Miami Files – Changes 4

26. Februar

Zurück in Miami. Zeit zum Nachdenken.

Sancía und Canché kamen noch auf dem Boot wieder zu sich, und beide haben, wie sage ich das, ihre Menschlichkeit zurück, sind keine Vampire mehr. Das muss daran liegen, dass ihre Seelen schon wieder in ihrem Körper waren, als das was-auch-immer-es-war dem Rest des Red Court passierte. Denn alle anderen Rotvampire sind verschwunden. Robertos Bekannte Lucia. Orféa Baez, die Anführerin des Red Court. Felipe Gomez, dieser Barbesitzer, dem wir zuletzt im September bei dem Wohltätigkeitsjahrmarkt wegen Hurricane Irma begegnet waren. Überhaupt ist da Whispers komplett verlassen, und es sieht wirklich so aus, als gebe es zumindest in Miami, wenn nicht auf der ganzen Welt, keinen einzigen roten Vampir mehr. Huh.

Sobald uns das klar wurde, haben wir natürlich den Rest unserer Ritualgruppe darüber informiert, dass sich offenbar gerade ein ziemliches Machtvakuum aufgetan hat. Das ist etwas, in das niemand unvorbereitet reinlaufen sollte, auch wenn wir nicht alle von denen unsere Freunde nennen. Pan berichtete ich natürlich ebenfalls darüber, wobei dem das relativ egal war, solange noch genug andere Quellen bleiben, um seinen Hof mit Partydrogen zu versorgen. Ach, seufz.

Ach ja, aber eine rundherum gute Nachricht gibt es: Macaria Grijalva, die ja letzten September bei dem Kampf an der Waystation von einem Rotvampir gebissen worden war, ist auch nicht mehr infiziert.

28. Februar

Hm. Unser Freund Adlene gibt keine Ruhe. Seit wir zurück sind, gab es weiterhin jeden Tag mindestens einen, aber häufig auch mal mehr als einen, Angriff von zufälligen Leuten, die von irgendwelchen Geistern übernommen werden und dann versuchen, uns Knüppel zwischen die Beine zu werfen – ganz egal, ob wir gerade in Sachen Ritual unterwegs waren oder nicht. Das nervt. Wobei… vielleicht waren die Geister auch gar nicht von Adlene geschickt. Alex hatte den Verdacht, dass da vielleicht eher Adlenes Kumpan Jak seine Finger im Spiel haben könnte.
Aber apropos Jak: Kuchen ist in letzter Zeit keiner mehr aufgetaucht, zumindest nicht so, dass wir davon wüssten. Von Spencer Declan und Pater Donovan fehlt auch weiterhin jede Spur – die stecken vermutlich immer noch in den Sümpfen fest. Nicht zu wissen, was mit den beiden los ist, beunruhigt mich immer noch, aber wir können nun mal nichts daran ändern, falls sie da drinnen wirklich irgendwelche Fiesheiten anstellen, und können nur hoffen, dass sie da nicht mehr rauskommen.

2. März

Sagte ich vorgestern, die Geisterangriffe nerven? Die Winterfeen nerven auch. Da kommen seit ein paar Tagen auch ständig welche an und wollen sich mit mir anlegen. Warum? Na, weil ich Sommer bin und sie Winter, natürlich. Blöde Frage. Brauchen sie etwa einen anderen Grund? Haha. Es ist ihnen zwar nicht bisher nicht gelungen, mir ‚die Fresse zu polieren‘, wie sie das wollen, aber trotzdem. De madre, ernsthaft.

3. März

Mehr beunruhigende Nachrichten. Das Machtvakuum zeigt Auswirkungen: Es ist ein regelrechter Bandenkrieg ausgebrochen, komplett mit Gewalt und Straßenkämpfen, mit Verletzten und Toten. Wir hatten ja erwartet, dass so etwas passieren könnte, und haben uns und unsere Freunde und Verbündeten darauf vorbereitet, aber trotzdem hat Edward, hat das gesamte Miami PD, in gewissen Bereichen der Stadt alle Hände voll zu tun, und auch für uns bedeuten die Auseinandersetzungen Stress und Sorgen.

Für mich persönlich jetzt gar nicht so direkt, auch wenn ich mir natürlich Sorgen um die Familie mache.
Aber alles in allem ist die Lage gerade einfach ziemlich unsicher, und vor allem Totilas und Cicerón Linares haben im Moment einiges damit zu tun, ihr jeweiliges Revier zu verteidigen und beisammenzuhalten.
(Also nicht, dass es mir nicht deutlich lieber wäre, wenn die Geschäfte unseres White Court-Kumpel nicht ganz so illegal daherkämen, aber naja. Daran kann ich wohl auch nicht so wirklich etwas ändern.)

Von anderswo kommen die Informationen in bezug auf den verschwundenen Red Court und die daraus folgende Lage auch nur tröpfchenweise, nur ist inzwischen das Gerücht aufgekommen, dass der Magierrat irgendwie das Verschwinden des Red Courts zu verantworten habe. Aber es sieht anderswo wohl ganz ähnlich aus wie hier, und in Mittel- und Südamerika scheint unter den Drogenkartellen völliges Chaos zu herrschen. Aus Cuba ist nichts Spezielles zu hören, aber ich muss immer wieder an Enrique denken und frage mich, wie es dem wohl geht. Und ob Ciélo Canché durch das Ereignis jetzt ebenfalls kein Red Court-Infected mehr ist. Wenn dem so wäre, und wenn es bei Ocean Raith wirklich wahre Liebe zu Ciélo war und sie deswegen ihren White Court-Dämon losgeworden ist, dann haben die beiden vielleicht jetzt endlich die Chance auf ein ganz normales Leben. Ich hoffe und wünsche es ihnen. Falls nicht Ocean schon vor Jahren wegen der wahren Liebe zu einem normalen Menschen wurde und Ciélo dann seinem Blutdurst nachgegeben und sie umgebracht hat. Oh Ciélo – in beiden Bedeutungen des Wortes – ich hoffe nicht!

Aber apropos Canché: Cielos Vorfahrin hat auch ganz schön zu knabbern. Da ist sie jetzt, die Seele eines 17-jährigen Maya-Mädchens, in einer völlig unbekannten neuen Welt, in der sie sich erst einmal zurechtfinden muss. Wenigstens hat ihr Körper die Erinnerung an die englische Sprache beibehalten, sonst wäre sie völlig aufgeschmissen. Momentan sucht sie vor allem viel Halt bei Sancía, die aber ebenfalls mit der neuen Situation zurechtkommen muss, wenn auch der Schnitt für Totilas‘ Mutter nicht so extrem ist wie für Canché. Sie und Richard müssen jetzt beide erst einmal wieder richtig zueinanderfinden, wirken aber beide sehr glücklich und sehr verliebt. Es tut gut, das zu sehen.

4. März

Ich habe es ja schon im Januar geschrieben: Internal Affairs hat Edward genau für den Tag des Calle Ocho-Festivals zu diesem [s]Verhör[/s] Termin geladen.
Einfach ignorieren will Edward die Vorladung natürlich nicht, aber hingehen geht halt eben auch nicht, wenn wir das Ritual nicht riskieren wollen. Wir brauchen Edward dabei; der ist ein unabdingbarer Teil derjenigen von uns, die die Magie wirken müssen. Und selbst wenn er keine direkte Magie dabei wirken würde – so wie ich beispielsweise – wäre er immer noch Teil der Genius Loci-Gruppe und des großen Ganzen.

Also hat Edward Marshal Raith um Rat gefragt. Der ist selbst zwar Fachmann für Steuerrecht, aber er hat Kontakte und kannte da wen. Dieser andere Anwalt hat Edward gestern folgende rechtlichen Empfehlungen gegeben:
Am besten soll er den Termin wahrnehmen. Falls das partout nicht ginge, hätte er mehrere Optionen.
Er könnte den Dienst bei der Polizei quittieren, das ginge natürlich immer. Dann könne es allerdings sein, dass Internal Affairs den Fall an die normale Polizei abgebe. Aber die normale Polizei wolle den Raiths ja schon lange ans Bein pinkeln, und das sei auch noch nicht passiert.
Seine Empfehlung sei, dass Edward sich im Zuge seiner Arbeitsverrichtung anschießen lasse und dann deswegen aus dem Polizeidienst ausscheide. Oder sonst einen triftigen Grund zu finden, den er angeben könne, warum er PD zu verlasse, und eben nicht nur, weil er das Gespräch mit Internal Affairs vermeiden wolle.

Edward will jetzt versuchen, den Termin auf nach dem Ritual zu verschieben.

5. März

Wir haben beschlossen, das wir Adlenes Geister ablenken müssen. Nicht nur bringen sie Unschuldige in Gefahr und stören uns bei den Vorbeitungen; das Ritual selbst könnte auf dem Spiel stehen, wenn sie uns dabei unterbrechen.
Also hatte Alex die brilliante Idee, dass wir es so aussehen lassen könnten, als sei das, was wir da vorgehabt hatten, schon gelaufen, dass unsere großen Vorbereitungen eben darauf abzielten, bei der Entstehung des Machtvakuums zu helfen. Der Weiße Rat darf gerne den ganzen Ruhm einheimsen, den die Gerüchte ihm zugestehen, aber wir wollen diese Gerüchte noch dadurch ergänzen, dass wir den Ratsmagiern mit unseren Anstrengungen ein bisschen unter die Arme gegriffen haben, dass diese Anstrengungen jetzt aber vorüber sind. Kein Grund also, uns länger anzugreifen. Wir sind ganz unschuldig * pfeif * * träller *.
Alex will das Gerücht unter seinen Geisterkontakten verbreiten – mal sehen, ob es hilft.

Ach ja, und Edward hat es geschafft, die Vorladung auf in drei Wochen zu verlegen. Offenbar hat er dafür auch ’nur‘ die persönliche Assistentin des Commissioners bestechen müssen, die den entsprechenden Kalender pflegt. Mit Geld? Mit einem Date? Mierda. Ich will es gar nicht wissen.

7. März

Halfðan hat eben angerufen – sie hätten einen Winterriesen getötet, sagte er. Am Strand außerhalb von
Auf mein Nachfragen erzählte er, am Strand hätten in der echte-Welt-Nevernever-Grauzone ein paar Studenten um Hilfe gerufen, weil ein Ungeheuer einen ihrer Freunde weggeschleppt hätte. Als die Einherjer dem Ruf gefolgt seien, hätten sie einen hässlichen Riesen besiegt, der dann zu Matsch und Knochen zerfallen sei. Ja, die Knochen seien noch da, Halfðan und seine Einherjer hätten nur ein paar davon weggenommen, um sich Trophäen daraus zu schnitzen. ¡Ay, comemierdas!
Man nimmt doch nicht einfach irgendwelche unbekannten Knochen, ohne dass man weiß, was die für magische Eigenschaften haben!

Ich fahre dann mal los.

Abends. Wieder zuhause.

Das Skelett der Kreatur war tatsächlich noch da, als wir ankamen. Sowohl die Knochen als auch der Schädel waren grob humanoid, wenn auch größer als bei einem Menschen und etwas verkrümmt. Aber wenigstens trugen sie keine offensichtlichen Anzeichen von Outsidern oder dergleichen, so dass sich meine Sorgen angesichts der Trophäen, die Halfðan und Co. sich weggenommen hatten, etwas schwanden.

Trotzdem wollten wir gerne wissen, um was genau es sich bei diesem Ding handelte – mit Halfðans Beschreibung konnten wir nämlich nicht so richtig viel anfangen, und Wesen, die mit ihrem Tod zerfielen, fielen uns auf Anhieb auch keine ein.

Edward schlug vor, dass wir ein Ritual durchführen könnten, um die Gebeine zu analysieren. Natürlich tat er das. Aber es war ja keine schlechte Idee, vor allem, da wir uns ja gerade in Pans Palast befanden und eine Verbindung zum Nevernever hatten, was ja höchstvermutlich die Heimat des Riesen war.
Während von Roberto Räucherkerzen abbrannte, die eine eine hypnotische Stimmung erzeugen sollten, und ich mit zwei der Knochen einen passenden Rhythmus trommelte, versenkte Edward sich in eine meditative Trance und beschwor ein Bild davon herauf, wo die Ungeheuer herkamen. Er hatte eine Vision von einer kargen, öden Gegend voller Krater, als hätte dort gerade ein heftiger Krieg getobt. In diesem wüsten Land streiften Riesen wie der, den Halfðan beschrieben hatte, und bekämpften sich, wann immer sie einander begegneten, indem sie einander mit Dingen bewarfen: mit riesigen Felsbrocken, mit Bäumen, die sie aus dem Erdboden rissen, und so weiter; deswegen war es dort auch so wüst und leer. Wenn sie anderen Wesen begegneten als Angehörigen ihrer eigenen Art, dann fraßen sie die auf. Charmante Zeitgenossen, ¡de verdad!

Es steht zu befürchten, dass wir von den Gestalten nicht zum letzten Mal etwas gesehen haben, aber wenigstens ist dieser hier erledigt, und der Winterhof war heute auch erstaunlich friedfertig. Mal sehen, wie lange das so bleibt.

Ach ja, und wo wir ohnhin in Pans Palast waren, ging ich natürlich meinem Herzog meine Aufwartung machen, und meine Patenkinder besuchte ich auch gleich mit. Sindri geht es gut, und Edwina Ricarda ist gerade in einem richtig goldigen Alter.

11. März

Es ist soweit. Das Calle Ocho-Festival! Das Ritual ist zwar erst heute Abend – das Feuerwerk soll um 20:00 Uhr stattfinden –, aber bis dahin gibt es noch viel zu tun. Lidia und die Mädchen wollen natürlich zum Festival kommen, und das Feuerwerk können sie auch gerne noch mit ansehen, aber ich bin ziemlich froh, dass Lidia sie gleich anschließend nach Hause und ins Bett bringen wird. Ich habe Lidia in groben Zügen erzählt, was wir vorhaben, damit sie sich nicht wundert, dass ich nicht mit ihr und den hijas nach Hause komme, und damit sie sich keine allzu großen Sorgen macht, aber auf die genauen Details unseres Plans bin ich nicht eingegangen. Wir treffen uns heute nachmittag auf dem Festival; nach dem Frühstück muss ich erstmal los alleine los.

Erst treffe ich mich mit den Jungs wegen der Unterdrückung unserer Einflüsse. Oder besser, ich treffe mich mit Totilas, Roberto und Alex. Totilas hat seine Kontakte zu Hillary Elfenbein genutzt und von ihr einen Blister Risperdal für uns besorgt. Mir ist zwar nicht ganz wohl bei dem Gedanken, unsere übernatürlichen Einflüsse mit einem Neuroleptikum zu unterdrücken, aber die einmalige Einnahme wird uns hoffentlich nicht schaden. Edward lässt sich derweil von Vanguard dabei helfen, seine Wutbestie vorübergehend auszuschalten, und kommt dann zum Spa. Da treffen wir uns dann auch mit dem Rest der Gruppe, und Ilyana Elder kümmert sich um Totilas‘ Dämon.

Am Spa. Ich habe Zeit für ein paar Sätze, bis Ilyana und Totilas fertig sind. Aber so richtig viel gibt es eigentlich gar nicht zu schreiben gerade. Nur dies: Alex, Roberto und ich haben das Risperdal genommen. Ich fühle mich… hm, wie fühle ich mich? Schwer zu sagen. Ich komme gerade nicht an meine Sommermagie, und das fühlt sich ein bisschen so an wie letzten September in dem magieunterdrückenden Feld der Sinfonia de la Tranquilidad, aber doch auch ganz anders. Damals verschwanden all diese kleinen, warmen Funken in mir auf einen Schlag komplett, diesmal ist es mehr so, als ob sie … hm, als ob jeder einzelne dieser kleinen Funken in mir von Watte umgeben ist. Ein ziemlich seltsames Gefühl, tatsächlich, aber ich gewöhne mich gerade daran, und ich denke, es wird mich nachher nicht behindern. Andere Nebenwirkungen des Risperdons fühle ich bisher keine, und ich hoffe, das bleibt so. Keine Müdigkeit, kein Schwindel, keine Störungen des Bewegungsapparats oder Sehstörungen, gracias a Dios. Den anderen beiden anderen geht es zum Glück auch damit. Und wie heute früh schon mal geschrieben: Es ist ja nur die eine einzige Dosis. Das geht hoffentlich.

Ah, da kommen Ilyana und Totilas wieder. Nachher mehr.

Das Reinigungs- und Aufeinandereinstimmungsritual war ein voller Erfolg. Wir fühlen uns noch mehr als vorher als Gruppe, als Team, trotz unserer unterschiedlichen Ausrichtungen und Herkünfte, und sogar Dee und Cicerón Linares scheinen ihr Kriegsbeil für den Moment begraben zu haben. Sehr schön. Dann können wir ja jetzt zum Domino Park. Es wird eine Weile dauern, dort alles fertig vorzubereiten.

Puh. Wir sind gerade am Domino Park angekommen, und es liegt eine enorme Anspannung in der Luft. Klar, es ist das Calle Ocho-Festival, das ist immer eine tremenda pachanga, aber irgendwie kommt es mir dieses Jahr mehr vor als üblich. Ja, es sind dieselben Buden, Bühnen und Grillstände aufgebaut wie sonst immer, es sind dieselben Massen an Leuten unterwegs, dieselbe bunte Kleidung, die chongas, die Fahnen aus allen Teilen Lateinamerikas, die Musik. Und trotzdem wirkt es… greller. Die Menschen sind aufgekratzter, das Lachen lauter, die Stimmung aufgeheizter. Nicht gewalttätig aufgeheizt, aber… überdreht irgendwie, so wie übermüdete Kinder überdreht werden.

Man kann die Energie, die in der Luft hängt, regelrecht spüren. Da liegt ein leichter Geschmack nach Eisen auf der Zunge, und es hängt eine salzige Brise vom Meer in der Luft, obwohl wir ja doch gut zwei Meilen vom Meer entfernt sind. Ich habe das Gefühl, als hätten die Büsche und Bäume am Rand des Platzes einen Schimmer um sich, und irgendwie ist fast alles um uns her leicht elektrostatisch aufgeladen. Und Alex sagte auch gerade, die Geisterwelt wirke für ihn bunter als sonst.
Er sagte auch, er spüre einen Druck auf die Realität – den bemerken gerade all unsere Magiebegabten in der Gruppe. Dieser Druck muss in die richtigen Wege geleitet werden, sagen sie, sonst wird das richtig, richtig unschön.

Der Ritualkreis ist fertig. Oder besser: die Ritualkreise. Im ersten Kreis wird derjenige stehen, der gerade den aktiven Teil übernimmt – und das muss jeder von uns einmal sein, auch die unmagischen Personen unter uns, um uns mit dem Ritual und dem Genius Loci zu verbinden. In einem zweiten Kreis außen herum stehen alle anderen, nachdem sie dran waren bzw. bevor sie dran sind, und in einem dritten Kreis noch weiter außen haben unsere Spezialisten die stärksten Wards gezogen, die sie zustande bringen konnten.

Wir haben alle etwas zur direkten Vorbereitung des Rituals beigetragen. So hat zum Beispiel Roberto die Erde für die Grundstruktur der Kreise aus den Everglades geholt und mit Kräutern aus seiner Botanica durchsetzt. Außerdem haben wir unterschiedliche Materialien für die Symbole der Kreise beigesteuert – ich selbst habe zum Beispiel Kieselsteine aus dem Coral Castle und Sand vom South Beach mitgebracht. Und Totilas hat eines der Zeichen mit einem feinen weißen Pulver gezogen, das mir verdächtig nach Kokain aussah. Aber das will ich gar nicht genauer wissen, glaube ich. Alex und Dee haben die Abflusskanäle und Leylinien vorbereitet, damit die Energie, die bei dem Ritual freigesetzt werden wird, gut aufnehmen können. Und Edward hat bei sich im Labor ein Mittel zusammengebraut, das er gerade im innersten Kreis verteilt hat, damit die Magie besser darin fließen kann, wie er sagte.

Ich werde anfangen, weil das Ritual gleich nach dem Feuerwerk mit der Ode an Miami beginnen soll. Als wir das letztens besprachen, konnte ich Linares deutlich ansehen, dass ihm das gar nicht passte, dass er eigentlich fest davon ausgegangen war, dass er Anfang machen würde, weil das seinem Selbstverständnis als Alphamännchen und Bandenboss entsprochen hätte. Aber er ist nun mal ein Bandenboss und hat einen entsprechenden Ruf, und wenn ich anfange, dann ist weder das Recht noch das Verbrechen in unseren Reihen bevorzugt. Außerdem bin ich, auch wenn das jetzt vielleicht arrogant klingt, in Miami und darüber hinaus auch einigermaßen bekannt, und es ist dramaturgisch einfach sinnvoll, die Ode an den Beginn zu setzen.

Oh Muss aufhören. Lidia und die hijas sind gleich da.

Es wird ernst!

15. März

Tío. Gut, dass das hier außer mir selbst niemand zu sehen bekommt, sonst hätten sich eventuelle Leser möglicherweise schon gewundert, warum ich heute erst aufschreibe, was bei dem Ritual passiert ist. Aber direkt danach war ich zu fertig, dann musste ich ausschlafen, und dann sind gleich schon wieder Dinge passiert. Aber jetzt habe ich etwas Ruhe, also wird das jetzt alles nachgetragen.

Wie ich letztens schon schrieb: Nachdem das Feuerwerk abgebrannt war, Lidia und die Mädchen sich verabschiedet hatten und wir uns auf dem Ritualplatz versammelt hatten, war ich derjenige, der die ganze Sache mit der Ode an Miami anstieß. Wie mit der Stadt abgesprochen, durften wir das Tor zum Park abschließen, um darin ungestört zu bleiben (damit ich die Schlüssel anvertraut bekam, hatte ich meine Beziehungen zum Bürgermeister spielen lassen – etwas, das ich normalerweise lieber vermeide, aber in diesem Fall ging es nicht anders), und nachdem wir alle unsere Positionen eingenommen hatten, ging es los. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte man den Trubel des Festivals in der ganzen Calle Ocho gehört – das Lachen der Menschen, das Kreischen der Kinder, bellende Hunde, zwitschernde Vögel, aber in dem Moment, wo die Musik begann, verstummten diese Außengeräusche. Oder vielleicht traten sie auch nur in den Hintergrund, und ich hörte sie nicht mehr, weil ich mich so auf das Ritual konzentrierte. Die Melodie, die los Flamencos geschrieben hatten, passte ganz ausgezeichnet zu meinem Text – und sie war auch machbar für meinen zugegebenermaßen nicht ganz regelmäßigen Bariton. Hey, ich bin Schriftsteller, kein Opernsänger! Aber es klappte alles ziemlich gut, ich versang mich auch nicht (hatte ich vorher auch lange genug geübt – fragt nur mal meine Ladies), und wenn ich doch irgendwo wackelte, dann ging es in der Musik der Flamencos unter. Es war vielleicht nicht perfekt, aber so gut, wie ich es eben konnte.

Als ich fertig war, trat Ilyana Elder in den Kreis. Ich weiß gar nicht so recht, was ihre Aufgabe bei dem Ganzen ganz genau sein sollte – ich glaube, die wilden, naturverbundenen Teile Miamis und der Everglades für das Ritual betonen –, aber was es auch war, es klappte nicht richtig. Sogar ich konnte erkennen, dass Ilyana Schwierigkeiten hatte, und für einen Moment sah es sogar so aus, als würde sie die Kontrolle verlieren und sich in ein Krokodil verwandeln. Ich glaube, sie ist es einfach nicht gewohnt, andere Magie als ihre Wer-Verwandlung ohne die Yansa-Maske zu wirken – und ihre Masken hatten sie und Cicerón ja ebenso zuhause gelassen, wie Totilas, Edward, Roberto, Alex und ich die Einflüsse unserer externen patrones unterdrückt hatten.
Zum Glück gelang es Ilyana dann aber doch gerade so, sie selbst zu bleiben und ihren Teil des Rituals angemessen zu beenden, bevor sie in den Kreis der Wartenden zurückstolperte und Bjarki Lokison ihren Platz einnahm. Sein Teil des Rituals verlief, soweit ich das beurteilen konnte, völlig unspektakulär, und nach ein paar Minuten machte er Alex den Platz frei.
Der begann seinen Ritualabschnitt damit, die Unterschriften und Widmungen auf dem von ihm hergestellten Schlüssel zur Stadt vorzulesen, und ich konnte richtiggehend spüren, wie die Namen all dieser Bürger Miamis etwas bewirkten, auch wenn ich es nicht hinreichend beschreiben kann. Aber mit jedem Namen zog sich etwas zusammen, wurde die Atmosphäre, die sich mit den Worten der Ode zu bilden begonnen hatte, irgendwie… dichter. Einzig die Aussprache von ‚John T. Galway‘ wirkte in diesem Moment wie ein Missklang, änderte aber inmitten all der vielen echten Bürger, deren Namen verlesen wurden, nichts am großen Ganzen.

Ich wusste, dass Alex‘ Aufgabe war, nach dem Verlesen der Namen das Ventil zu öffnen, das wir ja in unser Ritual einbauen wollten: ein kleines Loch in die Grenzen zum Nevernever, um ein bisschen Magie hereinzulassen, ansonsten aber dem immer größer werdenden Druck, dem die Grenzen hier unterliegen, besser standhalten zu können. Das klappte auch – aber dass es so aussehen würde, davon war in unseren Vorbesprechungen nicht die Rede gewesen. Als Alex nämlich an den Punkt kam, wo er das Ventil öffnete, verdrehte er für einen Moment die Augen und sah so aus, als habe er einen starken elektrischen Schlag erhalten. Wir konnten regelrecht sehen, wie die Magie sich in das bzw. durch das Nevernever entlud: Für einen Moment wurde die Grenze zum Nevernever durchsichtig, konnten wir in das Nevernever hineinsehen; ja, ich hatte sogar das Gefühl, in diesem Moment sehe ich das gesamte Nevernever auf einmal. Man konnte die Magie sehen, die sich an der Grenze zu unserer Welt gesammelt hatte und die auf diese viel zu dünne Membran einpresste, und, als sich ein Weg öffnete, durch dieses Loch hineinströmte.
Und noch etwas kam hindurch. Nichts so Diffuses wie gesammelte Magie, sondern eine Wesenheit, eine Existenz, mit dem überwältigenden Eindruck von schwarz und rot, die hier auf unserer Seite zu einem älteren, in einen eleganten, aber etwas altmodischen Anzug gekleideten schwarzen Herrn wurde, der uns schelmisch angrinste, bevor er sich neugierig neben den Ritualkreis stellte. Und ich kannte diese Gestalt. Alex hatte ihn schon oft genug beschrieben, und ich hatte auch schon Bilder gesehen: Das war Eleggua.

Unterdessen hatten unsere Aktivitäten außerhalb des Parks Aufmerksamkeit erregt. Leute rüttelten am verschlossenen Tor, und etliche fingen an, über die Mauer in den Park zu klettern. Zum Teil waren das einfach ganz normale, betrunkene Feiernde, aber ein paar von ihnen bewegten sich mit den typischen, etwas abgehackten Bewegungen, die wir inzwischen nur allzu gut von Adlenes Geistern kannten. Diese beiden bewegten sich, sobald sie die Mauer überwunden hatten, zielstrebig auf Cicerón Linares zu, der nun, da Alex fertig war, den Ritualkreis betreten hatte.

Totilas wandte sich in Richtung der Besessenen und versuchte sie einzuschüchtern; das kaufte uns auch tatächlich etwas Zeit, weil sie zögerten und sich in seine Richtung drehten. Ich selbst redete auf die normalen, unbesessenen Menschen ein und versuchte sie zu überzeugen, dass das hier völlig langweilig sei und die Festivitäten draußen viel spannender. Sie waren entweder auch betrunken genug oder gerade noch nüchtern genug, dass sie anstandlos auf mich hörten und den Rückzug antraten – und einen der Besessenen zogen sie erstaunlicherweise sogar mit sich. Der andere Besessene allerdings schien sich jetzt wieder auf seine Programmierung zu besinnen und wandte sich zurück in Richtung des Ritualkreises, woraufhin Roberto ihn ungeniert anflirtete und mit einem heißen Kuss bedachte, der den Geist auch tatsächlich erst einmal aufhielt.

Cicerón hatte inzwischen mit seinem Teil des Rituals begonnen, aber er wirkte nicht so souverän dabei wie sonst: Es war ihm anzusehen, dass Elegguas Anwesenheit ihn ablenkte, dass er sich Gedanken darüber machte, dass der Orisha einfach so in die echte Welt getreten war, und vielleicht ging es ihm doch immer noch nach, dass er nicht den Anfang gemacht hatte, oder er drohte, von der vielen Magie überwältigt zu werden. So oder so brachte er seinen Teil irgendwie zuende und trat aus dem Kreis heraus, um den Platz für den nächsten Teilnehmer freizugeben.
Das Problem war nur: Der nächste Teilnehmer war Roberto. Und da der jetzt den Kreis betreten musste, musste er wohl oder übel den Besessenen freigeben, und dieser folgte ihm wie an der Schnur gezogen. Sofort darauf prallte er an unserem Schutzkreis ab, aber das hinderte ihn nicht daran, mit viel zu großer Kraft einen Pflasterstein aus dem bunten Mosaikboden zu reißen. Bevor er ihn allerdings auf Roberto werfen konnte, ging Totilas auf den Besessenen los und schlug ihn – auch ganz ohne White Court-Kräfte – bewusstlos.

Im Kreis hatte Roberto indessen mit seinem Teil des Rituals begonnen. Ich habe ihn ja in all den Jahren schon häufiger Magie wirken sehen, und mir war klar, dass er diesmal besonders viel magische Energie in seinen Zauber kanalisierte. Über dem Kreis schienen wie bei einer Fata Morgana Bilder und Geräusche aus der Stadt zu entstehen, und mit einem Mal wurden die Leylinien sichtbar, leuchteten in den buntesten Farben, wie man sie sonst vor allem aus alten Wiederholungen von Miami Vice kennt. Draußen vor dem Park hatten sie ein Kinderkarussell aufgebaut, und durch die Gitter des Tors konnte ich erkennen, dass einer der Plastikflamingos darauf plötzlich den Eindruck machte, sich unabhängig vom Auf und Ab seiner Karussellstange zu bewegen.
Dee war die nächste im Kreis, wobei ihr Teil des Rituals deutlich weniger spektakulär verlief. Ihre Aufgabe, das wusste ich aus den Vorbesprechungen, war es, die durch das Ventil einströmende Magie sicher zu machen, oder jedenfalls so sicher wie möglich, und wie sie das auch anstellte, es schien genau nach Plan zu klappen. Ximena, die als Nächste drankam, war richtiggehend aufgeblüht, als die Magie durch das Ventil in die Stadt zu strömen begann. Auch sie ging ihre Aufgabe mit der ihr eigenen Professionalität an, aber bei ihr schlug die Begeisterung durch, und so gab sie vielleicht ein bisschen zu viel. Die Leylinien, deren Farbenspiel sich während Dees Abschnitt zu einem leichten Glimmen abgeschwächt hatte, begannen wieder zu leuchten, und jetzt leuchteten auch Menschen in einem beinahe Times Square-mäßigen Neonglanz auf. Und nicht nur Menschen: Haley – Hel Lokisdatter – hatte offenbar auch Wind von unserer Aktion bekommen und war jetzt im Park aufgetaucht, und auch sie hatte dieses neonartige Leuchten.

Die ersten Geisterbesessenen waren wir losgeworden, aber es wäre naiv gewesen zu glauben, das Adlene und/oder Jak so schnell aufgeben würden. Und tatsächlich kam jetzt eine weitere Welle an Besessenen auf den Park zu, von denen es drei über die Mauer schafften. Zwei von ihnen – ein Mann und eine Frau – hoben Steine auf, um sie nach uns zu werfen, weil sie nicht durch unseren Schutzkreis hindurch konnten, aber der dritte Geist hatte eine Pistole. Geistesgegenwärtig riss Roberto die Hände hoch und wirkte einen Schutzzauber, und tatsächlich prallte im nächsten Moment die Kugel von dem magischen Schild, den Roberto damit errichtet hatte, ab.
Edward schlug nach dem zweiten Besessenen, konnte ihn aber nicht richtig treffen. Immerhin gelang es ihm damit aber, den Geist an sich zu binden, der nun nicht mehr auf Ximena im Kreis losging, sondern auf Edward. Und der musste ganz schön einstecken – nicht nur verfügte er gerade nicht über seine Lykanthropen-Kräfte, sondern der Geist war auch noch ungewöhnlich stark.
Während Ximena aus dem Kreis trat und Ángel Ortega ihren Platz einnahm, griff ich die dritte Besessene mit meinem Schwert an, allerdings ohne Jade aus ihrer Scheide herauszuziehen. Es gelang mir zwar, die Frau zu treffen, aber ich konnte sie nicht ausschalten, und so gab sie mir in ihrem Gegenangriff einen Schlag mit, der mich zwar nicht schwer verletzte, aber für eine unangenehme Prellung sorgte. Mit meinem zweiten Treffer dann konnte ich die Besessene dann aber bewusstlos schlagen. Totilas war indessen Edward mit dessen Gegner zu Hilfe gekommen und knockte ihn aus, so dass Edward wieder etwas Freiraum bekam. Diesen Freiraum nutzte er, um mit einem schnellen Zauber einen Teil der in der Luft liegenden Magie durch sich hindurch und in den Geist zu kanalisieren, und von der daraus resultierenden magischen Überladung fiel der Besessene tatsächlich um, auch wenn das Manöver Edward selbst auch sichtlich mitnahm.

Ángels Teil des Rituals hatte anstandslos, wenn auch nicht sonderlich spektakulär geklappt, und irgendwie war durch unser aller Verbindung zu spüren, dass er nicht zufrieden mit seiner Leistung war. Es war ganz deutlich, dass das Ritual noch alles andere als beendet war, dass wir mit unseren Anstrengungen deutlich weniger weit gekommen waren, als wir zu diesem Zeitpunkt eigentlich hatten sein wollen und sollen, dass wir aber nur noch drei Personen hatten, die das Fehlende auffangen konnten.
Edward war der Nächste. Schon als er in den Kreis trat, war zu erkennen, dass er sich seiner Verantwortung mehr als bewusst war, und die Art und Weise, mit der er seinen Abschnitt des Rituals begann, zeigte mir, dass er alles, aber auch alles, hineinlegte, was er hatte. Die Anstrengung war ihm deutlich anzumerken, aber es war auch zu spüren, dass diese Anstrengung sensationelle Ergebnisse zeigte. Ich hatte zwar keinerlei Zugang zu meiner Sommermagie, und Edwards hermetische Magie kann ich ohnehin nur von außen betrachten, aber es war nicht zu verkennen, dass Edward gerade einen guten Teil des noch fehlenden Ritualvolumens abgedeckt hatte.
Bevor er den Kreis betrat, holte Totilas, an den Edward nun übergab, aus einem Koffer eine Kette, an der er mehrere Gegenstände befestigt hatte: offenbar alles Dinge, die bei seiner Sammelaktion abgegeben worden waren und die ihm wohl als am besten geeignet erschienen, um Miami zu verkörpern. Darunter befanden sich ein Plüschalligator, ein paar große Goldcreolen und ein Paar teure Markenturnschuhe, die er nun zusammen mit den anderen Dingen an der Kette in seinem Teil des Rituals verwendete. Verbunden, wie wir alle miteinander waren, konnten wir spüren, dass sein Vorhaben gelang und dass er das große Ganze ein weiteres gutes Stück voranbrachte, aber wir merkten auch, dass in dem Moment, als er die magische Energie durch sich leitete, irgendwas in Totilas passierte. Es war keine vollständige geistige Verbindung, keine Telepathie oder dergleichen, aber irgendwas, eine andere Verbindung als diejenige zum Rest der Genius Loci-Gruppe wurde in dem Moment beschädigt. Oder blockiert? Verschoben? Ich kann es schwer beschreiben.

Robertos Exfreundin Febe Gutiérrez von den Santo Shango trat als Letzte in den Kreis. Draußen vor dem Park tauchten weitere Besessene auf, aber keiner von ihnen schaffte es über die Mauer, weil Eleggua und Haley sie vorher aufhielten und die Geister in den Menschen ohne sichtbare Mühen zu bannen schienen, und so konnte Febe ihre Aufgabe mit Bravour und ohne jegliche Störung absolvieren. Als sie das letzte Wort sprach und die letzte Geste vollführte, ging von unserem Ritualkreis aus ein Puls über die gesamte Stadt. In diesem Moment konnten wir mit einem einzigen Blick die gesamte Stadt sehen, mit Fokuslichtern auf unseren Lieben – Lidia, Alejandra und Monica, Mamá und Papá und Yolanda für mich, Cassius und Schneeball für Edward, ihre eigenen Familien für Totilas und Roberto –, bevor der Puls sich wieder zurückzog. In der Mitte unseres Ritualkreises stand, wortwörtlich aus dem Nichts erschienen, die Gestalt einer jungen Latina. Ich wunderte mich ein wenig, dass sie haargenau so aussah, wie ich mir Catherine Sebastian immer vorgestellt hatte – erst später wurde uns klar, dass sie für jeden von uns ein leicht anderes Aussehen hatte. So ähnelte sie beispielsweise für Roberto stark dessen Orisha Oshun, nur etwas europäischer, für Totilas sah sie aus wie eine richtig teure Edelprostituierte, für Edward trug sie gewisse wölfische Züge, und für Alex wandelte sich ihr Aussehen ständig. Aber eines war unbestritten: Das war Miami.

Vor allem Cicerón Linares machte ein Gesicht, als sei er völlig hin und weg, aber als Miami sich uns zuwandte, gab sie uns allen das Gefühl, dass ihre Aufmerksamkeit jedem und jeder einzelnen von uns ganz besonders galt. Dann sprach sie. Sie hatte eine wohlklingende und gebildete Stimme mit einem leichten, aber erkennbaren örtlichen Akzent.
„Jetzt bin ich hier“, sagte sie, „und jetzt?“
Ich schreibe es nur ungern auf, weil das definitiv keine meiner brillanteren Erwiderungen war, aber hey, außer mir liest es ja keiner. Meine Literatur-Nobelpreis-verdächtige Reaktion war es, ihr ihre Frage ungefiltert zurückzugeben: „Jetzt bist du hier.“
„Ich war schon immer hier“, antwortete Miami, was mich ein weiteres Mal den Mund aufmachen ließ: „Jetzt bist du in Persona hier.“
Totilas rettete den potentiell hochnotpeinlichen Moment. „Es ist mir eine Freude, dich persönlich kennenzulernen.“
„Es freut mich auch, euch alle persönlich kennenzulernen“, erwiderte Miami, „Hallo, Ritter.“ Und dann: „Sollen wir feiern gehen?“
Unser „Ja“ kam einstimmig aus aller Munde.

Eigentlich waren wir alle ziemlich fertig, und vor allem Edward, Totilas und Alex hatten einiges abbekommen, aber davon spürten wir in dem Moment nicht einen Kratzer. Im Gegenteil, wir fühlten uns alle blendend. Miami wollte Party machen, also machten wir Party. Wir feierten die ganze Nacht hindurch – Miami tanzte mit allen von uns, und sie flirtete mit allen, die mit sich flirten lassen wollten – bis in den Morgen. Dann verabschiedete Lady Miami sich mit einem „Okay, wenn irgendwas ist: Ich bin immer für euch da. Und ihr für mich.“… und kaum war sie verschwunden, holten unsere Blessuren uns ein. Das Durchtanzen hatte uns nicht gerade gut getan, und vor allem Totilas, aber auch Edward, klappte beinahe zusammen.
Eigentlich wäre jetzt der Moment gewesen, nach Hause zu gehen und für den Rest des Tages ins Bett zu fallen – aber dummerweise war es auch der Moment, in dem wir alle spürten, dass etwas nicht stimmte. Dass da eine Bedrohung war. Dass Miami sich in Gefahr befand.

Das Gefühl, das wir alle in dem Moment hatten – und das wir seither auch immer noch haben – lässt sich schwer in Worte fassen, aber ich versuche es dennoch. Die Ritter von Miami waren wir fünf ja zuvor auch schon gewesen, in dem Sinne, dass wir uns für unsere Stadt verantwortlich fühlten und sie beschützen wollten, aber jetzt… jetzt, hm, jetzt sind wir es wirklich. Jetzt ist es nicht mehr nur ein Name. Jetzt sind wir wirklich mit Miami verbunden. Ich (und die anderen Mitglieder unserer Genius Loci-Gruppe genauso) bin mir sicher, dass ich mich in dieser Stadt nie wieder verlaufen werde, ich habe immer ein instinktives, aber umfassendes Wissen darum, wo ich mich gerade befinde, und ich kann spüren, dass das auch der Fall wäre, wenn man mir die Augen verbinden, mich minutenlang im Kreis herumwirbeln und in einem geschlossenen Auto irgendwohin fahren würde. Wenn wir uns darauf konzentrieren, können wir auch die Leylinien Miamis spüren und wo in der Stadt die anderen sich jeweils befinden. Und wenn eine Bedrohung hochkocht, dann merken wir das – so wie in diesem Moment. Aber wir merkten auch, dass die Gefahr sich zwar näherte, aber noch nicht angekommen war. Zum Glück – denn wir waren alle viel zu fertig, um uns einer weiteren Bedrohung unausgeschlafen anzunehmen. Deswegen fuhren wir alle doch erst einmal heim und kippten ins Bett. Zumindest für ein paar Stunden.

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