund Paroli zu bieten, wenn der wütend werde, so einigermaßen zumindest.

Edward nickte und meinte, er müsse Cassius Schneeball vorstellen. „Dein Rudel?“ wollte der Junge wissen, woraufhin Edward ein Foto von Schneeball aus der Tasche fischte und es seinem Bruder zeigte. Der war verwirrt. „Das ist ein Schoßhund!“ „Lass ihn das nicht hören“, schmunzelte Edward, „in seinen eigenen Augen ist er ein Wolf.“ Das verwirrte Cassius aber nur noch mehr: „Du hast einen größenwahnsinnigen Spitz als Rudel?“
„Lach nicht, das hilft mir tatsächlich dabei, die Kontrolle zu behalten.“
Cassius ließ nicht locker. „Aber hast du denn kein Rudel?“
„Nicht im klassischen Sinne“, meinte Edward, und deutete im Kreis herum auf uns.
„Oh.“ Sein Onkel habe immer gesagt, es tue einem nicht gut, wenn man kein Rudel habe, führte Cassius weiter aus, und sein Dad habe auch immer erzählt, es habe ihm überhaupt nicht gut getan, alleine zu sein.

Als Edward seinen Bruder dann bat, ihm einen Gefallen zu tun und nicht ins Labor zu gehen, bekam der große Augen. Labor? Das sei ja wie bei Walter White, voll bad-ass!
Nein, erwiderte Edward, keine Drogenküche. Eher esoterisch.
Das war der Moment, in dem Roberto wieder mal Roberto sein musste und Cassius provozierte. Mit einer ganz klar absichtlich auf schwul gehaltenen Anmache legte er dem Jungen nahe, auf seinen Bruder zu hören, was Cassius wild aufknurren ließ und Edward dazu brachte, unseren Kumpel kurzerhand des Hauses zu verweisen. Seinen Halbbruder, der aussah, als wolle er gleich irgendwas zerreißen, schickte Edward erst mal an seinen Boxsack, wo der Kleine sich die Fäuste blutig schlug, aber tatsächlich etwas Dampf abzulassen schien.

Kurze Zeit später brachte Ximena, die auf den Hund aufgepasst hatte, Schneeball vorbei. Ich stand gerade am Fenster und konnte sehen, wie Roberto, der noch draußen war, sich kurz mit ihr unterhielt. So, wie er nach drinnen zeigte, war klar, dass er seine Cousine über Edwards plötzlichen Halbbruder aufklärte.
Dann kam sie samt Hund herein, aber Schneeball bellte so wild und aufgeregt herum, dass Cassius schon wieder die Nerven verlor. Ich kraulte den kleinen Spitz ein bisschen, da bellte er noch ein bisschen, gab dann aber endlich Ruhe.
„Na toll“, maulte Edward, „Familie! Fehlen nur noch Frau und Kind, haha!“
Ich grinste ihn an. „Naja, man soll nie nie sagen.“
„Ha, lass mal“, schnaubte Edward, „jetzt habe ich Cassius an der Backe, das reicht mir erstmal völlig.“
„Warum soll es dir besser gehen als mir?“ fragte ich ihn, auch wenn ich das eher scherzhaft meinte. Denn ich habe nicht das Gefühl, Jandra an der ‚Backe‘ zu haben, im Gegenteil.
„Deine ist nicht so wild“, konterte Edward.

Und dann… ich weiß gar nicht wie ich es beschreiben soll. Es ging mir das sprichwörtliche Licht auf. Mit einem Mal fuhr mir ein Gedanke in den Kopf, und es war mir völlig schleierhaft, wie ich vorher nicht darauf gekommen sein konnte. Scheiße! ¡Mierda y cólera!

„Was ist los?“ wollte Totilas wissen, also fluchte ich noch ein bisschen weiter, erklärte dann aber. Jandra ist Enriques Tochter. Und Enrique ist ein Koyanthrop. Oder besser: Enrique wurde von Ernesto Sanchez zum Koyanthropen gemacht. Und wenn er das Gen hatte, das es bei ihm ermöglichte, den Koyanthropen zu wecken, dann hat seine Tochter das mit einiger Wahrscheinlichkeit auch. Und, cólera noch eins, dann habe ich es garantiert auch, denn ich bin sein Bruder, verdammt! Und was, wenn das verdammte Gen ausbricht, sobald der Supermond richtig losgeht?

Wir könnten Jandra testen, schlug Totilas vor. Ein Ritual durchführen, um herauszufinden, ob beim Supermond das Gen ausbrechen wird. Oder vielleicht ein Ritual, damit beim Supermond das Gen ausbricht?
„NEIN!!“

„Ginseng-Tee“, schlug Roberto vor. „Viel Ginseng-Tee.“
„Und du solltest Alejandra Disziplin beibringen“, fügte Totilas hinzu.
Grrrrrr. Was zum Geier?!
„Glaubst du etwa, dass ich meiner Tochter keine Disziplin beibringe?!“
Okay, verdammt. Ich bin tatsächlich auch ziemlich gereizt. Hoffen wir mal, das ist wirklich nur der Supermond, und nicht dieses blöde Gen, das herauskommen will. Totilas lenkte auch schnell ein und erklärte, natürlich glaube er, dass ich Jandra Disziplin beibrächte, aber eben nicht so systematisch, wie gerade Edward sie betreibt. Ach so hatte er das gemeint. Trotzdem. Grrrr.

Etwas später kamen Cynthia Wong und ihre Kollegin Imana vorbei, um Cassius abzuholen. Der Junge schien auch ganz erleichtert darüber: Zum einen ist er es gewohnt, ein Rudel um sich zu haben und zum anderen war es ihm anscheinend doch ein bisschen peinlich, bei seinem großen Bruder zu sein. Er wolle aber in Kontakt bleiben, sagte er.
Alex tauchte kurze Zeit später auch wieder auf. Er habe diverse Löcher stopfen und Türen schließen müssen, sagte er, denn spätestens seit der Schwächung der Insel der Jugend sind hier in Miami die Grenzen zum Nevernever unangenehm dünn. Drüben im Nevernever habe er Spuren gefunden, sagte Alex, von einer riesigen wolfsartigen Pfote.

Könnten das eventuell Spuren von dem Biest gewesen sein, das die Latin Raiders damals rufen wollten? An die Bestie hatten wir ja etwas früher am Tag schon gedacht, auch wenn wir eher einen Zufall vermuteten. Aber jetzt mit der Spur… Wird es eventuell auch diesmal wieder mit Absicht gerufen?
Hmmm. Wir könnten ein Ritual abhalten, sinnierte Edward, um herauszufinden, ob das Biest gerufen wird, und wenn ja, von wo aus.
Das hielten wir alle für einen ziemlich guten Plan, aber wenn, dann sollten wir das abends machen, wenn der Mond zu sehen ist. Aber nicht mehr heute. Wir hatten einen langen Tag, und ein paar Vorbereitungen müssen wir ja auch erst noch treffen. Deswegen verabredeten wir uns für morgen und trennten uns.

Und ich muss jetzt erstmal dringend schlafen. Ich habe das hier alles zwar noch aufgeschrieben, weil ich morgen sonst vielleicht nicht mehr dazu komme, aber ich bin völlig erledigt. Und Kopfschmerzen habe ich immer noch.

Oh, aber eines noch: Bei Schneeball stellen sich jedesmal die Ohren auf, wenn er das Wort ‚Ritual‘ hört. Das war so, als es um das potentielle Ritual für ‚Jandra ging, und dann, als wir über das Biestrufritual redeten, wieder. Der Hund ist eben doch ein Ritual-Pavlov. Fehlt nur noch Schrödingers Ritualkatze. Echt jetzt.

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