Supernatural – Fairytale of New York

Ende letzten Jahres kamen Niniane und ich auf die Idee, endlich mal ein SST zusammen zu schreiben, wie wir das schon eine Weile vorgehabt hatten. Und da es gerade kurz vor Weihnachten war, wurde eine kleine Wintergeschichte daraus. Jetzt, wo ich den Text poste, ist es zwar Sommer geworden, aber das muss ja vielleicht nicht unbedingt etwas machen.
Jedenfalls haben wir es, wie alle SSTs, nicht tatsächlich als Abenteuer gespielt, sondern abwechselnd in Textform geschrieben, so dass ich der guten Ordnung halber Ninianes Abschnitte eigentlich farblich markieren müsste. Aber da sich aus dem Text ohnehin ziemlich gut ergibt, welche Teile von Niniane stammen (alles, was aus Niels‘ Sicht geschrieben ist) und welche von mir (Ethans Perspektive), verzichte ich wie in den anderen SSTs bisher auch schon darauf und lasse alles einheitlich schwarz. Viel Spaß damit!

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Fairytale of New York

Mit einem lauten Knall verabschiedete sich der Kombi mitten auf der Straße Richtung Hell’s Kitchen. “Zefix!” Niels schlug mit der flachen Hand auf das Lenkrad und fluchte, aber das half nichts. Das Auto war immerhin älter als er selbst, da war es zu erwarten gewesen, dass früher oder später das eine oder andere Teil kaputt ging. Auch wenn es sich bei dem Volkswagen um die berühmte deutsche Wertarbeit handelte.

Immer noch vor sich hinfluchend, stieg Niels aus und öffnete die Motorhaube. Sobald er von seinem Auftrag zurück war, nahm er sich vor, würde er Cedric bitten, den Kombi in einer vernünftigen Werkstatt auf Herz und Nieren prüfen zu lassen. Ein guter Jäger brauchte einen verlässlichen fahrbaren Untersatz. Schließlich war es auch im Interesse des alten Jameson, dass Niels in einem Stück und mit seiner Ausrüstung nach Hell’s Kitchen kam. Cedric hatte ihn am Vortag gefragt, ob er sich ein altes Haus ansehen könnte, in dem es angeblich spukte. Ein Klient hatte ihm das Haus verkauft, und Cedric wollte es gerne gewinnbringend weiter verkaufen. Leider war so etwas mit Geistern ziemlich unmöglich, das wusste Niels aus eigener Erfahrung. Er hatte des öfteren mit Gustav, Benedikt und Joseph Geister ausgetrieben, wobei das im Hause Heckler gerne mit der Brachialmethode “Ausgraben, salzen und anzünden” vor sich ging. Aber seit er in Amerika war und die Bekanntschaft mit anderen Jägern gemacht hatte, war Niels nicht mehr sicher, dass dies wirklich das Beste war.

Aus der Motorhaube qualmte es, aber Niels konnte beim besten Willen nicht erkennen, was hier nicht stimmte. Mit Autos kannte er sich nicht aus, er hatte ja noch nicht mal besonders lange einen Führerschein. Vielleicht gab es im Handschuhfach so etwas wie eine Betriebsanleitung. Mit etwas Glück war die auf Deutsch, und er musste nicht erst seine Dictionary-App bemühen, um herauszufinden, wie die Teile überhaupt hießen, aus denen es so munter rauchte.

Er wühlte sich durch das Handschuhfach, aber eine Betriebsanleitung fand er nicht. Stattdessen lagen dort Rechnungen von verschiedenen Dinern aus der Umgebung von Seattle, eine Karte von Oregon, die Karte eines Anwalts aus Portland (was zur Hölle hatte Felicity denn von dem gewollt?) und eine Postkarte aus Vermont, unterschrieben von einem gewissen Mason Brewster. Er schickte Liz “Beste Wünsche” und verblieb mit “Dein Mason – von Herzen.” Niels schüttelte nur den Kopf und warf die Karte zurück. In seiner Vorstellung war ein Mann namens Mason Mitte 50 und trug braune Anzüge aus Tweed. Außerdem hatte er eine Halbglatze und roch nach billigem After Shave. Er dachte an Lord Alfie, den er so interessant fand wie Packpapier, aber was Männer anging, hatten seine Schwester und er definitiv nicht den gleichen Geschmack. Niels seufzte. Während er die Karte gelesen hatte, war ihm wieder bewusst geworden, wie sehr Liz ihm fehlte. Seit sie erfahren hatte, dass Jacob sein Vater war, redete sie nicht mehr mit ihm. Sie fehlte ihm schrecklich, denn sie war seine engste Vertraute gewesen, seine beste Freundin, eben seine Schwester – nur nicht im Blut bisher. Aber nachdem er ihr den Brief seiner Mutter gezeigt hatte, hatte sie ihn rausgeworfen; das letzte Mal hatten sie kurzen Kontakt gehabt, als er ihr im Auftrag von Ethan Gale etwas ausgerichtet hatte. Er wollte mit ihr reden, verstehen, was passiert war, etwas über seinen Vater erfahren. Es war doch nicht seine Schuld, dass er existierte.

Ethan Gale… Nein, in diesem Fall hatten sie definitiv den gleichen Geschmack.

Mit diesem Gedanken beschloss Niels, es doch noch einmal mit einer Reparatur zu versuchen, als ein Auto neben ihm hielt.

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Ein schiefes Lächeln wanderte über Ethans Gesicht, als er sich auf Platz 16A niederließ und aus dem Fenster einen Blick auf das Rollfeld und die Berge dahinter warf. Kein Vergleich zu seinem Rückflug von Wyoming. So gar keiner. Aber ein gutes Zeichen, dass er inzwischen mit Abstand und sogar einer Art trockenen Belustigung an den Rückflug von Wyoming denken konnte.

Er hatte fahren wollen. Immerhin waren es nur knapp fünf Stunden bis Tappan. Aber davon hatten seine Eltern nichts hören wollen. Als Ethan am Telefon erklärte, er käme dann am Freitag vor Weihnachten irgendwann im Laufe des Nachmittags, oder, je nachdem, wie der Verkehr so sein würde, vielleicht auch am Freitag abend, buchte Dad ihm kurzerhand einen Flug. Die 150$ für hin und zurück hätte Ethan sich vielleicht auch gerade noch selbst leisten können, aber andererseits hatte er in letzter Zeit so einiges seines Ersparten rausgeblasen, von daher war er nicht ganz undankbar dafür, dass er das Ticket nicht selbst zahlen musste. Auch wenn er immer noch lieber gefahren wäre. Aber gut. Geschenkter Gaul und all das.
Ethan ließ den Kopf gegen das Polster der Rückenlehne sinken und schloss die Augen. Atmete tief durch. Weihnachten bei der Familie. Das erste Mal seit… Seit. Oh Mann.

Etwas über anderthalb Stunden später schlängelte Ethan sich in einem kompakten Mietwagen – auch der von seinen Eltern gesponsert – aus dem Flughafenparkhaus des John F. Kennedy Airport auf die I-678. Etwa eine Stunde, wenn alles glatt ging. Eine Stunde Gnadenfrist. Sei nicht albern, redete er sich selbst gut zu. Sie freuen sich, dass du kommst. Okay, bis auf Alan vermutlich. Und er freute sich selbst ja auch. Sehr sogar. Eigentlich. Nur… das erste Weihnachten zuhause seit elf Jahren. Seit acht Jahren das erste Weihnachten überhaupt. Weihnachten. Rot-grün-goldener Kitsch. Und bestimmt mehr Fragen. Fragen, die er wieder nicht würde beantworten können. Ganz abgesehen davon, dass, so sehr er sich auf seine Familie freute, er die Feiertage auch unendlich gerne zusammen mit Sam verbracht hätte. Wobei die wiederum sehr froh gewirkt hatte, als er sagte, dass er nicht in Vermont bleiben könne, sondern nach New York müsse. Etwas gemurmelt hatte davon, dass das schon okay sei und Weihnachten ohnehin nicht so ihrs. Und dass sie über die Tage ihre Ruhe bräuchte und rumfahren würde. Okay. So gerne er über das Fest mit Sam zusammengewesen wäre – gar nicht mal groß feiern, einfach nur gemeinsam die Tage verbringen -, irgendwo konnte er das sogar verstehen. Würde er irgendwie am liebsten fast auch. Nein, verdammt. Es ist deine Familie. Reiß dich zusammen. Das wird schon. Muss.

Gelbe Blinklichter vor ihm. Text auf einer Anzeigetafel. Unfall auf der I-678, Vollsperrung. Umleitungsempfehlung über die I-495. Ethan zog eine Grimasse und lenkte den gemieteten Chevrolet im langsamer werdenden Verkehr auf die Ausfahrtsspur. Fand im Stau nach der Abfahrt – klar war da Stau, jeder und sein Onkel Bob wollte diese Umleitung nehmen – die Zeit, die vom Autovermieter großzügigerweise im Handschuhfach hinterlegte Karte zu befragen. Okay. Bei der nächsten Gelegenheit runter von der Interstate. Schlimmer als das hier konnte der freitägliche Stadtverkehr auch nicht mehr werden.

Ein Stück vor dem Lincoln Tunnel wollte Ethan sich gerade wieder den Weg zurück auf den Freeway suchen, da runzelte er die Stirn. Am Straßenrand stand mit hochgeklappter Motorhaube ein silbergrauer Volkswagen-Kombi mit Washingtoner Kennzeichen. Das Auto kannte er doch… Und die Gestalt, die gerade Anstalten machte, sich über den Motorraum beugen zu wollen, kannte er er auch. Zum Glück war Ethan auf der rechten Spur, und zum Glück war vor dem Wagen genug Platz. Er brachte den kleinen Chevy zum Halten und ließ das Fenster herunter. “Niels.”

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Niels sah sich um, als jemand seinen Namen nannte. Das Auto, das neben ihm gehalten hatte, war ein kleiner Chevy, und am Steuer saß – Ethan Gale. Na großartig. Hatte er jetzt auch noch telepathische Fertigkeiten entwickelt? Irenes Frage in May Creek fiel ihm ein, und er seufzte. Nein, das hier musste ein Zufall sein, er hatte viele Fähigkeiten, aber er war sich sicher, dass Telepathie oder Vorhersehung nicht dazu gehörten. Immerhin war morgen Weihnachten, vielleicht war das hier sein persönliches Weihnachtswunder. Momentan konnte er wirklich eines gebrauchen.

“Ethan.” Niels holte tief Luft und wischte die Hände an der Hose ab. In einer Reflexbewegung schob er das Zungenpiercing nach vorne, aber dann merkte er, dass die erwartete Aufregung ausblieb. Vielmehr war er erfreut, den anderen Jäger jetzt zu sehen. Ethan kannte sich garantiert besser mit Autos aus als er.

“Kannst du mir helfen? Ich hab keine Ahnung, was los ist, das Auto ist halt alt,” erklärte Niels dem dunkelhaarigen Mann jetzt, der nur nickte, den Chevy hinter dem Kombi parkte und ausstieg. “Machstn hier?” wollte Ethan jetzt wissen, während er sich über die Motorhaube beugte. “Mein… Großvater… Felicitys Großvater will, dass ich mir ein Haus in Hell’s Kitchen angucke. Angeblich spukts da”, antwortete Niels. Ethan nickte nur. “Ich wohn jetzt hier. Familie. Hatte ich erzählt, glaub’ ich. Ist ‘ne lange Geschichte, falls du sie hören willst.”

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Bei den letzten Worten des Deutschen richtete Ethan, der schon einen ersten flüchtigen Blick auf den Motorblock geworfen hatte – so auf Anhieb war mal nichts zu sehen -, sich wieder auf und drehte sich zu dem Jüngeren um. Der wirkte nicht so angespannt wie bei ihren letzten Begegnungen und anscheinend ehrlich erfreut, ihn zu sehen. “Mmhm. Will.” Ethan hob ein wenig die Schultern und zog den linken Mundwinkel zu einem leichten Lächeln hoch. “Wenn du magst.” Dass er aus Felicitys überraschendem Brief schon wusste, was Sache war, dass Niels’ vermeintliche Cousine einem vergleichsweise Fremden, dem Two-Night-Stand-es-ist-kompliziert-Ex, ihr Herz über ihren plötzlichen Halbbruder ausgeschüttet hatte, das musste der junge Jäger vielleicht nicht sofort wissen. Es fühlte sich für Ethan schon seltsam genug an, auch wenn er sich über den Vertrauensbeweis seitens Fey ziemlich freute.

“Kay”, murmelte Ethan dann gedehnt, während er sich wieder dem Motorraum zuwandte. Mal sehen… Mit geübten Griffen begann er, die üblichen Verdächtigen abzuchecken. Es hatte sich schon mal kein Schlauch gelöst und war in den Lüfter geraten. Es war auch kein Schlauch geplatzt. Die Einspritzpumpe saß fest. Keine Kette war gerissen, und die Nockenwelle sah auch nicht so aus, als habe sie sich verkantet. Aber um das wirklich auszuschließen, müsste man den Motor anlassen. Später, falls nötig. Erstmal weitersuchen. Der Motorblock selbst sah auch noch intakt aus. Kein Loch, kein Pleuel, das irgendwo herausschaute, wo es nicht hingehörte. Okay. Nächste Möglichkeit. Sorgfältig entfernte Ethan die Zahnriemenabdeckung. Betrachtete eingehend, was darunter lag, und verzog das Gesicht, ehe er schließlich seufzte, sich wieder aufrichtete und zu dem Studenten umdrehte. “Wasserpumpe”, erklärte er.
“Die Wasserpumpe ist defekt?” fragte Niels und warf ebenfalls einen interessierten Blick in den Motorraum.
“Geplatzt. Zahnriemensprung. Kopf breit. Ende Gelände.” Ethan deutete auf den Zahnriemenkopf, dem man die Verformung deutlich ansehen konnte, dann auf den gerissenen Zahnriemen und schließlich auf den Spalt in der darunterliegenden Wasserpumpe. “Kanns dir wechseln. Braucht aber n neuen Satz. 150 Dollar oder so. 180 vielleicht. 200 max.” Er machte eine bedauernde Geste, lächelte dann schief. “Gute Nachricht: Geht ohne Bühne. Hast Werkzeug?”

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Niels schüttelte den Kopf. Sicher hatte er Werkzeug, aber nicht das, was Ethan meinte. “Werkzeug”, das hieß im Hause Heckler Messer in verschiedenen Längen und Schusswaffen in verschiedenen Größen. Das hatte er dabei, aber das half nichts. “Sorry, nein. Es sei denn, du kannst das Ding mit einem Ausbein-Messer flicken.” Er lächelte schief. Jetzt war es an Ethan, den Kopf zu schütteln. “Leider nicht. Richtiges Werkzeug. Kofferraum?” Niels ging um das Auto herum, aber er war sich ziemlich sicher, dass es ihm aufgefallen wäre, wenn irgendetwas anderes als seine Waffen und das entsprechende Zubehör im Fond des Wagens gelegen hätten.

“Fuck. Fuckfuckfuck,” entfuhr es ihm jetzt, was ihm eine hochgezogene Augenbraue von Ethan einbrachte. “Ich will diese Nummer in Hell’s Kitchen heute noch durchziehen. Ich hab’s Cedric versprochen.” Dass er sich da etwas überschätzt hatte, wollte er Ethan nicht gestehen, aber er wollte Felicitys Großvater beweisen, dass er tatsächlich Jacobs Sohn war, in jeder Hinsicht. Dann fiel ihm etwas ein. “Sag mal… hast du es sehr eilig? Könntest du mich vielleicht nach Hell’s Kitchen begleiten? Dann ruf ich gerade bei Cedric an, dass er jemanden schickt, der den Kombi abholt.”

Ohne eine Antwort Ethans abzuwarten, fischte Niels sein Smartphone aus der Seitentasche seiner Cargohose und wählte Cedrics Nummer. Der versprach, sich sofort um das Auto zu kümmern und es bei der Gelegenheit auch einer Inspektion unterziehen zu lassen. Allerdings sollte Niels auf den Typen vom Abschleppdienst warten. Er nickte, das hätte er sowieso gemacht. Selbst auf der Straße nach Hell’s Kitchen stand niemand mit einer Winchester, einer P08 und einer Tasche voller Munition.

“Ich warte”, meinte Ethan nur und zündete sich eine Zigarette an. Niels steckte die Hände in die Hosentasche und trat nachdenklich von einem Bein aufs andere. Seit May Creek hatte er das Bedürfnis gehabt, dem Älteren etwas mitzuteilen, was er ihm nicht einfach nur hatte schreiben wollen.

“Ich muss dir was sagen.” Niels biß auf das Zungenpiercing, als Ethan ihn überrascht ansah. “Ich hab gelogen, damals in Meredith. Ich hab durchaus mehr Familie als nur meine Schwester und Felicity.” Ethan sagte nichts, sondern sah ihn weiterhin an und nahm einen Zug aus seiner Zigarette. “Wie du ja spätestens seit der Geschichte mit dem Krankenhaus weißt, hab ich auch noch einen Bruder, Benedikt. Der lebt in Bayern, bei meiner Mutter, meinem… Vater, und meinem anderen Bruder. Richtig komplette heile Familie.” Er verzog das Gesicht, doch Ethan sagte immer noch nichts. “Mein Vater, nein, der Mann, den ich 21 Jahre dafür gehalten habe, und meine Brüder wollten mich zu so einer Art Gotteskrieger machen. Jagen ist unsere heilige Pflicht, blablabla. Deswegen bin ich abgehauen und verschweige den Teil auch lieber.” Das war nur die halbe Wahrheit, aber mehr musste Ethan jetzt nicht wissen. “Felicity hat mich vor bald einem Jahr hierhin geholt, weil ich es zuhause nicht mehr ausgehalten habe. Liebeskummer und so. War bisher auch echt cool, vor allen Dingen ihre Verwandtschaft, ihre Mom und ihre Großeltern. Ihr Dad lebt ja nicht mehr. Leider. Den würde ich gerne einiges fragen.” Er holte tief Luft. “Zum Beispiel, wie es sich anfühlt, wenn sein erwachsener Sohn vor ihm stünde. Ich bin nicht Felicitys Cousin. Ich bin ihr Bruder.” Er holte wieder tief Luft und sah Ethan dann noch einmal lange an. “Sorry. Wollte dich eigentlich gar nicht mit dem Mist zutexten. Aber irgendwie hatte ich das Gefühl, ich sollte mich entschuldigen.”

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‘Hast du es sehr eilig?’ Heh. Was für ein Wespennest von Frage. “Mhm”, brummte Ethan, „geht.” Seiner Stimme mochte man vielleicht anhören, wie hin- und hergerissen er war. Niels zu helfen, würde seine Ankunft in Tappan noch etwas verzögern, ja. Wäre er nicht ganz undankbar für. Aber andererseits: Jetzt auf einen Job zu gehen, nur Stunden vor dem Besuch… ‘Spukhaus’ klang zwar wie reine Routine, aber das hatte nichts, rein gar nichts, zu bedeuten. Darauf konnte Ethan keinen Cent geben. Auch das Bones Gate-Haus letztes Halloween war ‚reine Routine’ gewesen. Und wenn ihm jetzt etwas zustieß… Andererseits konnte er Niels auch nicht alleine da reingehen lassen, wenn in dem Haus wirklich was war. Drecksmist, elender.

Bis vor ein paar Monaten hätte sich die Frage gar nicht gestellt. Es war ein ungewohntes Gefühl, nach so vielen Jahren plötzlich andere Leute in seine Überlegungen mit einbeziehen zu müssen. Seine Familie. Aber auch ein warmes, gutes Gefühl, irgendwie, selbst wenn es die Entscheidung jetzt erschwerte. Ethan zog die Unterlippe zwischen den Zähnen hindurch und traf sie. Der Junge brauchte Hilfe. Musste er eben extra vorsichtig sein. “Ich komm mit”, sagte er. “Hab nur kaum was bei.” Keine Weatherby. Keine Remington. Nicht Sheriff Simons Revolver. Seinen Gürtel mit der Grundausrüstung immerhin. Salz natürlich. Sein Fahrtenmesser. Die kleinere Klinge mit der Silberauflage. Und das Weihwasser. Wenigstens das. Er nickte erklärend zu dem kleinen Mietwagen hin. “Flug.” Hoffentlich war Niels besser ausgestattet. Aber das war ja sein eigener Wagen – jetzt, wo Fey nach England gezogen war, wahrscheinlich sogar wirklich -, also stand das zu vermuten.

Ethan zog sein Handy heraus und verfasste eine SMS an seine Eltern. “Bin in NY. Unfall I-678. Vollsperrung. Megastau. Nicht abzusehen, wie lang. Komme später.” Das ‚macht euch keine Sorgen’, das ihm in den Fingern steckte, verkniff er sich. Ob sie sich trotzdem Sorgen machen würden, konnte er nicht beeinflussen. Dad mit ziemlicher Sicherheit, egal, was Ethan textete oder nicht textete. Hatte Ethan sich aber selbst zuzuschreiben. Verdammt.

Er sah auf und zu dem Deutschen hinüber, als der verlegen von einem Bein aufs andere trat und zu seinem Geständnis ansetzte. Ethan hörte ihm aufmerksam zu und nickte gelegentlich. Zog eine Grimasse, als der Jüngere von seiner ‚heilen’ Familie sprach. Drecksmist. Sowas Ähnliches hatte er sich ja aus Nelsons Bemerkungen und Niels’ eigenen Reaktionen in May Creek schon ungefähr zusammengereimt, aber das? Au. Er nickte wieder bei der Eröffnung, dass Fey und Niels denselben Vater hatten.“Quark”, machte er dann, als der Student fertig war. “Versteh schon. Würd ich auch nicht gleich jedem erzählen. Grad sowas nicht.” Und eine Menge anderer Sachen auch nicht. Ethan musste ein wenig schmunzeln bei dem Gedanken, wie sehr auch das sich aber tatsächlich über das letzte Jahr verändert hatte. Wie ihm im Gespräch mit bestimmten Leuten – Barry, Irene, Sam; vor allem Sam – das Reden inzwischen leichter fiel. Wie gut das tat. Der Gedanke an Sam ließ Ethans Lächeln für einen Moment noch etwas versonnener werden, ehe er sich ins Hier und Jetzt zurückrief. Vielleicht könnte Niels sowas auch helfen. “Kein Mist. Gern texten. Wenn du magst. Nur: kennst mich ja kaum. Niemand sonst? Freundin oder so?”

Ach Dreck. Ethan hätte sich treten können, kaum dass die letzten Worte seinen Mund verließen. Nach einer Freundin fragen, wo der Junge gerade von Liebeskummer gesprochen hatte. Ganz spitzenmäßig. Echt jetzt.
Ethan sah die Straße hinunter. Ewig konnte es nicht mehr dauern, bis der Abschleppwagen kam, aber so lange mussten sie ja auch nicht unbedingt warten, um irgendwelche potentiell verfänglichen Gegenstände aus dem Volkswagen in den Miet-Chevy zu schaffen. “Kram umräumen?” schlug er eilig vor. Irgendwie von dem peinlichen Moment ablenken, falls Niels nicht darüber reden wollte.

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Niels ging zum Kofferraum und holte das Gewehr und die Tasche, in der die Luger, Weihwasser, Salz und das ganze andere Zeug waren, die es brauchte, um ein Haus “sauber” zu bekommen. Die Bibel steckte in seiner Hosentasche, wie immer.

Er überlegte kurz, was Ethan mit “Freundin” gemeint hatte. Sicher, er hatte Chloe auf der Rückfahrt von Leavenworth eingeweiht, und er hatte überlegt, ob er Coco ins Vertrauen zog. Doch seit ihrem Zusammenstoß in Zigzag war ihre Freundschaft nie wieder die alte geworden, Niels überlegte sich zweimal, was er ihr schrieb. Aber dann sah er für einen Moment ein versonnenes Lächeln über Ethans Gesicht huschen, und er verstand. Oh. So eine Freundin. Sollte er ihm jetzt reinen Wein einschenken? Ein Grund, warum er mit Philip so oft gestritten hatte, war, dass sein Freund behauptet hatte, Niels könne nicht zu seiner Sexualität stehen und sei ein “Anknips-Schwuler”. Aber Philip hatte auch gut reden, der hatte mit 16 seinen ersten Freund ins heimische Elternhaus in Augsburg mitbringen dürfen, wo Dr. Berger und seine Gattin ihn sicher ebenfalls mit “Nenn uns Henry und Eva und fühl dich ganz wie zuhause” empfangen hatten.

Was, wenn er Ethan jetzt sagte, dass er keine Freundin hatte und auch keine wollte? Der junge Mann wirkte auf ihn nicht so, als würde ihn das abschrecken, dass Niels auf Männer stand. Er konnte es ja erstmal mit subtilen Hinweisen versuchen. Und wenn sich herausstellte, dass Ethan Gale doch ein Problem mit Schwulen hatte, dann hatte er Pech gehabt. Seit Zigzag war Niels klar, dass er sich nie wieder verstecken würde.

“Ich hab keine Freundin, ich bin Single. Und auch keinen Freund. Ich warte noch auf den Richtigen,” erklärte er. Ja, das konnte man so stehen lassen. Geht doch, Heckler. Er lächelte zufrieden und warf die Taschen in den Fond des Chevy.

In diesem Moment hielt der Abschleppwagen neben ihnen. Der Fahrer stieg aus und fragte Niels, ob er der Enkel von Cedric Jameson sei. Niels kam das immer noch komisch vor, aber er nickte nur. Der Mann vom Abschleppdienst ließ ihn einen Zettel unterschreiben, dass er das Auto abgegeben hatte, und erklärte, dass er alles weitere mit Mr. Jameson regeln würde. Dann lud er den Kombi auf und fuhr davon.

“Das Haus ist nicht weit von hier,” meinte Niels jetzt zu Ethan, und dann fiel ihm etwas ein. “Sorry… Ich… Ich hab dich jetzt bestimmt total überfahren und gar nicht gefragt, was du hier machst, und ob sie… Jemand auf dich wartet.”

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Im ersten Moment wurde Ethan gar nicht so recht bewusst, was Niels da genau gesagt hatte gerade. Dann jedoch fiel der Groschen, als das ‘auf den Richtigen’ einsackte. Huh. Okay. Hatte er gar nicht gemerkt. Idiot, rief er sich dann zur Vernunft. Als ob jeder Schwule das wandelnde Tuckenklischee bedienen würde. Vermutlich bediente sogar die überwiegende Mehrheit das Klischee eben nicht. Aufgefallen war Ethan an dem Jüngeren jedenfalls nichts. Wobei… Niels’ Reaktion in dem verlassenen Krankenhaus kam ihm in den Sinn. Die Reaktion, die ihn damals so überrascht hatte: der erschrockene Aufschrei, als Ethan von dem Vampirgeist verletzt wurde. Huh. Huh und Doppel-Huh. Sollte der Student etwa ein Auge auf ihn geworfen haben? Sei nicht albern, ermahnte Ethan sich selbst. Wandte sich dann an den Deutschen, als ihm auffiel, dass er den Jungen schon einige Sekunden länger, als es vielleicht üblich sein mochte, auf eine Antwort warten ließ. Schüttelte leicht den Kopf.

“Familie”, erläuterte Ethan dann. “Stunde auswärts. Schon Bescheid gesagt.” Er verzog das Gesicht leicht. “Vermutlich trotzdem Sorgen, bis ich da bin.” Und kannst du es ihnen verdenken? Nein. Also. Ethan zuckte ein wenig mit den Schultern und hob den rechten Mundwinkel zu einem schiefen Lächeln. “Naja. Ist, wie’s ist.”

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Niels bemerkte Ethans kurzes Zögern, und er biß mit einem klickenden Geräusch auf sein Zungenpiercing. Irgendwann würde er ihm doch mal erzählen, dass der junge Mann es ihm durchaus angetan hatte, aber abgesehen von Tim Spencer hatte er bisher noch nie etwas mit einem Hetero angefangen – wobei der auch nicht unbedingt so straight gewesen war, wie es Ethan mit Sicherheit war.

Aber jetzt hatten sie anderes zu tun, und er hatte immer noch ein schlechtes Gewissen, dass er Ethan von seiner Familie fernhielt. Familie, das war für ihn immer noch ein Konzept, das auf Gewalt und Unterwerfung basierte. Gustav, der Patriarch an der Spitze, neben ihm sein Kronprinz Joseph, und alle hatten sich ihnen unterzuordnen: Benedikt, seine Frau, seine Tochter und der kleine Bastard seines Bruders. Besonders der. Unwillkürlich rollte er seine rechte Schulter zurück. Ein ausgekugelter Arm, weil er versucht hatte, sich Gustavs Griff und Gürtel zu entwinden. Eine lange Narbe auf dem Schulterblatt, weil Joseph nicht schnell genug gewesen war. Eine Narbe über die Länge seines rechten Daumens, als er sich im Dunkel des Kellers verletzt und sich die Wunde entzündet hatte. Das bedeutete Familie für ihn: Narben.

Aber dann dachte er an seine Tante. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte ihn ein Familienmitglied gefragt, wie er sich sein Weihnachtsfest wünschte (Angelika hatte es stets vorgezogen, allen Traditionen, die auch nur den Hauch von Religion in sich trugen, aus dem Weg zu gehen). Delia gab sich alle Mühe, ihn zu bemuttern, auch wenn sie ihre traurigen Blicke nicht immer vor ihm verstecken konnte.

“Wenn deine Familie sich Sorgen macht, dann… dann gucke ich, dass ich das hier alleine schaffe,” sagte Niels jetzt. Ethans Familie war mit Sicherheit eine Familie der Sorte Jameson, sie warteten auf ihren Sohn, am Weihnachtsmorgen gab es Geschenke unter dem Baum, und am Kaminsims baumelten die Socken.

Aber Ethan schüttelte jetzt den Kopf. “Geht schon. Steig ein.” Niels nickte, aber vorher wollte er noch etwas erledigen. “Moment, ich muss dir noch was zeigen.” Er bedeutete Ethan, zum Kofferraum zu kommen. Der folgte, und Niels öffnete die Gewehrtasche, so dass die Winchester zum Vorschein kam. “Kannst du mit der umgehen? Ich kann ja nicht mit einer Pistole und einem Gewehr gleichzeitig schießen.” Er grinste. “Sei aber bitte vorsichtig. Die hat meinem Vater gehört, meinem richtigen Vater.” Vorsichtig strich er über den Lauf der Winchester, als ihm klar wurde, dass das alles war, was er von Jacob Heckler besaß neben ein paar Fotos.
Ethan warf einen kurzen Blick auf die Waffe, ehe er kurz und bündig, aber ernsthaft, nickte. “Klar. Danke.”

Niels schloß die Gewehrtasche wieder und klappte den Kofferraum wieder zu. Dann stieg er ein und nannte Ethan die Adresse, die er von Cedric bekommen hatte. Kurze Zeit später hielt der kleine Chevy vor einem alten Haus in einer Seitenstraße in Hell’s Kitchen. Es dämmerte bereits, und im Halbdunkel wirkten die leeren Fensterhöhlen bedrohlich und abweisend. Aber es musste sein, sie hatten einen Job zu erledigen.

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Auf dem Weg nach Hell’s Kitchen blieb Ethan schweigsam, wie meistens. Auch Niels hatte nicht viel zu sagen, aber die Fahrt war ja auch nicht sonderlich lang. Direkt vor dem angeblichen Spukhaus war alles vollgeparkt, aber der Chevy war klein genug, dass Ethan tatsächlich nur ein Haus weiter auf der anderen Straßenseite ein Plätzchen fand, in das er den Mietwagen quetschen konnte.

Nach dem Aussteigen sah Ethan an dem rotbraunen Ziegelgebäude hinauf und legte den Kopf ein wenig schief. “Leer?” Das war gar nicht schlecht, wenn alle Mieter weg waren. Weniger Unbeteiligte. Als Niels nickte, erwiderte Ethan die Geste und ging zum Kofferraum. Kramte seinen Ausrüstungsgürtel samt Messerfutteral aus der Reisetasche und legte beides an, griff sich dann auch noch seine Taschenlampe, ehe er Niels’ Gewehrtasche aus dem Kofferraum holte und sich mit einem dankbaren Lächeln zu dem Studenten deren Gurt über die Schulter warf. Die Waffe musste er nicht mitten in New York offen herumtragen, die konnte er hoffentlich auch noch aus der Tasche holen, wenn sie im Haus waren.

Es war ein seltsames Gefühl, in vergleichsweise ziviler Aufmachung auf einen Job zu gehen. Die hellbraunen Trekkingstiefel waren dieselben, aber wenn Ethan gewusst hätte, dass er jagen gehen müsste, hätte er ältere Jeans und ein robusteres Hemd angezogen, von seinem jobtauglichen Parka ganz zu schweigen. Naja. Musste so gehen. Falls er sich tatsächlich die Klamotten einsauen oder ruinieren sollte, hatte er Ersatz in der Tasche.

Niels hatte einen Schlüssel. Gut so, mussten sie das Schloss nicht knacken. Aber klar. Der Junge hatte so geklungen, als würde das alte Haus seinem Großvater gehören.
Im Flur war es dämmrig. Ethan holte Niels’ Winchester aus ihrer Hülle und checkte sie mit geübten Griffen kurz durch, ehe er sich nach dem Lichtschalter umsah. Eine Sekunde später wurde es hell im Vorraum. Gut. Strom ging noch. Er hob eine Augenbraue Richtung Niels. “Kay. Was wissen wir?”

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Für einen Moment befiel eine leichte Panik Niels, bis Ethan das Licht anschaltete. Dann sah er sich um. Der Flur war voller Staub, die Farbe blätterte von der Wand ab, die Treppenstufen nach oben fehlten teilweise. Unter der Treppe öffnete sich eine Tür in den Keller. Niels fuhr sich nervös durch die Haare, als er Ethans Frage beantwortete. “Das Haus gehört einem gewissen Jason O’Dougall. Er hat es Cedric verkauft, weil er sagt, es spukt hier. O’Dougall ist durch eine Erbschaft an das Haus gekommen. Angeblich hat hier bis vor ein paar Jahren ein irisches Ehepaar gewohnt. Betty und Phelan Fitzgerald. Von deren Neffen hat O’Dougall das Haus geerbt.” Er biß sich auf sein Zungenpiercing. Klick. Klick. Warum wurde er jetzt so nervös? Dann bemerkte er, dass er den Blick nicht von der offenen Kellertür nehmen konnte.

Hast gedacht, weil du nicht mein Sohn bist, hätt’ ich keine Macht mehr über dich? Du gehörst mir, Aaron. Mir allein.

Plötzlich spürte er, wie sein Atem schneller ging, seine Hände fingen an, zu zittern. Das Rauschen in den Ohren begann, und er glitt an der Wand herunter, den Kopf in die rechte Hand gestützt, die linke fest die P08 umklammert, als sei sie sein Rettungsanker. Nicht hier. Nicht jetzt. Er war doch ein Profi. Was sollte Ethan jetzt von ihm denken? Er wollte ihn gerne glauben lassen, dass seine Panikattacken in May Creek eine einmalige Sache waren. Aber vielleicht hatte er sich in den letzten Wochen auch einfach übernommen, und es war insgesamt kein einfaches Jahr für ihn gewesen.

“Nein,” sagte er laut und fest auf Deutsch, es war ihm egal, was Ethan jetzt dachte. “Nein.” Er stand auf und sah sich um. Nichts Außergewöhnliches, einfach ein altes Haus. Dann jedoch merkte er, dass es kälter wurde, sein Atem gefror. Etwas war hier, und es näherte sich ihm. Er drehte sich um, und sah, dass sich hinter Ethan eine Frauengestalt manifestierte, eine ältere Frau in einem altmodischen Kleid, dem Schnitt nach aus den 70er oder frühen 80er-Jahren. Er hob die Luger und bedeutete Ethan mit dem Lauf der Waffe, zur Seite zu gehen. Dann zielte er auf die Frau.

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“Irisches Ehepaar. Alles kl–” Im ersten Moment dachte Ethan, sein Begleiter sei von einem unsichtbaren Gegner angegriffen worden, so unvermittelt ging der Deutsche in die Knie. Aber die Körperhaltung des Jungen wirkte nicht wie von einem Angriff, erkannte Ethan dann. Eher verzweifelt. Oder verängstigt. Oder beides. “Niels?”
Die andere Reaktion des Studenten in dem verlassenen Krankenhaus fiel ihm wieder ein. Wie Niels vor dieser einen Tür so völlig erstarrt war und auf Deutsch vor sich hingestammelt hatte. Seine Bemerkung hinterher vom Licht. Keine guten Erinnerungen. Definitiv. Damals ebensowenig wie jetzt. “Niels. Hey.”
Der junge Jäger sagte etwas auf Deutsch – eine Verneinung, vermutete Ethan – und rappelte sich langsam auf. ‘Okay?’ wollte Ethan eben fragen, da richtete Niels seine Pistole auf ihn. Was zum–?!
Ethan reagierte rein instinktiv. Warf sich zur Seite, aus der Schusslinie. War der Kleine völlig von Sinnen in seiner Panik? Aber jetzt hatte der Student nicht mehr diesen angstverzerrten Ausdruck in den Augen, erkannte Ethan schon in der nächsten Sekunde – und es war kalt geworden im Hausgang. Kondensierender-Atem-kalt. Mit der geliehenen Winchester im Anschlag drehte er sich langsam um. Sah die durchscheinende Gestalt, die mit verkniffenem Gesicht durch den Flur auf die beiden Jäger zukam. Ethan war schon drauf und dran, der Erscheinung eine Fuhre Salz auf den Pelz zu brennen, da blieb diese stehen. Drehte sich zur Briefkastenzeile und streckte eine geisterhafte Hand mit einem geisterhaften Schlüssel darin aus. Der Briefkasten, real wie er war, öffnete sich zwar nicht, aber ein paar Sekunden später zog die Erscheinung die Hand zurück. Jetzt hielt sie einen durchscheinenden Brief darin, drehte sich mit einem noch missmutigeren Gesicht als zuvor wieder um und stapfte davon, den Hausflur entlang auf die Treppe zu. Oder besser: die Gestalt wäre gestapft, wenn sie denn ein Geräusch gemacht hätte.

Hm. Briefkasten. Einen Brief in der Hand. Verdrossenes Gesicht. Auf das Schreiben musste die Frau zu Lebzeiten wohl gewartet haben. Oder wenn sie nicht darauf gewartet hatte, dann musste er doch eine große Bedeutung für sie angenommen haben. Groß genug, dass er jetzt nach ihrem Tod noch immer einen Teil des Spuks bildete.

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Niels kam näher, die Luger wieder gesenkt, und sah sich an, was Ethan entdeckt hatte. “Sorry. Ich hoffe, du dachtest nicht, ich wollte auf dich schießen.” Der dunkelhaarige junge Mann sah ihn nur an, sagte aber nichts. Dann schüttelte er den Kopf. “Ich glaube, hätte mein Vater… Stiefvater… Vater mich jemals dabei erwischt, wie ich auch nur auf einen Menschen anlege, er hätte mich umgebracht.” Jetzt sah Ethan ihn erschrocken an, aber er sagte immer noch nichts. “Ich glaube, ich muss dir noch was sagen… wegen eben. Wegen der Tür. Ich hatte Panik. Wie in May Creek.” Er machte eine Pause, doch Ethan sah ihn nur auffordernd an.
Heute ist wohl der ‘Erzähl es Ethan’-Tag.
Niels verzog das Gesicht und warf einen Blick auf die Pistole in seiner Hand. “Andere Kinder bekommen zur Kommunion ein Fahrrad oder eine Spielkonsole. Ich habe diese Waffe bekommen” – er hob die P08 hoch – ”und die Ansage, dass ich ab sofort ein Mann bin. Andere Dreizehnjährige spielen Fußball oder küssen Mädchen. Ich habe einen Werwolf getötet. Den ersten.” Mit Schaudern dachte er daran, wie er unter Benedikts Anfeuerungsrufen sein komplettes Magazin in das sterbende Wesen gejagt hatte. “Wenn andere Kinder nicht gehorchen, bekommen sie Hausarrest oder Fernsehverbot.” Niels holte tief Luft. Das hier saß so tief, aber er wusste, er musste endlich darüber reden, sonst würde es nie besser werden. “Und ich, ich wurde erst grün und blau geschlagen, und dann in den Keller gesperrt und mehrere Tage in Dunkelheit und ohne Essen da sitzen gelassen. Mein Vater meinte, das reinigt den Geist und gibt mir Gelegenheit, mein Tun zu reflektieren.” Er seufzte. “Ich dachte, ich könnte das alles hinter mir lassen, als ich 18 wurde. Drei Jahre war ich raus, aber hier in Amerika hat das wieder angefangen mit dem Jagen. Und irgendwie ist alles in der Zeit wieder hochgekommen.” Er lächelte grimmig. “Ich bin ein Jäger, der Angst in dunklen Kellerräumen bekommt. Ist doch echt super. Und der Anblick einer offenen Kellertür lässt mich in Panik verfallen. Willst du das hier wirklich mit mir durchziehen?”
Zur Antwort nickte Ethan nur und meinte “Will.” Niels nickte ebenfalls. Er war erleichtert, dass Ethan nicht beschlossen hatte, gleich wieder zu gehen. Aber dann überlegte er. Niemand war bisher schreiend vor ihm davongelaufen, wenn er zugab, dass er Angst hatte. Niemand hatte ihm bisher einen Vorwurf deswegen gemacht.
“Also gut. Die Frau, die hier eben vorbeigegangen ist, könnte Betty Fitzgerald sein. Cedric hat von O’Dougall ein Foto von ihr bekommen, und auch eines von ihrem Mann.” Er verschwieg Ethan, dass der irischstämmige Mann dem alten Jameson die Bilder mit den Worten “Oh mein Gott, oh mein Gott, Tante Betty geht in dem Haus um, tun Sie was, Mr Jameson!” und einer Mordsfahne in die Hand gedrückt hatte. Dann war er am nächsten Tag wiedergekommen und hatte den Kaufvertrag unterschrieben. “Aber ich habe keine Ahnung, warum sie hier umgehen sollte. Laut Mr O’Dougall ist sie eines natürlichen Todes gestorben.” Er sah noch einmal auf den Briefkasten, dann wieder zu Ethan. “Wir sollten versuchen, diesen Brief zu finden.”

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Oh Mann. Drecksmist. Was sagte man auf sowas? Da gab es nichts zu sagen, selbst wenn Ethan sowas gekonnt hätte. Wobei. Eines ging immer. “Leid, Mann. Ehrlich.” Er zögerte einen Moment lang, deutete dann zurück zu der offenen Kellertür und hob leicht die Schultern, ehe er Niels direkt ansah und sich dem einfacheren Thema zuwandte. “May Creek? Selber. Und Meredith.” Ethans Finger fuhren kurz über die dünne, beinahe unsichtbare Narbe, die der Kampf mit Garrity an seiner Schläfe hinterlassen hatte. “Typ ohne Augen? Komplett eingefroren.” Ethan machte eine etwas verlegene Handbewegung. “Passiert. Weißt du vorher nicht. Und wenn doch…” Wieder zuckte er mit den Schultern. “Vermeiden, wenn’s geht. Geht nur nicht immer. Wenn’s passiert: Selber rausziehen. Oder Leute. Oder Pech und gehst drauf. Kann aber immer. Panik oder nicht.”

Drecksmist. Viel zu langer Sermon. Wollte Niels auch garantiert hören. Vor allem das mit dem ‚draufgehen kann man ja sowieso jederzeit’. Das wusste der Deutsche selbst, daran musste er jetzt mit Sicherheit nicht nochmal eigens erinnert werden. Und Ethan wollte selbst gerade eigentlich auch nicht daran erinnert werden. Nicht mit dem ersten Weihnachten seit elf Jahren vor der Nase. Reiß dich zusammen, befahl er sich streng. Du kannst jederzeit draufgehen. Jagen oder Flugzeugabsturz oder Autounfall. Oder Hirnschlag. Ist, wie’s ist.
Es war, wie es war, und er konnte nur sein Bestes dazu tun, dass es nicht dazu käme. Dass er in ein paar Stunden seine Familie eben doch sehen würde. Bist all die Jahre nicht draufgegangen, rief er sich zur Vernunft. Wahrscheinlichkeit ist nicht höher oder geringer, nur weil ein Besuch zuhause ansteht. Eher größer, wenn du dich jetzt ablenken lässt.
Okay. Job.

“Brief”, kam Ethan also wieder auf das Wesentliche zurück. “Plan.” Er warf einen Blick auf die Briefkastenzeile – die Wohnung der Fitzgeralds musste im dritten Stock gelegen haben, wenn er die Anordnung richtig interpretierte – und nickte dann zum Treppenhaus hin. Es gab zwar einen Aufzug, aber das Ding sah arg klapprig aus, und ob es überhaupt Strom hatte, war auch noch die Frage.

Auf dem Weg hinauf blieb Ethan ebenso wachsam wie im Flur des dritten Stocks selbst, aber kein Geist zeigte sich. Okay. Dann anders. “Sie haben in 3B gewohnt”, soufflierte Niels, als er Ethans suchenden Blick bemerkte. Alles klar.
Dankenswerterweise hatte der Student auch einen Schlüssel zu Apartment 3B. Duh. Logisch. Aber gut so, dann musste Ethan nicht die Tür einrennen oder sowas.

Drinnen fiel das spärliche Licht des vergehenden Nachmittags durch die staubigen Fenster. Überhaupt war alles staubig. Die altmodischen Möbel. Die Spitzendeckchen auf der Kommode. Die Fotorahmen darauf. Der Spiegel darüber. Und es war kalt hier drin. Natürlich war es kalt. Die Heizung war anscheinend seit Jahren nicht mehr gelaufen. Na ganz spitzenmäßig. Das würde es so viel einfacher machen, den Geist zu bemerken, wenn der wiederkam.

Ethan ging zur Kommode hinüber und zog die erste der sechs Schubladen auf. Vielleicht war dieser ominöse Brief ja hier irgendwo zu finden.

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Niels beobachtete nachdenklich, wie Ethan die Schubladen aufzog. Die Worte des Älteren klangen noch in seinem Kopf nach. Er war dankbar für die Ansprache gewesen, und er hatte Ethan noch nie so viel an einem Stück reden gehört. Offensichtlich bereitete es ihm große Schwierigkeiten, zusammenhängend zu sprechen, und so war Niels noch dankbarer.

Du darfst Angst haben, Heckler. Du darfst nur nicht zulassen, dass sie dein Handeln bestimmt.

Noch während er Ethan zusah, wie der Schublade um Schublade öffnete und sich mit dem gebotenen Respekt durch die Hinterlassenschaft der Fitzgeralds arbeitete, spürte er, dass es hinter ihm kalt… kälter wurde. Es war eisig hier drin, das Metall der Luger brannte unangenehm in seiner Hand. Aber das war etwas anderes, er kannte das. Seine Nackenhaare stellten sich auf, und seine Jägerinstinkte sprangen an. Etwas war hier, und er war sich nicht sicher, ob es Ethan und ihm wohlgesonnen war. War es Betty Fitzgerald? Niels drehte sich um, die P08 im Anschlag. Hinter ihm stand ein alter Mann, dem Aussehen nach zu urteilen, war es Phelan Fitzgerald. Er stand mitten im Zimmer, ein trauriger kleiner alter Mann, sein Blick schien den von Niels zu treffen, aber er machte keine Anstalten, ihn anzugreifen. “Ethan…” Niels behielt Phelan im Auge, doch der blieb stehen und rührte sich nicht. Was hatte Cedric ihm gesagt? Beide Fitzgeralds waren eines natürlichen Todes gestorben, Phelan an einem Herzinfarkt, und Betty war eines Morgens von einer Nachbarin tot in ihrem Bett gefunden worden. Sie hatte ihren Mann nur um wenige Monate überlebt. Beide waren mehrere Jahrzehnte verheiratet gewesen, wahrscheinlich hatte sie ohne ihren Mann nicht leben wollen. Niels spürte, wie sich etwas in ihm verkrampfte. Er hatte auch einmal gedacht, dass er so jemanden gefunden hatte, doch dann war alles vorbei gewesen, bevor es überhaupt begonnen hatte.

In diesem Moment tauchte Betty Fitzgerald wieder auf, sie glitt durch die geschlossene Wohnzimmertür auf ihren Mann zu. Ihre Züge waren jedoch alles andere als liebevoll, sie sah ihren Mann wütend an. Was zur Hölle ging hier vor? Phelan bemerkte seine Frau ebenfalls, er drehte sich um, und sein Blick wurde noch trauriger. Niels war geneigt, die P08 zu senken, aber er war immer noch ein Jäger, und die Fitzgeralds waren immer noch Geister.
Betty blieb jetzt vor ihrem Ehemann stehen und schien etwas zu sagen. Phelan schüttelte nur stumm und traurig den Kopf, woraufhin Betty begann, wütend zu gestikulieren. Nein, so sah große Liebe sicher nicht aus. Phelan ließ die Schultern hängen, schien jedoch nicht zu antworten. Betty ließ derweil nicht locker und redete auf ihren Mann ein, Niels war froh, dass er sie nicht hören konnte, wenn er ihr Gesicht sah, das von Wut und Zorn zu einer hässlichen Fratze verzogen war. Sollte er schießen? Doch momentan schienen sich alle ihre negativen Emotionen gegen ihren Mann zu richten, sie hatte weder Niels noch Ethan bemerkt.

In diesem Moment sah Niels aus dem Augenwinkel, dass Ethan sich umdrehte und etwas in der Hand hielt. “Hab’s!” erklärte er, als die Fitzgeralds ihren Blick in Richtung des jungen Mannes wendeten.

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Es war keine Todesanzeige, wie Ethan eigentlich fast vermutet hätte. Es war auch kein Liebesbrief, sein anderer heißer Tip. Der vergilbte Umschlag, den er in der mittleren Schublade gefunden hatte, war ursprünglich wohl in einem nüchternen Grünlichweiß gehalten gewesen und mit der Maschine beschrieben. Daran, dass es der Brief war, den er unten im Flur bei dem Geist gesehen hatte, bestanden für Ethan nur wenig Zweifel. Denn dieses Schreiben lag nicht in der verschlissenen braunen Kunstledermappe, in der Ethan all die andere offizielle Korrespondenz des Ehepaares gefunden hatte, sondern separat darunter. An den Seiten zerknittert. So, als hätte der Umschlag lange in einer übervollen Tasche gesteckt. Oder als habe jemand ihn zu fest angepackt. Und dann wütend ganz weit außer Sicht geschoben.
Ethan zog das Kuvert aus der Schublade. “Hab’s”, ließ er Niels im Umdrehen wissen – und erstarrte mitten in der Bewegung. Denn in seiner Konzentration auf die Suche nach dem Brief war die Temperatur im Raum sträflich in den Hintergrund seines Bewusstseins gerückt, und er hatte nicht gemerkt, wie die Geister zurückgekommen waren. Unvernünftig, unvernünftig, unvernünftig!

Halb durchsichtig standen die beiden Fitzgeralds in der Mitte des Raumes und zankten. Oder besser, zankte Mrs. Fitzgerald ihren Mann an. Oder besser, hatte Mrs. Fitzgerald ihren Mann angezankt. Bis eben gerade. Denn in dem Moment, als Ethan sich mit dem Fundstück in der Hand umdrehte, richtete sich die Aufmerksamkeit des Geistes – beider Geister – auf ihn, als habe er laut deren Namen gerufen. Während Phelan Fitzgerald bei dem Anblick noch mehr in sich zusammenzusacken schien, verengten Bettys ohnehin schon vor Missgunst verzerrte Augen sich noch mehr. Dann gab sie einen stummen Wutschrei von sich und stürmte auf Ethan los. Bis der den Brief fallengelassen und die Winchester von der Schulter gerissen hatte, war der Geist der alten Irin schon bei ihm.
Die schemenhafte Gestalt packte heftig nach dem Schreiben, als halte Ethan es noch in der Hand. Dann bückte sie sich danach, das Gesicht noch immer von Hass erfüllt, und in Ethans Brustkorb wurde es mit einem Mal eiskalt, als die körperlose Hand, dann der ganze Arm, des Geistes im Bücken in ihn hineinwischte. So eisig, dass die Kälte regelrecht in seinen Adern brannte. Sein Herz setzte einen Schlag lang aus, und als es dann in wieder Gang kam, konnte Ethan förmlich fühlen, wie es mit aller Macht gegen das Erstarren anpulsieren musste. Aber da war noch immer diese geisterhafte Präsenz in ihm. Diese Hand, die in seinem Brustkorb herumfuhrwerkte, und er glaubte nicht, dass sie nur nach dem Brief tastete. Die wollte ihm schaden!
Er zuckte weg, wollte einen Satz nach hinten machen, aber da war die Kommode in seinem Rücken. Kein Platz zum Ausweichen. Also trat Ethan die Flucht nach vorne an, auch wenn ihn das voll durch den Geist hindurch führte und ihn die unerträgliche Kälte beinahe lähmte, sein Herz unregelmäßig zu flattern begann. Aber einen Augenblick später war er durch, und das schreckliche Gefühl des Erfrierens ließ nach. Nur sein Pulsschlag dachte überhaupt nicht daran, sich beruhigen zu wollen. Ethan machte noch zwei Schritte, dann fuhr er herum und jagte die Ladung Salz aus der Winchester mitten in den Geist.

Betty Fitzgerald zischte wütend auf und verschwand, und auch Phelan wurde in diesem Moment immer durchscheinender, bis nichts mehr von ihm zu sehen war. Aber das war nur eine Atempause. Sie mussten herausfinden, was die beiden Geister hier hielt, und zwar schnell, ehe die beiden wiederkamen.
Mit einer Grimasse hob Ethan den Brief vom Boden auf und zog das Schreiben aus dem Umschlag. Es war ein vergilbter Bogen mit dem Briefkopf und Siegel der City of New York (Police Department) an Phelan Fitzgerald unter dieser Adresse. Oder zumindest war das die Anschrift außen auf dem Umschlag, der Brief selbst war adressiert an Police Officer Phelan Fitzgerald, Shield Number 1753, Patrol Services Unit, Precinct 18. Ein Datum aus den späten 1970ern. Wir bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen… Oh oh. Hastig überflog Ethan, der sich seines nur langsam wieder zur Regelmäßigkeit zurückfindenden Herzschlags nur allzu bewusst war, die maschinengeschriebenen Zeilen weiter. Ergebnis der medizinischen Untersuchung… Weitere Tätigkeit als Patrol Officer ausgeschlossen… derzeitige Situation keine Möglichkeit für Versetzung in den Innendienst… Frühverrentung… Au. Ließ sich am Datum bestimmt ausrechnen, wie alt Fitzgerald da genau gewesen war, aber ‚Frühverrentung’ klang unschön.

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Niels sah noch, wie Betty herumfuhr und sich auf Ethan stürzte, bevor er irgendetwas tun konnte. Schießen war keine Option, denn dann hätte er den Älteren ganz sicher getroffen, und diese Ironie gönnte er dem Schicksal nicht. Abgesehen davon, dass kein Salz in der P08 war. Regungslos beobachtete er, wie Ethan quasi durch Betty hindurch ging, weil er keinen Platz zum Ausweichen mehr hatte, und er konnte sich ungefähr vorstellen, wie Ethan sich fühlte. Benedikt hatte ihn einmal in einem Geisterhaus vorgeschickt und sich anschließend köstlich amüsiert, als er seinen kleinen Bruder zitternd vor Angst und Kälte in einer Ecke gefunden hatte, nachdem der sich mit dem ganzen Elan seiner neun Jahre dem nicht-stofflichen Wesen in den Weg gestellt hatte. Sollte er Benedikt jemals wieder begegnen, es würde für seinen Bruder eine sehr unangenehme und schmerzhafte Erfahrung werden.
Mit diesem Gedanken nahm er wahr, wie Ethan die Winchester hob und auf Betty Fitzgerald schoss. Augenblicklich verging der Geist, und auch Phelan verschwand wieder. Niels ging zu Ethan hinüber, der jetzt die Winchester abstellte und den Brief aufhob, der ihm dank Betty aus den Händen gefallen war. Wortlos hielt Ethan ihm den Brief hin, und Niels las. “Aber das kann doch nicht der Grund sein, warum beide noch hier sind”, murmelte er. Ethan schüttelte den Kopf. “Mehr Gründe”, meinte er. Niels betrachtete die Kommode. “War das alles, was du gefunden hast?” wollte er dann wissen. Ethan zuckte mit den Achseln, vermutlich hatte er einfach noch nicht weiter gesucht. “Bist du ok?” fragte Niels jetzt. Ethan sah blass aus, er zitterte ein wenig, doch er nickte. “Geht”, antwortete er. Niels sah ihn zweifelnd an, doch Ethan nickte ein zweites Mal. Immer noch unsicher, ob er den Älteren so alleine lassen konnte, ging Niels in Richtung einer offenen Tür. Das riesige Himmelbett wies darauf hin, dass dies einmal das Schlafzimmer der Fitzgeralds gewesen sein musste. Eine dicke Schicht aus Staub lag auf den ehemals weinroten Bezügen und auch auf den beiden kleinen Schränkchen rechts und links vom Bett. Niels überlegte. Wo sollte er zuerst nachsehen? Im Kleiderschrank hinter ihm? In den Nachtkästchen? Unter dem Bett? Widerwillig hob er eine Ecke des Überwurfs und warf einen Blick unter das Himmelbett. Dort war nichts außer Staub, nichts, was ihm irgendwie weiterhalf.

Jetzt mach endlich eines dieser verdammten Schränkchen auf, Heckler.

Er spürte, wie er versuchte, eine Ausrede dafür zu finden, es nicht zu tun, denn es widerstrebte ihm, in den Sachen anderer Leute herumzuwühlen. Zu oft hatte er erlebt, dass Privatsphäre etwas war, was nur anderen zustand, aber nicht ihm.

Tja, da unsere liebe Schwester mit ihren privaten Dingen genauso sorglos umgeht wie du, war es mir ein Leichtes, bei ihrem letzten Besuch bei Mutter einfach ihr Handy zu nehmen und nachzugucken, ob ich deine Emailadresse rauskriege.

Er war nicht sorglos mit seinen Sachen umgegangen, er hatte die Broschüren sehr sorgfältig unter seiner Matratze versteckt, und Benedikt hatte sie dennoch gefunden und nichts Besseres zu tun gehabt, als damit zu Gustav zu rennen. Niels verspürte gerade wieder das heftige Bedürfnis, seinem Bruder die Nase zu brechen. Ein schwacher Trost verglichen mit dem, was Gustav und Joseph mit ihm gemacht hatten, aber ein Trost immerhin.

Er atmete tief ein, dann machte er einen Schritt auf das rechte Schränkchen zu. In der Schublade lagen eine altmodische Brille mit schwarzen Bügeln, eine Pillendose und ein altes Buch, “The Maltese Falcon” von einem gewissen Dashiell Hammett. Niels nahm es in die Hand und blätterte es durch. Ein Krimi, wie es schien. Er hatte sich nie viel aus Krimis gemacht, und aus Büchern allgemein nicht. Erstens hatte es zuhause nur ein Buch gegeben – er trug es immer noch mit sich herum -, und zweitens war Zeit, die er mit Lesen verbrachte, Zeit, die er nicht zum Zeichnen hatte. Das war ein Grund, warum er Filme und Fernsehserien so schätzte. Man hatte immer noch die Hände frei für Zeichenblock und Stift.
Niels legte das Buch zurück und schloss die Schublade wieder. Dies war vermutlich Phelans Seite gewesen, überlegte er, und er ging eilig um das Bett herum, um das andere Schränkchen zu öffnen.
Die Schublade war voll mit Krimskrams: Haarnadeln, eine Tablettenpackung, ein Ausschnitt aus einer Frauenzeitschrift – “10 Tips für einen besseren Schlaf” -, eine Schlafbrille (Tip Nr. 5) und ein Reader’s Digest-Heft. Niels wollte die Schublade gerade wieder schließen, doch da fiel ihm unter dem Reader’s Digest noch ein weiteres Heft auf. Er zog es vorsichtig heraus. Es war mehr ein Büchlein als ein Heft, mit einem schmucklosen braunen Einband und schwarzen Ecken. Niels schlug es auf und hätte es beinahe gleich wieder zugemacht. Aber dann überwand er sich und las Betty Fitzgeralds Tagebuch.

Phelan hat heute um meine Hand angehalten. Richtig altmodisch, er hat vorher Dad um Erlaubnis gefragt. Er ist so toll, so einen Mann habe ich mir immer gewünscht! Ich liebe ihn über alles!

Weihnachten steht vor der Tür, aber mir ist so gar nicht nach Feiern zumute. Ich habe heute Suzy McFarlane getroffen, und sie hat mir von ihrem Haus in den Hamptons vorgeschwärmt. Ach, hätte ich damals meine Träume nicht alle für Phelan aufgegeben, wir hätten es so schön haben können. Phelan sieht das natürlich nicht, der ist es anscheinend zufrieden, den Verkehr zu regeln. Wie gut, dass wir keine Kinder haben!

Heute war ich am Broadway und habe es doch über mich gebracht, für eine Rolle vorzusprechen. Der Produzent hat mich ausgelacht und mir gesagt, dass ich viel zu alt sei. Ich! Alt! Mit 42! Aber er hat ja recht, ich sehe älter aus, und meine Kleidung ist auch weit entfernt vom Broadway-Chic. Ich wollte mir ja ein neues Kleid kaufen, aber Phelan hat mir gesagt, das hätte ich nicht nötig. Ich wäre schön so, wie ich aussehe. Was weiß der denn schon! Ich habe mir natürlich doch dieses hübsche Blaue bei Macy’s im Ausverkauf gekauft, aber Phelan hat nur geschimpft und gesagt, der Preis sei immer noch zu hoch. Aber ich brauche das, ich brauche das Gefühl, das wenigstens etwas von dem Glamour übrig geblieben ist. Aber ich fürchte, es ist nur noch Grau in Grau.

Phelan wurde frühverrentet. Na ganz toll. Ihn scheint das nicht zu stören, aber ich wurde schon von Siobhan O’Dougall darauf angesprochen. Die Schnepfe, die hält sich für was besseres, weil ihr das Haus gehört. Sie mag ja Phelans Cousine sein, aber das wars dann auch mit Familie von ihrer Seite. Missgünstiges Weibsstück! Will wohl wissen, ob sie unsere Wohnung haben kann. Nicht mit mir.

Phelan ist tot, er ist in der Nacht gestorben. Wir haben gestern noch gestritten, und dann ist er ins Bett gegangen und einfach nicht mehr aufgewacht. Oh mein Gott, mein Phelan ist tot! Mein lieber, gütiger Phelan, mein Ein und Alles! Ein Herzinfarkt, sagt der Arzt. Ich bin völlig aufgelöst, wie gut, dass Siobhan hier ist und ihr kleiner Sohn, Jason. Was soll ich denn jetzt ohne ihn tun? Ich kann mir nicht vorstellen, wie ein Leben ohne Phelan sein wird.

Niels spürte, dass er schlucken musste, aber es wurde ihm langsam klarer, was zumindest Betty hier hielt. Warum aber Phelan auch noch umging, darauf hatte er keine Antwort. Er wollte wieder zurück ins Wohnzimmer gehen, als er hinter sich ein Geräusch hörte. Ethan stand in der Tür, in der Hand ein Buch ähnlich dem, was Niels selber gerade festhielt.

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Das Notizbuch lag bei einer ganzen Reihe von Taschenbüchern: Western-, Kriminal- und Spionageromane, die die ganze unterste Schublade ausfüllten. Keines davon ein Klassiker, die standen alle offen im Regal. Das hier waren die billigen Nicht-ganz-Schund-Vertreter ihrer Art, das etwas peinliche Vergnügen, und Ethan war sich ziemlich sicher, dass Betty Fitzgerald nie freiwillig an diese Schublade gegangen war. Also der beste Ort, um sicher zu sein, dass private Aufzeichnungen auch privat bleiben würden.

Vorsichtig zog Ethan, dem noch immer viel kälter war, als es das eigentlich hätte sein dürfen, das schmale Büchlein heraus und schlug es auf, behielt diesmal aber einen Teil seiner Aufmerksamkeit im Raum. Es war weniger ein Tagebuch im eigentlichen Sinn, obwohl es auch ganz klassische, handgeschriebene Einträge enthielt. Aber es klebten auch Eintrittskarten und Zeitungsausschnitte darin, und auf manchen Seiten fanden sich kleine Bilder. Sie waren besser als reine Kritzeleien, wenn auch längst nicht so gekonnt wie die Zeichnungen, die Ethan von Niels gesehen hatte. Trotzdem war die junge Frau auf einer der früheren Seiten im Buch ziemlich deutlich als dieselbe Betty zu erkennen, die oben auf der Kommode aus dem Rahmen ihres Hochzeitsfotos strahlte. Die gezeichnete Gestalt war in ein Ballettröckchen und Spitzenschuhe gekleidet und hatte die Arme zu einer grazilen Tanzfigur erhoben, und sie trug einen konzentrierten, aber freudigen, Ausdruck auf dem Gesicht. Ganz unwillkürlich wanderte Ethans Mundwinkel ein Stückchen nach oben, und als er die Seite eigentlich schon umgeschlagen hatte, blätterte er doch nochmal zurück, um einen letzten Blick auf das kleine Portrait zu werfen. Es sprach so viel Zuneigung aus den dünnen Bleistiftstrichen. So viel Liebe. Nachdenklich kaute Ethan auf seiner Unterlippe herum, während er die nächsten Einträge durchging. Was war neben Phelans Frühverrentung nur geschehen, um aus dem jungen, verliebten Paar diese verbitterten Geister zu machen? Steckte man einfach nicht drin, was am Ende bei rauskam, egal wie verliebt man am Anfang war.
Ethan fiel der Fremde wieder ein, mit dem Mom auf der Gala in Hollywood gewesen war. Bei seinem Besuch im Sommer hatte es zwar nicht so ausgesehen, als wären seine Eltern im Begriff, sich zu trennen, aber das musste nichts heißen. Bei seinem Besuch im Sommer hatten sie wahrlich anderes im Kopf gehabt. Musste er jetzt über Weihnachten mal darauf achten, ob es irgendwelche Anzeichen gab. Bitte nicht. Aber wenn es tatsächlich so wäre… Ethan verzog das Gesicht. Wäre dann halt so, ob es nun auf Ethans Kappe ginge oder ohne sein Verschwinden auch passiert wäre. Falls der fremde Galabegleiter und sein vertrauter Umgang mit Mom denn überhaupt etwas zu bedeuten hatten. Überhaupt nicht gesagt. Reiß dich zusammen. Aber vielleicht eben doch. Samanthas Worte aus Pemkowet gingen ihm durch den Kopf. ‚Erstmal den Fluch loswerden, dann sehen wir weiter…’ Dann sehen wir weiter. Keinerlei Garantie, dass Sam sich tatsächlich mit ihm einlassen würde, sobald der Fluch mal weg war. Aber eine Garantie gab es ohnehin nie. Nicht mal dafür, dass Carla und er für den Rest ihres Lebens gehalten hätten, wenn nicht– Ethan schluckte schwer, als ein Gedanke, der ihm all die Jahre bisher irgendwie nie gekommen war, sein Herz beinahe genauso stocken ließ wie die Geisterhand in seinem Brustkorb kurz vorher. Was, wenn auch Carla nie zur Ruhe gefunden hatte? Was, wenn ihr Geist noch irgendwo dort draußen spukte, immer wilder und wütender wurde und auf Vergeltung sann? Reiß dich zusammen, ermahnte er sich wieder, schärfer diesmal. Job zu tun, verdammt. Mit einem Ruck brachte er sich wieder ins Hier und Jetzt und seinen Blick auf die Kladde in seiner Hand.

Die Zeichnung der tanzenden Betty in Phelans Notizbuch musste aus der Zeit vor der Hochzeit stammen, stellte Ethan jetzt fest, denn einige Seiten später fand er eine Reihe von Einträgen, die in relativ kurzer Folge, vermutlich innerhalb einiger Wochen, verfasst worden waren.

Ich will es unbedingt richtig machen. Ich bin mir sicher, dass Betty ‘ja’ sagen wird, aber ich will das volle Programm. Wenn es nur nicht so schwer wäre, ihren Vater mal zu erwischen! Ich würde ja sogar nach Boston fahren, aber ohne Auto ist das etwas schwierig mit dem Dienst.

In drei Wochen kommt Mr. Gilfoyle nach New York, und er hat mich, also uns natürlich, zum Mittagessen eingeladen. Das ist die perfekte Gelegenheit, die ich unbedingt beim Schopf ergreifen muss, denn wer weiß, wann es dann das nächste Mal die Möglichkeit zu einem Treffen gibt. Mr Gilfoyle ist auch nur ein paar Stunden in der Stadt, deswegen ja auch Lunch und kein Dinner.

Ein paar Seiten weiter:

Man hat mich für die Beförderung zum Detective vorgesehen!

Von diesem Satz, dem Phelan in offensichtlicher Hochstimmung zusammen mit einer Skizze der typischen Polizeimarke eines Detectives den größeren Teil einer Seite gewidmet hatte, ging ein mit dicker Linie gezogener Pfeil zu einem stark vergilbten, oft gefalteten Blatt, das auf der anderen Seite des Notizbuchs mit einer relative lose sitzenden Büroklammer befestigt war. Behutsam faltete Ethan die Seite auseinander. Tatsächlich stand die Nachricht auf demselben Briefpapier wie die Mitteilung über Phelans Frühverrentung, aber dieser Brief hier trug ein Datum aus den frühen 1950ern. Und wie Phelan schrieb, war es tatsächlich die Einladung zu einem Evaluierungsgespräch für die Beförderung in den Rang des Detective Third Grade.

Auf der nächsten Seite folgte die Ernüchterung.

Muss das Gespräch ausgerechnet am selben Tag sein wie das Essen mit Mr. Gilfoyle?!

Darunter war das halbe Blatt mit Kringeln und Strichmännchen und sonstigem Gekritzel gefüllt, als hätte Fitzgerald über das Problem nachgegrübelt und beim Grübeln den Stift nicht aus der Hand gelegt. Seine Lösung fand sich darunter:

Das nächste Beförderungsgespräch kommt bestimmt. Bettys Vater aber so bald nicht wieder nach New York. Außerdem, was macht das denn für einen Eindruck, wenn ich plötzlich absage? Und vor allem, wer weiß, wann ich das nächste Mal die Chance habe, um Bettys Hand anzuhalten?

Nachdenklich sah Ethan auf die Seiten. Huh. Um Bettys Hand angehalten hatte Phelan wohl, dem Hochzeitsfoto nach zu urteilen. Aber die Chance auf eine Beförderung war offenbar nie wieder gekommen. Interessanterweise wirkten die Einträge des Mannes über die Zeit nicht unglücklich mit seinem Schicksal. Keine Erwähnung der verpassten Gelegenheit mehr. Aber seitens Mrs. Fitzgerald dafür vielleicht umso deutlicher, wenn man die Reaktion des Geistes auf den Rentenbrief so betrachtete. Und was Phelan nicht geschrieben, aber gedacht und gefühlt hatte, war natürlich auch längst nicht gesagt.

Langsam ging Ethan zur offenen Schlafzimmertür und winkte dem eben von einer ähnlichen Kladde aufsehenden Niels mit Phelans Tagebuch zu. “Hier.”

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Niels sah auf das Buch in Ethans Hand. “Phelans Tagebuch?” fragte er. Ethan nickte und hielt das Buch Niels mit einer auffordernden Geste hin. Er nahm es an und gab im Gegenzug dazu Ethan Bettys Tagebuch. Es war ihm immer noch unangenehm, zu lesen, was der ehemalige Polizist geschrieben hatte, aber die Fitzgeralds mussten ins Licht geschickt werden. Und daher führte wahrscheinlich kein Weg daran vorbei, ihre persönlichen Aufzeichnungen zu studieren.

Niels betrachtete nachdenklich die Zeichnungen des ehemaligen Officers. Solche Skizzen hatte er von Philip auch einmal gemacht, sie mussten irgendwo in Rosenheim in einer Kiste liegen, und von Joe ebenfalls. Wenn er überlegte, wie oft er beide gezeichnet hatte – den einen nach lebendigem Vorbild, den anderen aus dem Gedächtnis -, dann musste Phelan seine Frau wirklich sehr geliebt haben. Wenn er an den letzten Eintrag aus Bettys Tagebuch dachte, dann hatte sie ihn trotz aller Unzufriedenheiten genauso geliebt. Beide hatten ihre Träume gehabt, und beide schienen sie sie für den anderen aufgegeben zu haben. Ob sie jemals darüber geredet hatten? “Ethan?” Niels hatte jetzt eine Idee. “Mhm?” machte der Ältere nur und sah von seiner Lektüre auf. “Wir müssen ihnen klar machen, dass sie nie aufgehört haben, einander zu lieben. Und dass sie sich vergeben müssen. Sie haben beide ihre Träume aufgegeben, aber dafür hatten sie doch sich.” Er schluckte, als ihm bewusst wurde, dass er es doch mehr vermisste, als er sich hatte eingestehen wollen, jemanden zu haben, nach Hause zu kommen und zu wissen, dass da jemand auf ihn wartete. Aber er war sich eigentlich sicher, dass er so jemanden wieder finden konnte, diese Person existierte mit Sicherheit. Dann jedoch kam ihm ein Wald in Michigan in den Sinn, und seine Laune sank wieder. Er verzog das Gesicht, doch er wollte nicht, dass Ethan mitbekam, was in ihm vorging. Ändern konnte er den Zustand sowieso nicht mehr.

“Könnte klappen”, meinte Ethan jetzt. Niels überlegte, wie er das, was er noch zu sagen hatte, am geschicktesten formulierte. Reden war eben immer noch nicht seine Stärke, und er wollte Ethan nicht verletzen. “Ich… ich glaube, es ist am besten, wenn wir ihnen das hier vorlesen”, erklärte er, während er Phelans Aufzeichnungen hochhielt. “Schaffst du… kannst du…?” Niels brach ab, es war ihm einfach zu unangenehm, Ethan die Frage zu stellen, ob laut lesen für ihn weniger schwierig war als frei zu sprechen. Doch Ethan schien ihn auch so zu verstehen, er nickte. “Muss gehen. Wichtig”, antwortete er. Niels atmete tief durch. “Also dann. Versuchen wir es.” Er ging zurück ins Wohnzimmer und stellte sich in die Mitte des Raumes, dorthin, wo eben noch Betty und Phelan miteinander gestritten hatten. Seine Hoffnung war, dass die beiden auf das Auffinden ihrer Tagebücher reagieren würden und auftauchten. Er hatte keine Lust, es auf Gustavs Methode zu probieren und das alte irische Ehepaar zu beleidigen. Abgesehen davon, dass sein Englisch zwar mit jedem Tag besser wurde, aber “Fuck” war nicht umsonst sein Lieblingsfluch.

“Fertig?” fragte er Ethan, nachdem sie sich beide in das Wohnzimmer gestellt und jeder ein Tagebuch aufgeschlagen hatten: Niels das von Betty, Ethan hielt Phelans in der Hand. Niels begann, den Abschnitt vorzulesen, in dem sie es bedauerte, dass ihr Mann frühverrentet wurde, wieder und wieder. Seine Stimme war zuerst noch leise und brüchig, doch mit jeder Wiederholung wurde er lauter und selbstsicherer. Als es um ihn herum kälter wurde, wusste er, dass die Geister zurückkamen. Auch Ethan las jetzt, langsam, stockend, aber er las, und auch bei ihm ging es mit jedem Mal etwas flüssiger, und plötzlich standen die Fitzgeralds vor den beiden jungen Männern. Betty sah wutverzerrt auf Niels, der die P08 hob. Dass die Patronen darin gegen sie nutzlos waren, wusste sie ja nicht, aber er fühlte sich sicherer. Ansonsten hatte Ethan immer noch genug Munition in der Winchester.

Phelan betrachtete Ethan und Niels nachdenklich, als wüsste er nicht, was er von ihnen halten sollte, nachdem sie in seine Wohnung eingedrungen waren und nun sein Tagebuch lasen. Doch dann begann Niels, den Abschnitt vorzulesen, in dem Betty sich über Phelans Heiratsantrag gefreut hatte. Ihm war, als würden sich die Züge der alten Frau etwas entspannen, unsicher sah er zu Ethan. Doch dem schien das auch aufgefallen zu sein, er nickte Niels aufmunternd zu. Die alte Frau war jetzt vor ihm stehen geblieben und schien abzuwarten. Diese Pause nutzte Ethan, um seinerseits aus Phelans Tagebuch vorzulesen, wie Phelan auf seine Beförderung verzichtet hatte, um seiner Frau einen Heiratsantrag machen zu können. “Er hat das für Sie getan”, erklärte Niels dem unstofflichen Wesen, das einmal Betty Fitzgerald gewesen war, und er hatte den Eindruck, dass sie ihn verstand. “Er hat nie… aufgehört… Sie zu lieben.” Er schluckte wieder, als er merkte, dass er noch lange nicht soweit gewesen war. Aber sein eigenes Befinden musste jetzt hinten anstehen, er hatte einen Job zu erledigen.

Ethan sah jetzt Phelan an. “Nie aufgehört”, meinte er bekräftigend zu dem Iren, und auch ihm schien das Ganze nahezugehen. Der kleine Mann schien zu überlegen, dann wandte er sich seiner Frau zu. Auch sie sah zu ihm herüber, und nach einer gefühlten Ewigkeit streckte sie die Hände nach ihm aus. Plötzlich wurde es heller und wärmer im Raum, und die traurigen Züge von Phelan und Bettys wutverzerrtes Gesicht entspannten sich, wurden weicher und begannen, von innen heraus zu leuchten. Mit einem Mal stand ein junges Paar, nicht älter als sie selbst, vor ihnen. Eine grazile Blondine mit einem Spitzenkleidchen, ihr Lächeln so fröhlich, als wolle es mit dem Licht um die Wette strahlen. Ein junger Mann, der aufrecht und selbstbewusst vor seiner Frau stand, seine blaue Uniform makellos, seine Marke glänzend poliert. Seine ganze Mimik, seine Gestik sagten, dass er am Ziel seiner Träume angekommen war: Polizist beim NYPD und die wunderschöne Ballerina an seiner Seite.

Plötzlich jedoch wurde das Licht wieder schwächer, die junge Betty wurde von der alten Betty überlagert, wie ein doppelt belichteter Film, schwarz-weiß gegen Farbe, Liebe gegen Wut. “Er wollte nie, dass Sie Ihre Träume aufgeben”, rief Niels ihr jetzt zu, “Sie müssen ihm vergeben.”

Knochen ausgraben und anzünden war wesentlich einfacher.

Das Bild flackerte noch einmal, so schnell, dass Niels nicht erkennen konnte, was passierte. Dann jedoch löste sich etwas und ging auf Phelan zu. Niels befürchtete, dass Betty zu einem Rachegeist geworden war, doch dann kehrte das Licht zurück. Lautlos formten die Lippen der hübschen Blondine die drei Worte, die sie ihrem Mann zu Lebzeiten nicht mehr hatte sagen können.

Ich liebe dich.

Jetzt schien das Leuchten um das irische Ehepaar anzuschwellen, es wurde für einen kurzen Moment so hell, dass Niels sich schützend den Arm vors Gesicht hielt. Dann verging es, und das Apartment war wieder so dunkel wie zuvor.

Sie waren allein.

Niels spürte, wie die Anspannung von ihm wich, seufzend ließ er sich zu Boden fallen und stützte den Kopf in die Hände. Dann sah er zu Ethan. Der hatte sich ebenfalls gesetzt, die Knie angezogen, sein Kopf ruhte zwischen seinen Armen. “Bist du ok?” fragte Niels den Älteren, doch der antwortete nicht. Niels nickte nur und legte sich auf den Rücken. Lange blieb er so liegen, seine Gedanken wanderten nach München, nach Chicago, und in ein kleines Dorf im Bayrischen Wald. Dann fiel ihm etwas ein. Er nahm die Aufzeichnungen der beiden Fitzgeralds und packte sie in seine Tasche. Er würde sie später Cedric geben, der konnte entscheiden, was damit passierte, aber sie sollten nicht hier bleiben und eventuell einem Bautrupp zum Opfer fallen.

“Ethan?” Niels sah, dass der Ältere immer noch mit gesenktem Kopf am Boden saß. “Ethan, wir müssen gehen.” “Mhm”, machte Ethan nur, stand jetzt aber auf und folgte Niels nach draußen.

Es war inzwischen richtig dunkel geworden, die Gegend immer noch menschenleer, und niemand schien die beiden jungen Männer zu beachten, während sie die Waffen wieder in den Kofferraum des Chevys packten. “Du kannst mich an der nächsten U-Bahn-Haltestelle rauswerfen, wenn du es eilig hast”, meinte Niels, obwohl ihm der Gedanke, Ethan alleine zu lassen, nicht so behagte, und auch er hatte immer noch Redebedarf.

¤¤¤

Der Ältere zündete sich jetzt eine Zigarette an, nahm einen langen Zug und holte dann tief Luft. “Oh Mann.” Das war… anstrengend. Nicht nur das Vorlesen. Da hatte sich zwar bei der dritten oder vierten Wiederholung tatsächlich so etwas wie Übung eingestellt, und wie er zu Niels gesagt hatte: Es war ja auch wichtig gewesen. Trotzdem aber schwierig genug. Aber auch die beiden Geister bei ihrem Kampf um ihre beinahe verloren geglaubte Liebe zu beobachten, mit ihnen zu hoffen und zu bangen und ihren Schmerz mitzuerleben… Nicht das, was Ethan erwartete, wenn er jagen ging, eigentlich. Normalerweise hieß jagen Monster erlegen. Wobei. Gerade Geister. Geister mit traurigen Geschichten. Dimmitt fiel ihm ein, und Monty Clift. Blieb eben doch nicht aus, dass man mitfühlte. Auch wenn einem das das eigene Gepäck nur allzu deutlich wieder ins Gedächtnis rief.

“Die Leute einfach ausgraben und die Knochen anzünden war irgendwie leichter”, meinte Niels mit einem schiefen Lächeln. Wieso hatte eigentlich ausgerechnet sein streng katholischer Stiefvater auf solch einer Brachialmethode bestanden? “Wie geht es dir?” wandte er sich dann an Ethan. “Sorry. Wenn du nicht reden willst… ich wollte nicht… Ich kann auch einfach gehen.”

Ethan schüttelte den Kopf. “Mm-mm. Muss nur…” Mit einer etwas hilflosen Geste zuckte er die Achseln. “Puh.” Muss nur… was? Runterkommen? Fertig rauchen? Nach den vielen verbrauchten Wörtern erst einmal den Speicher wieder füllen? Er brachte ein schiefes Halblächeln zustande und zog wieder an seiner Zigarette. “Geht ok.” Würde schon. Er musste nur zusehen, dass er sich wieder soweit gefangen hatte, bis er in Tappan ankam. “Danke. Dir?”

Niels sah in die Ferne. “Geht schon. Da ist einiges wieder hochgekommen. Ich fürchte, das wird mir noch das eine oder andere Mal passieren. Aber es wird besser.” Schlimmer konnte es auch eigentlich nicht mehr werden, wenn er an Zigzag dachte.

“Mhm”, machte Ethan, als Niels von ‘einiges wieder hochgekommen’ sprach. “Auch.” Für einen Moment überlegte er, ob er dem Jüngeren wortlos seine Zigarettenschachtel hinhalten sollte, aber dann unterbrach er sich im schon begonnenen Bewegungsansatz und steckte das Päckchen stattdessen in die Jackentasche. “Ungesund”, schob er hinterher. “Besser nicht.”

Trotz der angespannten Situation musste Niels jetzt doch grinsen. “Warum machst du es dann?” fragte er Ethan. “Sorry. Rauchen war nie mein Ding. Ich habe nur eine Sucht.” Er schob einen Ärmel der Winterjacke nach oben, so dass der Sleeve sichtbar wurde. Auf beiden Seiten verdeckten die Bilder hier wie auf seinem Rücken die Spuren dessen, was er in seiner letzten Nacht im Keller hatte erleben müssen.

Niels’ Frage ließ Ethan mit einem verlegenen Schmunzeln wieder die Schultern heben. “Gewöhnung. Sucht. Hilft.” Dann betrachtete er interessiert die Motive, die Niels mit dem Hochschieben seines Jackenärmels zum Vorschein brachte, und schnaubte amüsiert. “Ich nun nicht. Nicht mal das Dämonending.”

Niels nickte, er wusste, was Ethan meinte. Er hatte darüber nachgedacht, aber als er angefangen hatte, die Spuren seiner Vergangenheit unter Farbe zu verstecken, war er davon ausgegangen, nie wieder zu jagen. “Ich glaube, das ist meine Therapie. Meine Art, damit fertig zu werden, was ich erlebt habe. Und man kann wunderbar Narben damit verdecken.” Er verzog das Gesicht. “Felicitys Grandpa meinte, er hätte erwartet, dass ich aussehe wie ein afrikanischer Stammeskrieger”, meinte er jetzt und musste wieder grinsen, als er an Cedrics Gesicht dachte. “Fuck. Sie fehlt mir.”

Ethan kaschierte eine etwas unbehagliche Grimasse mit einem weiteren tiefen Zug an der Zigarette. “Schon England?” Kurz sah er zu Niels hin und nickte leicht. “Weit weg. Versteh ich. Aber: Fon? Skype? Feiertage. Gelegenheit?”

“Sie wird wohl für die Weihnachtstage nach New York kommen”, antwortete Niels. Er hatte Angst vor dieser Begegnung. Er hatte Felicity nach seiner Rückkehr aus Leavenworth den Brief seiner Mutter gezeigt, und sie hatte ihm dafür wortlos die Tür gewiesen. Auf Anrufe oder Whatsapp-Nachrichten hatte sie nicht reagiert, und die Mitteilung, dass es Emily gut ging, hatte sie mit einem knappen “Danke” quittiert. “Vielleicht können wir dann reden. Ich kann doch auch nichts für all das hier.”

‘Ich kann doch auch nichts für all das hier.’ Das klang nicht gut. Das klang ganz gewaltig so, als mache Fey ihren unehelichen Halbbruder für die Untreue ihres Vaters verantwortlich. Ethan verzog das Gesicht. “Leid, Mann. Echt. Wünsch’s dir.”
Die Zigarette war inzwischen halb aufgeraucht, und Ethan sah einen Moment lang in die Glut an deren Spitze, ehe er zögernd weitersprach. “Fey… naja.” Drecksmist. Wie sagte er das am besten? Immerhin war sie die Schwester seines Gegenübers. “Sehr absolut, glaub. Schwarz-weiß. Wenig Kompromisse.”

“Sag es ruhig, wie es ist. Sie kann manchmal eine ziemliche Bitch sein.” Niels dachte daran, wie seine Schwester Nelson Akintola abserviert hatte. Sicher, er hatte den redseligen aufdringlichen Afrikaner nicht besonders leiden können, aber er hatte es bestimmt nicht verdient, dass Liz ihn so degradierte. “Sie war halt immer ein Einzelkind. Jetzt muss sie sich die Aufmerksamkeit teilen.” Die Aufmerksamkeit eines Toten. Eines Mannes, den er in Gedanken immer noch als ‘Onkel Jacob’ bezeichnete, weil er sich nicht daran gewöhnen konnte, dass er sein Vater war. “Aber auf der anderen Seite war sie für mich da, als es mir so dreckig ging, dass ich nicht mehr wusste, wie ich weitermachen soll. 2016 war an manchen Stellen ein ziemliches Scheissjahr.” Er atmete tief durch. “Manchmal wache ich auf und denke, ich träume das alles nur. Aber ich weiß nicht, welchen Teil.”

Ethan legte nachdenklich den Kopf schief. “Viel passiert. Sehr viel.” Oh Mann. Wenn das mal nicht die Untertreibung des Jahres war. Ein schwaches Lächeln zog über sein Gesicht. “Letztes Jahr diese Zeit?” Er schnaubte in ehrlicher Belustigung. Letztes Jahr um diese Zeit war genau der Tag gewesen, an dem er nach Baltic aufgebrochen war. Der Tag, an dem er Barry kennengelernt hatte. Und später, in dem Höllenhaus, Artie.
Da hatte er Irene zwar schon gekannt – und Sam, fuhr es ihm durch den Kopf; erstaunlich eigentlich, dass die erste Begegnung mit ihr so völlig unspektakulär abgelaufen war, dass er bei diesem ersten Treffen in Hectorville Ende November noch gar nichts groß an ihr gefunden hatte -, aber die wirklichen Veränderungen hatten in und mit dem Höllenhaus begonnen. Ziemlich unglaubliche Veränderungen, wenn er es sich recht überlegte. Es war tatsächlich ein völlig anderer Ethan, der heute hier stand. Sein Lächeln vertiefte sich. Nein, ‘Scheißjahr’ konnte man seines nun wirklich nicht nennen, auch wenn es natürlich seine Tiefen gehabt hatte. “Nicht erkannt.”

Niels stutzte. “Was meinst du damit?” Er verstand nicht, was Ethan ihm sagen wollte. Offensichtlich etwas Positives, seinem Lächeln nach zu urteilen. Dann begriff er. “Ich hätte dich vor einem Jahr nicht erkannt?” fragte er, und Ethans Nicken zeigte, dass er richtig geraten hatte. Er überlegte. Vor einem Jahr hatte er gedacht, dass er einfach nur ein Kunststudent sein könnte, dass er vergessen könnte, was passiert war. Er war der festen Überzeugung gewesen, wenn er nur fest daran glaubte, würde all das, was Gustav und seine Brüder ihm angetan hatten, verblassen und nie wieder auftauchen. So funktionierte das menschliche Gehirn aber leider nicht, das hatte er schmerzlich erfahren müssen. Langsam kam mit der vergraben geglaubten Erinnerung auch wieder das Wissen darum, dass Gustav und Joseph billigend in Kauf genommen hatten, dass er hätte sterben können. Dass er beinahe gestorben war, wenn er an den besorgten Ausdruck des Arztes in Rosenheim dachte.
“Vor einem Jahr war ich auch noch ganz anders drauf,” meinte er jetzt in Richtung Ethan. “Ich wollte kein Jäger mehr sein. Ich wollte mit meinem Freund glücklich sein. Hat irgendwie nicht so wirklich geklappt, und ein Großteil davon ist meine eigene Schuld. Weglaufen funktioniert nur bis zu einem bestimmten Punkt.”

Bei Niels’ letzten Worten schnaubte Ethan wieder, aber diesmal eher selbstironisch als belustigt. “Wahr. Zehn Jahre, bei mir. Fast elf.” Er bedachte den Deutschen mit einem aufmerksamen Blick. “Mal drin, schlecht raus, hm? Geht aber. Wenn. Wenn nicht.” Er musste schlucken, als der Stachel der Schuld ihn wieder einmal traf. Hätte er eigentlich damit rechnen können, wenn es schon um das Thema ging, aber trotzdem konnte ihn die Heftigkeit des Gefühls bisweilen immer noch überraschen. Mit einigen hastigen Zügen rauchte er seine Zigarette zuende. Trat den Stummel heftiger aus, als es vielleicht notwendig gewesen wäre, und stieg in den Mietchevy, ehe er Niels von innen die Beifahrertür öffnete und mit der nächsten Handbewegung die Heizung aufdrehte. “Steig ein. Kalt.”

Niels stieg ein und rieb seine Hände aneinander. “Danke nochmal, für alles. Du bist echt in Ordnung. Das hab ich dir glaube ich schonmal gesagt.” Dann überlegte er, als Ethans Worte sich gesetzt hatten. “Zehn Jahre?” fragte er, “du bist zehn Jahre lang weggelaufen? Oh Mann. Krasse Scheiße, Alter. Und ich dachte, ich wäre ein Meister der Verdrängung.” Er schüttelte leicht den Kopf, doch dann fiel ihm ein, dass er seit fast vier Jahren nicht mehr mit seiner Mutter gesprochen hatte, dass Maria Heckler ihn wahrscheinlich noch nicht einmal mehr erkennen würde, wenn er ihr auf der Straße begegnete. Dann wurde ihm bewusst, was er gesagt hatte. “Sorry. Das war… Entschuldigung. Ich wollte nicht… Es tut mir leid. Du hast bestimmt deine Gründe. Und… geht mich nichts an.” Er merkte, wie er sich verhaspelte, etwas, das ihm immer noch häufig passierte, wenn er sich auf unsicherem Terrain bewegte. Gustav hatte versucht, ihm diese Angewohnheit mit Ohrfeigen und der Ansage “Red’ wie ein Mann, Aaron!” auszutreiben, was natürlich absolut kontraproduktiv gewesen war und dazu geführt hatte, dass er zeitweise gar nicht mehr gesprochen hatte. Aber Gustav war es sowieso lieber gewesen, wenn man Jacobs Bastard weder sah noch hörte.

Ethan verzog das Gesicht, schüttelte aber den Kopf. “Hätt ja nix sagen müssen. Und ja. Grund. Monster. Hätte alle umgebracht. Erst jedenfalls. Aber dann? Danach?” Ethan zog wieder eine Grimasse und seufzte. “Mussten denken, ich bin tot, und ich… Feige. Dachte…” Er musste schlucken, als ihm die Enormität seiner eigenen Dummheit wieder ins Bewusstsein trat. “Wusste nicht, wie… Fehler.” Ein Fehler, mit dem er womöglich seine Eltern auseinandergebracht hatte. Durch den er seinem Bruder eine Karriere in irgendeinem geld- und prestigeträchtigen Beruf verwehrt hatte. Stattdessen war Alan zum NYPD gegangen; würde vielleicht, ganz wie Phelan Fitzgerald, nie über den Rang des uniformierten Officers hinauskommen. Und ein Fehler, der vermutlich bedeutete, dass sie in Tappan jetzt voller Sorge im Haus herumtigerten oder aus dem Fenster starrten, weil er noch nicht angekommen war. Ein Wunder, dass sie ihn noch nicht mit SMS zugepflastert oder angerufen hatten, wo er blieb. Als er das Wort wiederholte, tat er es mit ziemlichem Nachdruck. “Fehler.”

“Puh.” Niels wusste nicht wirklich, was er dazu sagen sollte. “Das… das tut mir so leid, ehrlich. Und ich halte dich wahrscheinlich auch noch davon ab, zu deiner Familie zu fahren. Ich bin so ein Idiot.” Er verzog das Gesicht. “Aber… ich habe seit vier Jahren nicht mehr mit meiner Mutter gesprochen. Ich wollte… ich würde. Ich hab’ Angst. Aber sie weiß immerhin, wo ich bin.” Niels hoffte zumindest, dass sie das wusste, und dass Angelika sie auf dem Laufenden hielt, was ihren Jüngsten anging. Der Gedanke an seine Mutter war ein weiteres Kapitel in der Sammlung “Dinge, die wieder nach oben wollen”. Seine Mutter durfte niemals erfahren, was geschehen war. Er wollte das Thema wechseln, und vorhin hatte Ethan etwas erwähnt, das seine Aufmerksamkeit erregt hatte. “Habe ich das richtig verstanden, du warst auch mal kein Jäger?” Er biss auf sein Zungenpiercing, hoffentlich war das nicht zu privat, aber er wollte nicht mehr über Maria Heckler nachdenken. Dafür war er immer noch nicht bereit.

“Gut, dass sie’s weiß.” Das kam mit Nachdruck, ehe Ethan sich Niels’ Frage zuwandte. “Mhm. Bis sechzehn keine Ahnung. Ich nicht. Familie nicht. Deswegen ja. Zu gefährlich. Und: Wie erklären?” Er schnaubte leicht, als er wieder daran denken musste, wie er im Sommer versucht hatte, den Harrdhu als ‘verrückten Mörder’ darzustellen und so grandios daran gescheitert war. Vor allem bei Alan. Dann runzelte Ethan die Stirn. Das hatte der jüngere Jäger vermutlich gar nicht gemeint mit seiner Frage. Er nickte dem Studenten zu. “Und ja. War mal raus. Knapp ein Jahr. Wollte länger. Eigentlich für immer.” Er biss die Zähne aufeinander. “Aber.”

“Es holt einen wieder ein, egal, wo man hingeht. Man kann es nicht abstellen.” Niels dachte daran, wie Gustav in München bei ihm und Philip aufgetaucht war. Er hatte immer noch keine Ahnung, wie sein Vater das geschafft hatte, aber vielleicht hatte er Benedikt einfach auf seine Frau angesetzt oder ähnliches, das Niels sich gar nicht vorstellen mochte. “In meinem Fall liegt es mir im Blut.” Er hatte jedoch den Eindruck, dass das nicht das war, was Ethan gemeint hatte. “Bei mir war es tatsächlich in Meredith, wo ich wieder so richtig mit dem Übernatürlichen konfrontiert wurde.” Die Gitarre auf dem Festival zählte er jetzt nicht wirklich als Jagd-Erlebnis, das war eine nette Anekdote, die er sogar nicht eingeweihten Personen erzählen konnte. Aber Meredith, das war ein anderes Kaliber gewesen. “Ich wollte es nicht. Aber.”

“Verstehe”, murmelte Ethan. Meredith. Der Name des kleinen Ortes brachte ihm die Bilder wieder ins Gedächtnis. Der Junge mit den herausgeschnittenen Augen. Die beiden schwarzäugigen Dämoninnen. Die Anstrengung des Exorzismus. Der Schmerz in den Ohren. Und das Gespräch mit Niels. Ethan musste ein wenig schmunzeln, als ihm wieder einfiel, wie sicher er sich für eine Sekunde gewesen war, dass der hitzköpfige junge Deutsche ihm eine reinhauen würde, als er erkannte, wen er vor sich hatte. Wie Niels versucht hatte, zurückzurudern, um ihm und Fey ihre Privatsphäre zu lassen. Damals hatte Ethan nur ein ‘kompliziert’ herausgebracht. Aber Niels verdiente es zu wissen, was zwischen seiner Schwester und ihrem Ex gestanden hatte. Ethan atmete tief durch. “Fey. Ging nicht. Musste… Hätte sie umgebracht.”

“Umgebracht?” echote Niels. Wovon verdammt nochmal redete Ethan da? “Was… verdammt, umgebracht?” Hatte er sich verhört? War das ein schlechter Scherz?
Ethan schluckte kurz, ehe er nickte. Das Gesicht verzog. “Fluch.”
Niels überlegte jetzt ernsthaft, ob Ethan ihn zum Narren halten wollte. “Was für ein Fluch denn? Wenn du einer Frau zu nahe kommst, fällt sie tot um?” Flüche waren etwas für Gustav Hecklers engstirniges Weltbild, das hinter dem Ortsschild von Rabenstein endete. Niels hatte niemals damit gerechnet, dass es so etwas wirklich gab.

Ethan zog die Brauen zusammen, als er Niels’ spöttischen Tonfall hörte. “Fast.” Nur mit Mühe presste er das Wort heraus, und beinahe hätte er es dabei belassen. Aber Niels verdiente es zu wissen, warum er Fey abgesägt hatte. “Beim dritten Mal.” Die Erinnerung an Coleens Spottlied dröhnte ihm in den Ohren, überlaut, und Ethan schloss die Augen. Ballte die Fäuste. Nur zweimal hatte er den zweiten Vers je zu hören bekommen. Fanal. Warnung. Beim zweiten Mal jedenfalls. Oh Himmel, wie hatte er ihn beim ersten Mal nur ignorieren können? Einfach abtun? Mit all seiner Erfahrung, all dem Training, das er von Cal bekommen hatte, all seinen Jägerinstinkten, auch wenn es nur zwei Jahre gewesen waren? Zwei Jahre Vollzeitjagd, das hätte genug sein müssen. Er konnte nicht sagen, er habe es nicht wissen können. Er hätte es wissen können. Er hätte es wissen müssen. Ethans Wangenknochen traten noch etwas mehr hervor als normalerweise ohnehin schon, so stark biss er die Kiefer aufeinander.

Fuck. Fuckfuckfuck. Niels hatte einen schlechten Witz machen wollen, hatte wieder schneller geredet als gedacht. Aber das hier war kein schlechter Witz, das hier war verdammt nochmal die Realität. “Fuck”, entfuhr es ihm dementsprechend. “Sorry, es tut mir leid… ich weiß, ich sollte manchmal erst denken und dann reden. Aber ich dachte echt… nein, ich hab überhaupt nicht gedacht. Fuck!” Wütend auf sich selbst und seine Reaktion tat Niels das erstbeste, was ihm in den Sinn kam: Seine Faust in irgendetwas schlagen. Die Innenverkleidung des Chevys war allerdings wenig beeindruckt von seiner Schlagkraft, das graue Kunstleder verzog sich etwas und ging dann in seinen alten Zustand zurück. “Wusste Liz das alles?” wollte er jetzt wissen, nachdem er tief Luft geholt hatte, um sich zu beruhigen.

Reiß dich zusammen. Reiß. Dich. Verdammt. Nochmal. Zusammen. Mit einiger Anstrengung brachte Ethan sich zurück unter Kontrolle und schüttelte den Kopf. Nickte dann und hob schließlich etwas hilflos die Schultern. “Erst nicht. Wusste nicht, dass sie… bescheid wusste. Wie erklären? Fluch? Haha. Eh nicht geplant. Einmal… One Night Stand. Kommt vor. Zweites Mal… Weile später. Plötzlich: Puh. Gefühle. Ging nicht. Durfte nicht. Wie gesagt: wie erklären? Also… feige.” Ethan zog ein verlegenes Gesicht. “Standard-Arsch-Spruch. Nicht du, ich. Besser, dachte ich. Haha.” Er seufzte. “Nur dann: Job. Fey: Jägerin. Also doch erzählt. Ähm. Naja. Als sie fragte. Dachten dann, wir versuchens. Fluch lösen, gemeinsam. Nur…” Ethan seufzte, drehte die Handflächen nach oben. “Doch nicht genug Gefühle.” Da war es dann Fey gewesen, die ihn abgesägt hatte. Aber das musste er Niels nicht unbedingt aufs Brot schmieren.

“Und jetzt? Ich meine, du bist das Ding doch immer noch nicht los. Was machst du jetzt?” Er erinnerte sich an ihr Gespräch vorhin auf der Straße. “Du hast doch eine Freundin, oder? Wie…” Nein, das ging ihn nichts an. Man konnte auch eine Beziehung führen, ohne Sex zu haben, denn anfassen ging ja offensichtlich. “Und Liz hätte ich mehr zugetraut. Aber die scheint ja wirklich in diesen Lord Alfie verknallt zu sein.” Niels schüttelte sich. Er hatte nie herausgefunden, was an ihm Alfred Cochrane-Bannister nicht gepasst hatte: Sein Aussehen, seine Herkunft, seine Sexualität – oder alles zusammen. Er legte auch keinen Wert darauf, es herauszufinden, und er hoffte, dass der Adlige nicht Felicitys Wut auf Niels für sich nutzte und die Kluft zwischen den Geschwistern vertiefen wollte. “Sorry. Der Kerl ist so spannend wie eine Büroklammer und so sexy wie ein Stück Holz. Und ich will eigentlich gar nicht über ihn reden.”

“Ich lebe damit”, antwortete Ethan auf Niels Frage. “Muss ja. Freundin? Geht irgendwie. Händchenhalten und hoffen. Soll n Weg geben, angeblich. Wir suchen. Teil haben wir schon.” Wieder hallten Sams Worte in seinem Kopf nach, und diesmal sprach er sie aus, während er, beinahe als sei das ein Halt für ihn, seinen Anhänger mit dem Baum des Lebens berührte. “Fluch loswerden, dann weitersehen.” Er sah zu Niels hinüber, lächelte dann schief. “Hab gemeint, was ich in Meredith gesagt hab. Ich wünsch Fey alles Glück.”

“Ich ihr ja auch. Nur vielleicht nicht unbedingt mit Alfred, sondern… “ Mit dir? Schon eher, auch wenn da immer noch dieser ganz leichte Stich war, ein kleines Pieksen in der Magengrube. Er erinnerte sich an Ethans Zögern vorhin, als bei ihm der Groschen gefallen war, dass Niels schwul war. Jetzt oder nie. Irgendwann würde Ethan doch erfahren, wie seine Gefühle ihm gegenüber gewesen waren, und da konnte er es ihm auch gleich selber sagen. “Ich… ich muss dir was sagen. Wegen Meredith. Warum ich damals zu dir und Lyle gekommen bin. Warum ich auch zu euch gekommen bin.” Ethan warf ihm einen langen Blick zu, aber Niels merkte, dass ihn dieser Blick nicht mehr so nervös machte wie damals. Vielmehr musste er an einen anderen Mann denken, dessen Bild sich jetzt vor das von Ethan schob in seinen Gedanken. “Ich… ich… Verdammt, ich wollte dich kennenlernen. Du warst… bist… mein Typ. Ich glaube, ich war schon ein bisschen verknallt in dich.” Ethan sagte nichts, und Niels schob sicherheitshalber hinterher: “Aber das ist vorbei. Und abgesehen davon, du bist nicht nur hetero, sondern der Ex meiner Schwester. Alles safe.”

Oh. Oho. War sein Gedanke vorhin also doch nicht so falsch gewesen. Nur das jetzt so rundheraus bestätigt zu hören… “Ähm. Also. Ähm”, druckste Ethan und schimpfte sich innerlich einen Idioten. Reiß dich zusammen. Ernsthaft jetzt! Nur weil er gesagt hat, dass er mal in dich verknallt war, ist er doch jetzt nicht auf einmal eine Gefahr – oder hast du etwa Angst, der könnte dich umdrehen? Also.
Ethan räusperte sich und versuchte es von neuem. “Vorhin. Als du’s gesagt hast. Fast schon sowas gedacht. Wegen May Creek.”

“Kommst du damit klar?” wollte Niels wissen. “Ich meine, ich kenne genug Leute, die ein Problem mit Schwulen haben.” Er holte tief Luft, bevor er sich seine nächsten Worte überlegte. Aber Ethan hatte ihn ins Vertrauen gezogen, und er hatte ihn bis jetzt noch nicht gebeten, wieder auszusteigen, weil er Angst hatte, dass Niels ihm an die Wäsche ging. “Die ein großes Problem mit Schwulen haben. Wie mein Bruder und mein… Stiefvater. Mein zweiter Bruder hat ihnen gesteckt, dass ich mich darüber informieren wollte, wie ich damit lebe, ich meine, ich bin in einem streng katholischen Elternhaus groß geworden, Schwule sind des Teufels für meinen Stiefvater.” Er stockte kurz. “Das hab ich dann am eigenen Leib erfahren dürfen.” Er schob sich noch einmal den Ärmel hoch, denn aus der Nähe sah man auch unter den Tätowierungen die Narben an seinen Handgelenken. “Sie haben mir regelrecht aufgelauert. Dann wurde ich in den Keller gesperrt und dann…” Niels spürte, wie seine Stimme versagte, er konnte es immer noch nicht aussprechen. Er zog die Winterjacke aus – egal, was Ethan jetzt dachte – und schob seinen Hoodie und das Shirt nach oben. “Das.”

Oh Mann. Oh. Mann. “Scheiße”, entfuhr es Ethan, als er die Narben sah, die von den Tätowierungen auf Niels’ Rücken zwar kunstvoll, aber nicht vollständig verborgen wurden. “Verdammte Scheiße!” Elender Drecksmist, was waren das für Ungeheuer, die einem Verwandten – einem Jugendlichen! – so etwas antaten? Die überhaupt einem Mitmenschen so etwas antaten. Calebs Vater fiel ihm ein. Samanthas Eltern. Lag sowas Jäger-Familien im Blut? Aber Colonel Hagen war kein Jäger gewesen, soweit Ethan wusste, und Sams Eltern hatten bei aller unbarmherzigen Strenge, gnadenlosem Drill und ständigem durch Monster in Lebensgefahr bringen – wofür Ethan sie immer noch aus vollstem Herzen hasste – ihre Tochter niemals derart ausgepeitscht. Sprachlos starrte Ethan den jungen Deutschen an, bis er dann doch irgendwann die Worte wiederfand. “Scheiße, Mann. Das… Oh Mann. Tut mir leid.” Er runzelte die Stirn. “Schwulsein austreiben, oder wie? Oh Mann.” Scheiße. Er wusste echt nicht, was er darauf sagen sollte. Vielleicht am besten das Thema… nicht wechseln, aber auf Niels’ Frage antworten. “Ob ich klar komme? Weiß nicht. Glaub schon. Hoffe. Werd mein Bestes tun. Ist… klingt albern, aber kenne nicht viele Schwule bisher. Gar keine eigentlich. Muss ich vielleicht erst ne Weile verarbeiten. Wenn… Wenn ich komisch zu dir sein sollte, dann deswegen. Nicht wegen dir.” Zögernd fuhr er sich mit der Hand durch die Haare. “Macht das Sinn?”

Niels zog sich die Jacke wieder über, er zitterte, und das nicht nur wegen der Kälte, die in den Chevy kroch. Ethan war der zweite Mensch neben Irene Hooper-Winslow, der wusste, was passiert war, und es fühlte sich immer noch sehr seltsam an. Selbst Felicity und Delia wussten nicht so genau Bescheid. Felicity gegenüber hatte er die Narben nicht erklären müssen, sie war davon ausgegangen, dass es Gustav gewesen war, und vor Delia hatte er sich bisher immer versteckt.
Er nickte auf Ethans Frage. “Wenn das mit Dämonen klappt, warum dann nicht auch bei… sowas? Muss man nur härter durchgreifen. Dämonen bedrohen einen schließlich nicht in seiner Männlichkeit.” Er merkte, wie er sich wieder in den Sarkasmus floh, mit dem er eine Distanz zu dem Erlebten aufbaute. “Und hey, du bist schon mal nicht schreiend weggerannt oder hast mir gesagt, ich sei unnatürlich”, meinte er dann auf Ethans Erklärung hin. “Damit kann ich leben, das ist ok. Wir haben heute beide einiges über den anderen erfahren, was sich setzen muss. Ich würde mich freuen, wenn du mir nicht völlig aus dem Weg gehst, aber ich könnte es verstehen.”

Ethan nickte erst zu Niels’ Worten, schüttelte dann aber gleich darauf den Kopf. “Quark.” Beinahe empört sah er den Studenten an. “Völlig aus dem Weg gehen? Sehen uns eh nicht so oft. Und außerdem: Quark. Nicht so viele gute Jäger da draußen, denen man so viel erzählt hat und von denen man so viel weiß.”
Ein schiefes Lächeln zog über Ethans Gesicht, als ihm bewusst wurde, wie sehr er sich in den letzten Minuten warmgeredet hatte. Nicht, dass er es bedauerte. Er hätte zwar im Leben nicht damit gerechnet, dass er Niels Heckler so viel anvertrauen würde, und der ihm, aber irgendwie fühlte es sich richtig an. “Danke dafür, übrigens. War bestimmt nicht leicht. Weiß das Vertrauen echt zu schätzen.”
Flüchtig überlegte er, wie es Niels wohl damit ging, wegen seiner Neigungen von allen möglichen und unmöglichen Seiten angefeindet zu werden. Und – bei dem Gedanken an die Narben, die der Jüngere ihm eben gerade gezeigt hatte, lief es ihm immer noch kalt den Rücken herunter – Schlimmeres. Viel Schlimmeres. Scheiße. Die eigene Familie, verdammt. Nur, weil der Junge sich von Männern angezogen fühlte. Ja, in der Bibel mochte irgendwo geschrieben stehen, dass Männer nicht mit Männern liegen sollten, aber sogar von den Kirchen war das doch inzwischen schon größtenteils akzeptiert, oder? Ganz abgesehen davon, dass der Herrn der Welt sich vermutlich ohnehin keinen Deut darum scherte, wenn der nicht seit der Apokalypse doch wieder angefangen hatte, Interesse an seiner Schöpfung zu zeigen. Und selbst wenn: Nur weil man laut Bibel nicht mit Männern schlafen durfte, hieß das doch noch lange nicht, dass Männer, die sich so fühlten, sich nicht so fühlen dur–
Ach. Du. Scheiße. Ethan konnte ein halb sarkastisches, halb ehrlich amüsiertes Auflachen nicht unterdrücken. Mit einem belustigten Schnauben lehnte er den Kopf in den Nacken und grinste die Autodecke an. Oh Mann. Was für eine unglaubliche Ironie.

“Was?” Niels verstand nicht, was in Ethan vorging, und er würde gerne mitlachen. Was war auf einmal so komisch?

Niels‘ Frage, oder besser der indigniert-verständnislose Tonfall, in dem der junge Deutsche sie stellte, hätte Ethan beinahe wieder ein Auflachen entlockt, aber er rief sich zur Ordnung und drehte sich zu dem Studenten um. “Tschuldigung. Ist. Ist mir nur grad” – jetzt konnte er den amüsierten Pruster doch nicht unterdrücken – “was aufgefallen. Fluch. Schlecht formuliert. Ausdrücklich Sex. Händchenhalten geht. Kuscheln geht.” Ethan zögerte kurz, aber weniger, weil es ihm peinlich war oder weil die Worte nicht kommen wollten, sondern diesmal tatsächlich ausnahmsweise für eine kleine, effektvolle Pause. “Und ausdrücklich Frauen.” Er grinste ein Grinsen, das sich der Ironie der Situation vollkommen bewusst war. “Wär doch die Lösung. Scheiß auf den Fluch.” Ein letztes Schnauben, dann wurde Ethan wieder ernst. “Müsst mich nur in n Typen verlieben. ‚Nur‘. Ha. Nunmal nicht.” Aber sowas von gar nicht. Ethan stellte fest, dass der Gedanke ihn nicht mit Abscheu erfüllte oder er ihn für widernatürlich hielt; die Vorstellung war nur einfach so vollkommen nicht seins. Fremd. Nichts als kühle, nüchterne Theorie. Und außerdem: Sam. Von ganzem Herzen. “Nix für ungut.” Er lächelte schief. “Also doch weitersuchen. Haben ja schon zwei von drei Sachen. Oh. Übrigens. Danke nochmal. Dein Bild war echt nützlich. Nummer zwei und so.”

“Ich würde dich immer noch nicht von der Bettkante schubsen”, meinte Niels jetzt und musste grinsen. “Aber ich glaube nicht, dass dir das irgendwie hilft oder dass du das wirklich willst. Du stehst auf Frauen. Fertig.” Er grinste immer noch, als er meinte: “Davon abgesehen, für Experimente stehe ich nicht zur Verfügung.” Er hatte noch nie verstanden, was so interessant daran war, einen Hetero zu knacken. Wahrscheinlich war das genauso ein Ding wie eine bestimmte Frau ins Bett zu kriegen. Sicher, er hatte One-Night-Stands gehabt – ganze zwei – aber das war nichts für ihn. In Liebesdingen war er konservativ, und wenn es nach ihm gegangen wäre, wäre er auch nicht unbedingt Single. Aber dass es mit Philip auseinander gegangen war, das war zu einem großen Teil seine eigene Schuld.
Er schüttelte nur leicht den Kopf, dann fragte er: “Mein Bild? Welches Bild?”

Ethan sah den Studenten einigermaßen erstaunt an. “Zeichnung. Skyline. Barry nichts gesagt? War Philadelphia.” Das nächste Wort knurrte er beinahe. “Hexe.”

Niels war überrascht. “Barry hat nichts gesagt. Er hat mich gefragt, ob ich eine Zeichnung für ihn anfertigen könnte, nach einer Beschreibung, die er mir schickt. Er hat mir aber nicht verraten, dass die für dich war.” Er überlegte kurz, dann musste er grinsen, als er an die “Bezahlung” dachte. “Er hat mir eine Kiste Bier geschickt als Dank. Das fand ich großartig, ich hab fast ein bisschen Heimweh bekommen.”

Ethan nickte. “War für mich. Lange Geschichte, aber: Hinweis auf die Hexe. Brauchte was von ihr. Zum Fluchlösen.” Er verzog das Gesicht, als er an das Escherhaus zurückdachte. An die gehirngewaschenen Bewohner. An die vergifteten Kratzer, die Coleens Kater Sam beigebracht hatte. “Habens bekommen. Aber war… unschön.” Kurz presste Ethan die Lippen aufeinander, ehe er den Kopf schüttelte und durchatmete. “Nur noch eins jetzt.” Zukunft. Heh. Wie auch immer das gehen sollte. Musste er sich demnächst auch mal ernsthaft Gedanken drüber machen. Aber eins nach dem anderen. Die Wiccas aus Pemkowet hatten sich auch noch nicht zu dem Ritual geäußert. Ethan straffte sich und sah den jüngeren Jäger direkt an. “Jedenfalls. Dein Bild war wichtig. Also danke.”

Niels spürte, wie er innerlich ein wenig wuchs. “Bitte, gern geschehen. Und wenn du noch irgendwas brauchst – Waffen, Munition, einen Jäger oder einfach jemanden, mit dem du um die Häuser ziehen kannst – dann melde dich.” Er machte eine kurze Pause. “Und ich hab auch zu danken. Das war nicht selbstverständlich, dass du mich begleitest, mir hilfst und das alles. Danke, Mann. Ich hoffe, du kommst noch halbwegs rechtzeitig zu deiner Familie.”

Wieder nickte Ethan. “Klar. Andersrum auch.” Er bedachte den anderen mit einem amüsierten Blick. “Kiste Bier, wie? Wenn du mal in Burlington bist: ganz gute Privatbrauerei.”
Bei der Erwähnung seiner Familie warf Ethan dann einen Blick auf die Uhr. “Geht schon. Stunde Fahrt. Bring dich erst.” Er ließ den Motor des kleinen Mietwagens an und fädelte ihn in den freitaglichen Frühabendverkehr ein.
Manhattan am Tag vor Weihnachten war zwar etwas anstrengend, aber der winzige Chevy nahm deutlich weniger Platz ein als der D21 und fand leichter Lücken im Verkehr, als der Pickup das getan hätte. Es dauerte ein bisschen, natürlich dauerte es, aber etwas über eine halbe Stunde später hielt Ethan vor dem Haus in der Upper East Side, das Niels ihm ausdeutete.
Mit einem anerkennenden Blick auf das vornehme Sandsteingebäude stieg er aus und klappte den Kofferraum auf, damit sein Begleiter seine Sachen herausholen konnte.
Ehe der Student nach der Gewehrtasche und der anderen Ausrüstung greifen konnte, hielt Ethan ihm die Hand hin, den Arm nach oben angewinkelt, und als Niels auf dieselbe Weise einschlug, klopfte Ethan ihm in der kurzen Andeutung einer Umarmung auf den Rücken.
“Wünsch dir was. Feier schön.”

Niels erwiderte die unerwartete Geste. “Du auch. Gute Fahrt, und… hoffentlich wird alles gut. Irgendwie. Wenn ich dir nochmal irgendwie helfen kann…” Er nahm seine Ausrüstung aus dem Kofferraum des Chevys und blieb ein wenig unsicher auf dem Bürgersteig stehen. Mit zusammengekniffenen Augen sah er an dem Haus hoch. “Ich… gehe dann. Vielleicht ist Felicity schon da. Also dann. Man sieht sich.” Er lächelte Ethan noch einmal zu, dann beobachtete er, wie der Ältere in den kleinen Chevy stieg und davonfuhr, dann atmete er tief durch.

Alles wird gut. Irgendwie.

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Niels betrat das Haus, grüßte den Portier und fuhr mit dem Fahrstuhl nach oben. Es schien niemand zuhause zu sein, sicher waren die Jamesons in der Kirche oder bei irgendeiner Wohltätigkeitsveranstaltung. Er betrat sein Zimmer, warf seine Tasche in eine Ecke und machte sich daran, die Winchester und die Luger in ihren Tresor einzuschließen, in Jacobs Arbeitszimmer stand immer noch der Schrank, in dem auch noch einiges andere seiner Ausrüstung lag.
Ein leichtes Grummeln in der Magengegend verriet Niels, dass er schon länger nichts mehr gegessen hatte, und er machte sich auf in Richtung Esszimmer. Er öffnete die Tür und machte gleich wieder einen Schritt zurück, als er Felicity am Tisch stehen sah. “Sorry. Ich wollte nicht… ich wusste nicht…” Sie sah auf, sagte aber nichts. “Wenn du willst, dann gehe ich wieder. Es ist deine Familie, ich sollte nicht stören.” Er hatte zwar keine Idee, wo er hinsollte, aber vielleicht konnte er für die Feiertage bei Chloe unterkommen. Er machte Anstalten, das Esszimmer wieder zu verlassen, als Felicity auf ihn zukam. “Nein, bitte… bleib hier.” Niels sah seine Schwester überrascht an. “Ich möchte mich bei dir entschuldigen.” Immer noch skeptisch, zog er eine Augenbraue hoch, und sie lächelte. “Weißt du, dass du genau wie Dad aussiehst, wenn du das machst?”

Ja, ich weiß, dass ich aussehe wie dein Dad. Das könnte daran liegen, dass ich sein Sohn bin.

“Ich hab dich vermisst, Heckler. Und ich war eine wirklich, wirklich dumme Kuh. Kannst du mir verzeihen?” Sie sah ihn aus großen blauen Augen an, doch er zögerte. Immerhin hatte sie ihn in den letzten Wochen wie Luft behandelt, als sei er ein Aussätziger oder habe darum gebeten, dass sein Leben so eine Wendung nahm.
Als er nicht antwortete, kam sie näher und streckte die Arme aus. “Es tut mir so leid,” murmelte sie, und er merkte, wie schwer es ihr fiel, über ihren Schatten zu springen und einmal zuzugeben, dass nicht alles nach ihrem Willen ging. “Ich war so wütend auf Dad. Wegen dem ganzen hier.” Sie machte eine ausladende Handbewegung, die anscheinend auch Niels und ganz New York mit einschließen sollte, sicher war er sich nicht. Sie wischte sich über die Nase, und Niels bedauerte es in diesem Moment doch, kein Taschentuch dabei zu haben. “Mein Vater ist.. war mein Held. Er war charmant, gutaussehend und der tollste Dad, den ich mir vorstellen konnte. Wir waren die perfekte Kleinfamilie, Mom, Dad und ich. Und dann kommst du plötzlich hier an und alles ist anders.” Niels zog wieder eine Augenbraue hoch. “Glaubst du, für mich ist das einfach? Klar, es erklärt im Nachhinein eine Menge. Aber ich hab nach der ganzen Scheiße in diesem Jahr bestimmt nicht darum gebeten, dass ich zum Abschluss auch noch gesagt kriege, dass ich ein Bastard bin.” Er wurde jetzt langsam wütend, denn Felicitys Bad im Selbstmitleid ging ihm auf die Nerven. “Was willst du eigentlich?” fragte er sie, und er war sich dessen bewusst, wie provokant diese Frage war. Aber anscheinend musste man Felicity mit dem verbalen Äquivalent eines Packen an der Schulter und schütteln kommen. “Ich will mich entschuldigen”, gab sie jetzt trotzig zurück. “Ich habe gestern lange mit Mom geredet. Himmel, wenn sie damit klarkommt, dass ihr Mann fremd gegangen ist und einen Sohn hat, dann sollte mir das doch nicht so schwerfallen.” “Aber?” Niels war sich immer noch nicht ganz sicher, ob das jetzt ein Friedensangebot war. “Kein Aber. Ich will damit sagen, dass du mir verdammt fehlen würdest, wenn es dich nicht gäbe. Und eigentlich ist egal, was uns verbindet. Fakt ist, du kannst nichts dafür, was Dad getan hat. Du bist mein kleiner Bruder, mein Niels. Und ich will dich um nichts in der Welt wieder hergeben.” Tränen standen ihr in den Augen, und jetzt konnte Niels doch nicht anders, er umarmte sie und drückte sie fest an sich. “Du bist wirklich eine dumme Kuh”, flüsterte er in ihre Haare, “aber ich hab’ dich trotzdem lieb.”
Felicity lächelte, als sie sich aus seiner Umarmung löste. “Und jetzt setzen wir uns da rüber, holen uns was zu trinken aus der Küche, und ich erzähle dir alles, was du wissen willst.” Mit diesen Worten ging sie zur Couch, und Niels folgte ihr. Dann jedoch fiel ihm etwas ein, was ihn schon länger umgetrieben hatte. “Liz, meinst du, Jacob… Dad… hätte ein Problem damit, dass ich… wie ich… dass ich auf Männer stehe?” Sie schüttelte energisch den Kopf. “Nein. Vielleicht wäre er nicht gleich begeistert gewesen, aber er hätte definitiv nicht so bescheuert reagiert wie sein Bruder. Dad war schon klar, dass die Welt nicht untergeht, wenn zwei Männer Sex miteinander haben. Und jetzt lass uns Fotos angucken.” Mit diesen Worten zog sie ein Album aus der Tasche, die neben der Couch stand, und bedeutete Niels, sich neben sie zu setzen. Sie schlug das Album auf und nahm ein Bild heraus. Jacob lehnte entspannt an seinem Auto, ein Arm auf das Dach gelegt, er lächelte den Fotografen freundlich an. “Da waren wir in den Catskills. Da war ich elf. Mitten im Urlaub musste Dad weg, weil ein Freund von ihm von einem Geist bedroht wurde. So war er.” Niels lächelte, während er Felicity zuhörte und jedes Wort aufsog. Sie erzählte ihm von weiteren Urlauben, und Niels bekam endlich ein Bild von Jacob, dem Familienvater. Jacob, dem Philanthropen. Jacob, dem Jäger. Irgendwann löste Felicity das Bild vorsichtig aus dem Album und reichte es Niels.
“Damit du Dad immer bei dir hast. Frohe Weihnachten, kleiner Bruder.”

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Bis der kleine Chevy aus Manhattan gekrochen war und die George Washington Bridge hinter sich gelassen hatte, verging nochmal eine gute halbe Stunde. Aber wenigstens war auf der anderen Seite des Hudson River nicht mehr so viel los, und spätestens, als die Straße ein Stück hinter der Brücke in den vierspurigen Palisades Interstate Parkway überging und dieser dann kurz hinter Englewood in den Wald führte, war für den Rest des Weges nur noch wenig Verkehr. Einerseits gut, weil Ethan anstandslos vorankam und es nicht mehr lange dauern würde, andererseits aber nicht so gut, weil er sich nicht mehr so stark auf den Verkehr konzentrieren musste und prompt wieder zu grübeln anfing.

Die Vollsperrung auf der I-678 war inzwischen aufgehoben, teilte ihm der Verkehrsfunk irgendwann mit, der Monsterstau langsam in Auflösung begriffen. Perfektes Timing, was seine Ausrede für die Verzögerung anging. Sehr gut.

Wie im Sommer auch schon, blieb Ethan vor dem Haus seiner Eltern erst einmal ein paar Minuten im Auto sitzen. Rauchen ging in der Mietkarre nicht, aber er atmete tief durch und ging im Geist die Präsentabilitätscheckliste durch. Stiefel: schon lange eingelaufen und das Leder von deutlichen Gebrauchsspuren gezeichnet, aber vorzeigbar. T-Shirt, Hemd und Pullover: völlig in Ordnung. Jeans und Überjacke: etwas staubig von dem verlassenen Geisterapartment. Er klopfte die Hosen ab, so gut es ging, und zog den Mantel kurz aus, um ihm dieselbe Behandlung angedeihen zu lassen. Haare: wirr, aber diesmal hatte er einen Kamm einstecken und bekam seine Frisur einigermaßen gebändigt. Würde nicht lange halten, wie er sich kannte, aber zumindest mal für den Anfang. Kälte und Zittern von dem Kontakt mit Betty Fitzgerald: weg. Gut. Emotionales Gepäck von der Begegnung mit den Geistern und von seinem Gespräch mit Niels: soweit erstmal weggeräumt. Okay. Allgemeines Befinden: wilde Mischung aus Vorfreude und Beklommenheit.

Ethan warf einen Blick aus dem Autofenster zum Haus und dessen festlichem, zum Glück nicht übertriebenem, Lichterschmuck hinüber. Weihnachten. Oh Mann. Er war sich gar nicht mehr sicher, wie er selbst sich in Sachen Weihnachten fühlte. Nicht nach dem, was er inzwischen über die Vorgänge im Himmel wusste. ‚Gott kümmert sich nicht.‘ Wie ging das mit dem Fest zu Jesu Geburt überein? Der Freude über das Geschenk der Gnade Gottes in Christus? So gar nicht, eigentlich. Ethan presste die Zähne aufeinander. Natürlich würden sie morgen, am Heiligabend, den Baum schmücken, wie immer. Und Ethan könnte einiges darauf verwetten, dass seine Eltern darauf bestehen würden, dass er sich daran beteiligte. Natürlich würden sie das. Er war zum ersten Mal seit elf verdammten Jahren wieder an Weihnachten zuhause. Ob sie den filigranen silbernen Engel noch hatten, der von dem Ausflug in das Weihnachtsdorf bei Wilmington stammte? Acht war Ethan da gewesen, und er erinnerte sich noch genau an Alans und seine Begeisterung bei dem Gedanken, Santa und die Elfen zu treffen, auch wenn Mom und Dad ihnen da eigentlich schon gesteckt hatten, dass es Santa und die Elfen gar nicht wirklich gab. Garantiert hatten sie den Engel noch. Oh Mann. Den würde jemand anderes am Baum anbringen müssen, sonst konnte Ethan nicht dafür garantieren, dass das Ding die Aktion unversehrt überleben würde. Gnade Gottes. Oh Mann.

Aber so sehr Weihnachten sich eigentlich um die Geburt Jesu drehen sollte, es war eben auch und vor allem ein Familienfest. Oder zumindest musste er es als das sehen. Zeit für die Familie. Mit der Familie. Das Religiöse ausblenden, so gut es ging. Die Zeit mit der Familie genießen. Wenn das denn ging. Musste gehen, verdammt. Wenn da nicht die ganzen unbequemen Themen wären. “Mach einen Deal mit ihnen: Keine Fragen über die Feiertage”, hatte Barry vorgeschlagen, als Ethan bei ihrem letzen Gespräch dem Älteren seine Hin- und Hergerissenheit gebeichtet hatte. Das war ein ziemlich guter Plan. Musste er versuchen, ob er sie dazu kriegen konnte. Oder ansonsten eben: Augen zu und durch. Trotzdem freuen.

Noch einmal atmete Ethan tief durch. Stieg dann aus dem Mietwagen und zündete sich draußen eine Zigarette an. Nur ein paar Züge, dann trat er den Glimmstengel aus und ging auf das lichtergeschmückte Haus zu. Das hell erleuchtete Wohnzimmerfenster war eine warme, wohnliche Oase in der Dunkelheit des Dezemberabends.
Als Ethan klingelte, dauerte es eine Sekunde, dann konnte er eine junge, weibliche Stimme von drinnen hören. „Das wird er sein!“ Fiona.
Und dann ging die Tür auf, und seine Mutter stand vor ihm. Streckte die Arme aus und lächelte ihn an. „Ethan! Komm rein.“

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