Supernatural – Hangin‘ Tree

Dies war Pattis zweites Abenteuer, das sie eigentlich bereits in der Session vorher hatte leiten wollen. Anders als bei der letzten Sitzung hatte Samanthas Spielerin diesmal Zeit, und so schickte Patti uns eben jetzt ins schöne Texas. Das war wieder eine sehr geniale Runde, auch und vor allem, weil da so einiges an Charakter-Interaktion und -Exposition zusammenkam. Und vor allem noch einige Rückblenden in die Vergangenheit meines Charakters, was ich auch wieder sehr spannend fand.

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Als Ethans Handy sich meldet, hat er gerade die erste Arbeit des Tages hinter sich gebracht, nämlich einen Riss in der Außenmauer des Bones Gate-Hauses neu verputzt. Die Nummer im Display entlockt ihm ein Lächeln. „Sam?“
„Ethan?“ Sams Stimme klingt angespannt, ja zittrig. „Geht… geht es dir gut?“
„Mh-hm. Dir?“
Ihr Aufatmen ist auch durch die Leitung deutlich zu hören. „Oh Gott sei Dank!“
Ethan runzelt die Stirn. „Was ist los?“
„Du hast heute noch keine Zeitung gelesen, oder?“
Hat er nicht. „Warum?“
„Da… da ist… warte, vielleicht findest du es auch online… such‘ nach ‚Dimmitt, Texas‘ und ‚Hanging Tree‘.“
Kurz zuckt sein Mundwinkel nach oben. „’Dimwit, Texas‘, hm?“

Ein paar Minuten später, zurück in seinem Apartment am Rechner, entfährt ihm ein deftiges Schimpfwort, und es vergeht ihm jegliche Lust auf blöde Witze. Er hat den Artikel gefunden, den Sam meinte. Ziemlich reißerisch wird da von drei Selbstmorden berichtet, die in letzter Zeit in Dimmitt, Texas stattgefunden haben. Alles Männer, alle Mitte Zwanzig, alle mit Fotos. Und einer der drei – Albert Vernon, 26 – sieht aufs Haar genauso aus wie Ethan selbst. Drecksmist. Kein Wunder, dass Samantha gedacht haben muss, das sei er. Ihre Sorge rührt ihn. Wobei. Wenn er ein Foto von ihr als vermeintlich tot in der Zeitung gesehen hätte, wäre es bei ihm so viel anders gewesen? Nein. Das wäre –
„Mir geht es gut, Sam, wirklich.“

Drei Männer, die sich alle am so genannten ‚Hanging Tree‘ des Städtchens erhängt haben. Sam will sich das mal ansehen, und Ethan erklärt sofort, dass er auch hinfährt. Nicht nur klingt die Selbstmordserie verdächtig, die Ähnlichkeit zwischen diesem Albert und ihm macht es auf gewisse Weise persönlich. Und… auch wenn er das nicht laut sagt, will er Sam nicht alleine fahren lassen. Ja, natürlich kann sie selbst auf sich aufpassen. Aber jemand, der ihr den Rücken freihält, kann sicher nicht schaden. Ganz abgesehen davon ist ihm ein schrecklicher Verdacht gekommen. Denn sein kleiner Bruder und er waren sich zwar nie völlig wie aus dem Gesicht geschnitten, sahen einander aber doch immer ziemlich ähnlich. Und in zehn Jahren Erwachsenwerden kann sich viel getan haben in der Hinsicht. Albert, Alan… Verdammt. Schon allein deswegen muss er hin.
Sie verabreden sich für übermorgen nachmittag; früher wird Ethan es von Vermont aus kaum schaffen. Sam ist in South Carolina, sagt sie, das kommt ja dann ungefähr hin.

Ethan hat eben dem Dekan Bescheid gegeben, dass er wegen eines Falls für ein paar Tage weg muss, und angefangen, ein paar Klamotten in seine Reisetasche zu werfen, da vibriert sein Handy erneut.
Auch eine Nummer, die er eingespeichert hat. Gideon Barker, der Rettungssanitäter von der Sache in Alaska.
Ja, es ist alles in Ordnung. Ja, Ethan weiß schon, um was es geht. Ja, er wird nach Texas fahren. Nein, nicht alleine, Sam kommt auch mit. Gideon klingt ein wenig zögernd, als er fragt, ob noch Hilfe benötigt wird oder ob zwei Jäger ausreichen. Aber Ethan wird sich bestimmt nicht beschweren, wenn sie vor Ort weitere Unterstützung bekommen. Auch da wieder: Treffen übermorgen.

Gideon scheint nicht alleine zu sein. Zumindest hört Ethan noch jemanden reden. Er runzelt die Stirn. Irgendwie kommt ihm die Stimme bekannt vor. Sie klingt wie die, die letztens im Hintergrund zu hören war, als Sam ihn nach dieser Sache in Maine angerufen hat. Aber klar, da haben Gideon und sie sich kennengelernt, hat der Sanitäter in Alaska erzählt. Vermutlich ein weiterer Jäger, der auch mit bei dieser Geschichte mit dem Dämon dabei war.

Die Männerstimme sagt wieder etwas, dann Gideon, laut und deutlich, aber nicht am Telefon, sondern zu seinem Begleiter, nachdem er sich von Ethan schon verabschiedet hat und gerade im Auflegen begriffen ist: „Komm‘ doch auch mit, Cal.“
Ethan erstarrt.

Natürlich. Jetzt, wo er einen Namen dazu hat, erkennt er die Stimme sofort, auch wenn er sie seit Jahren nicht gehört hat. Scheiße. Cal.
Mit zusammengebissenen Zähnen steckt er sein Handy weg. Cal. Elender Drecksmist.

Die ganze Fahrt über, zweieinhalb Tage lang, wirbeln die Gedanken in Ethans Kopf umher, angekurbelt von der Monotonie der Interstate und der Einsamkeit der Motelbetten, wo er zur Ablenkung alte Spielfilme schaut, bis ihm die Augen zufallen. Lass es nicht Alan sein. Kann nicht Alan sein. Der ist keine 26. Sam kennt Cal. Seinetwegen hat sie das Telefonat letztens abgekürzt. Hat nichts zu heißen. Und wenn doch. Geht dich nichts an. Alan hätte sich als älter ausgeben können. Bestimmt nicht. Warum sollte er? Und warum ein falscher Name? Weißt du nicht. Ist zehn Jahre her. In zehn Jahren kann viel passieren. Bitte. Nicht Alan. Sam hat jemanden verdient, mit dem sie auch zusammen sein kann. Aber nicht Cal. Egal. Sams Sache. Mist. Er sollte langsam mal eine Pause machen. Er ist ziemlich –

– müde. Mechanisch setzt Ethan einen Fuß vor den anderen. Er darf nicht anhalten. Muss in Bewegung bleiben. Im Gehen ausruhen. Vorhin hat er ein Schild gesehen. Noch 8 Meilen zum nächsten Ort. Franklin. War er nicht schon mal in Franklin? Muss ein anderes gewesen sein. Wer weiß schon, wie viele Franklins es in den USA gibt. Hoffentlich findet er dort jemanden, mit dem er mitfahren kann. Er hätte nicht von der Busroute abweichen sollen. Da muss er erst wieder hin. Aber er hat auch kaum mehr Geld. Entweder Ticket oder was zu essen. Im Zweifel lieber was zu essen, neue Kraft tanken und weiterlaufen? Oder in den Bus setzen, schlafen, einen Vorsprung vor dem Ding herausholen und nach dem Aussteigen ein paar Dollar verdienen, solange der Vorsprung hält? Beides hat er in den Monaten auf der Flucht oft genug gemacht, keines davon hat sich als das definitiv Bessere herausgestellt. Er wird es sehen, wenn er ankommt. Aber vermutlich muss es diesmal auf Schlafen im Bus mit leerem Magen hinauslaufen. Seine Schuhe sind schon verdammt abgetreten. Und bequeme Schuhe sind das Leben, im wahrsten Sinne des Wortes. Wenn er ein paar Dollar verdient hat, kann er vielleicht neue kaufen. Und hat hoffentlich dann noch genug über für was zu essen. Zum Glück ist es inzwischen richtig Frühling geworden. An den Winter erinnert er sich nur mit Schaudern zurück.

Ethan ist so in den stetigen Rhythmus seiner Schritte versunken, seine ganze Wachsamkeit so auf die Anzeichen für das Ding konzentriert – das heisere Hecheln und Schnüffeln, der Gestank nach Urin und Fäkalien und Kadavern, den er inzwischen zielsicher von ganz normalem Fäkaliengestank unterscheiden kann, so oft hat das Ding aufgeholt, ihn beinahe erwischt – dass er das näherkommende Auto gar nicht so recht registriert. Erst als es neben ihm anhält und ein Fenster heruntergekurbelt wird, sieht er auf. „Wo geht’s denn hin, Junge?“
„Franklin, oder weiter. Besser weiter.“ Es ist immer ein Risiko, einem Erwachsenen zu sagen, dass er weit trampt. Kleine Strecken sind glaubhafter, führen nicht zu so vielen Fragen. Aber jede Meile, die dieser Typ – Mitte Dreißig vielleicht, kurze blonde Haare, Stoppelbart – ihn mitnimmt, ist eine Meile Vorsprung vor dem Ding. Eine Meile Atempause. Eine Meile Überleben.
Der Mann beugt sich hinüber zur Beifahrerseite, öffnet die Tür. „Steig ein.“

Dankbar lässt Ethan sich in den Sitz fallen. Erst jetzt merkt er so richtig, wie schwer seine Beine sind. „Danke, Mister. Wirklich.“ Der andere brummt missmutig, nickt aber und fährt los. „Ich fahre bis Greenville“, sagt der Mann einige Minuten später, als das Ortsschild von Franklin in Sicht kommt. Mehr sagt er nicht, muss er auch nicht sagen. „Das wäre echt nett, Mister, wenn Sie mich weiter mitnehmen würden.“ Der Mann nickt. „Stört es Sie, wenn ich die Stunde schlafe?“ Es ist unvernünftig, unvernünftig, unvernünftig, im Auto eines Fremden einzuschlafen, aber er kann nicht mehr. Wenn der Typ ihn im Schlaf umbringen will, dann bringt er ihn um. Macht vermutlich wenig Unterschied, ob Ethan wach ist oder nicht, wenn der Typ ihm wirklich was Böses will.

Der Mann sieht ihn mit einem sehr seltsamen Blick an, scheint sich den Kommentar aber anders zu überlegen. „Greenville, South Carolina. Nicht Greenville, Georgia. Drei Stunden, nicht eine.“ Oh wow. Drei Stunden Fahrt? Drei Stunden ausruhen und Vorsprung gewinnen? Ohne einen Cent zahlen zu müssen? Oh. Wow. „Greenville, South Carolina, ist super. Danke.“ Ethan schließt die Augen und ist schon beinahe weg, ehe er mit einem erschreckten Japsen wieder zu sich kommt. „Sie müssen mir was versprechen, Mister. Bitte halten Sie nicht an. Bitte fahren Sie einfach durch, solange ich schlafe, ja? Oder wecken Sie mich auf, wenn Sie anhalten. Das ist echt wichtig. Bitte, versprechen Sie’s!“
Der Fahrer schweigt und mustert Ethan eindringlich aus verengten Augen. Seine abgetragene Kleidung, die aufgerissenen Jeans. Die Turnschuhe, die mehr als nur erste Auflösungserscheinungen zeigen. Die magere Gestalt. Das zottelige Haar. „Du bist nicht einfach nur so abgehauen“, sagt er dann. „Du läufst vor was weg. Und zwar ernsthaft. Wie lange schon?“
Ethan sackt in seinem Sitz zusammen. Oh Dreck. Er war zu unvorsichtig. Es ist vorbei. Jetzt wird der Typ ihn beim nächsten Sheriffbüro abliefern, und die werden ihn einsperren, während sie herausfinden, wer er ist und wo er herkommt, und währenddessen wird das Ding zu ihm aufschließen, und dann ist er tot. Er, und das ganze Sheriffbüro mit ihm. Aber seine Flucht war ohnehin nur geborgte Zeit. Auf Dauer kann man dem Ding nicht entkommen. Niemand hält ewig durch. Zumindest niemand, der kein Geld und kein eigenes Auto hat. Ethan schweigt kläglich. Der Blick des Mannes wird härter. Fordernder. Auch sein Tonfall. „Wie lange schon?“
Ethan schluckt. Traut seiner Stimme nicht recht, aber die Worte kommen doch, leise und unsicher. „Was für ein Monat ist?“
Der Mann lacht auf und schüttelt den Kopf. „Scheiße. April. Mitte April. Du weißt nicht mal, welchen Monat wir haben? Raus mit der Sprache: Vor was läufst du weg?“
„Sie würden mir nicht glauben.“
Der Mann schnaubt. „Lass das mal meine Sorge sein.“

Etwas Recherche im Internet hat ergeben, dass der Hanging Tree am östlichen Rand von Dimmitt zu finden ist. Passt ja. Ehe er in die Stadt fährt, nimmt Ethan den kleinen Umweg in Kauf und sieht sich das mal an. Ganz kommt er nicht hin; der Baum steht in einem Naturschutzgebiet, wo die Weiterfahrt mit Autos verboten ist. Und zu Fuß will er nicht näher ran, bis er nicht Genaueres weiß. Aber mal einen Blick drauf werfen.
Von ferne sieht der Baum irgendwie seltsam aus. Rosa, ja, aber nicht da, wo man zum Beispiel bei einer Zierkirsche die Blüten vermuten würde. Durch das Fernglas wird klar, warum. Der Baum blüht direkt an Stamm und Ästen, mit grünen Blättern darüber. Interessant.

Ethan ist eben in der Nähe des Diners, in dem er sich mit Sam und Gideon verabredet hat, aus dem Pickup gestiegen, da sieht er drei Gestalten über die Straße gehen, auf ein Gebäude zu, das von einem großen Namenszug als die Bibliothek ausgewiesen wird. Bekannte Gestalten, dazu ein kleiner Hund. Gideon. Samantha. Und Cal. Letztere beide in vertrautem, freundschaftlichen Gespräch miteinander. Ethan beißt die Zähne zusammen. Es. Geht. Ihn. Nichts. An.

Die drei verschwinden in der Bibliothek. Ethan folgt ihnen langsam über die Straße. Geht aber nicht direkt in das Gebäude, sondern schüttelt erst einmal eine Zigarette aus der Packung und zündet sie an. Nimmt einen tiefen Zug. Verzögert die Begegnung, dessen ist er sich bewusst. Egal. Die Zigarette braucht er jetzt.

Dann ist die Zigarette fertig geraucht, der Stummel zertreten. Hilft ja alles nichts. Mit einem Seufzer macht Ethan sich auf den Weg die Treppen hinauf – und stößt in der Tür mit einer zierlichen, dunkelhaarigen jungen Frau zusammen, die gerade mit den drei anderen Jägern die Bibliothek verlässt. Die Bücher, die sie unter dem Arm hatte, fliegen in alle Richtungen, und Ethan hebt ein paar davon auf, Sam die anderen, ehe er ihr hochhilft. Die junge Frau nimmt seine Hand, lässt sich hochziehen, schenkt ihm ein dankendes Lächeln – ehe sämtliche Farbe aus ihrem Gesicht weicht. Sie wäre beinahe zusammengeklappt, wenn er sie nicht noch immer festgehalten hätte. „Al?!“
Drecksmist. Aber damit hat er ja schon gerechnet, dass sowas hier passieren könnte. Nur vielleicht nicht unbedingt so heftig. Ethan schüttelt beschwichtigend den Kopf. „Bin nicht Albert.“

Es dauert eine Weile, aber dann haben sie die junge Frau davon überzeugt, dass Ethan tatsächlich ein Bekannter der drei ersten Besucher ist und nicht der verstorbene Albert. Nachdem Ethan die anderen begrüßt hat (Gideon freundlich, Cal mit knappem Nicken und Sam etwas verlegen – er hat doch tatsächlich vergessen, ihr zu sagen, dass die beiden anderen Jäger auch hier aufkreuzen werden), stellen die ihm die junge Dame vor. Tanee Carlile, örtliche Bibliothekarin und Archivarin – Volltreffer! – und bestens informiert über den Hanging Tree. So gut informiert, dass sie sogar eine Ausstellung über seine Vergangenheit vorbereitet. Na ist doch bestens. Wenn es nicht zu schön ist, um wahr zu sein. Als Ethan Tanee fragt, ob sie Albert gut gekannt habe, fliegt ein Hauch von etwas wie Schuldbewusstsein über ihr Gesicht.

Die Ausstellung befindet sich im alten Kino. Tanee hat einen Schlüssel – wenig verwunderlich vielleicht, immerhin steht „Carlile Theater“ auf dem Schild – und geht voraus. Drinnen hat die junge Frau mit wenig Geld, aber mit viel Sinn für Ästhetik eine Ausstellung vorbereitet. Sie ist noch nicht ganz fertiggestellt, aber man kann schon sehr gut erkennen, in welche Richtung es gehen soll. Bücher, Briefe, Kleidungsstücke, Möbel, Utensilien. Alte Sepia-Fotografien. Von drei Menschen zumeist, zwei Männern und einer Frau.

Eine wahre Romeo-und-Julia-Geschichte habe sich im 19. Jahrhundert hier abgespielt, erzählt Tanee. Ihre Vorfahrin Esmeralda Carlile war mit Seth Timberlake verheiratet, dem Sohn des Bürgermeisters, der aber ein brutaler, grausamer Mann gewesen sei. Im Totengräber des Ortes, Robert Webster, habe Esmeralda ihre wahre Liebe gefunden. Sie hatten eine Affäre, tauschten über Nachrichten in der Kirche immer ihre geheimen Nachrichten aus, bis irgendwann Seth Timberlake dahinter kam und seine Frau erschlug.
Mit dem Mord kam er davon, weil seine Familie so einflussreich war. Das Gerichtsurteil lautete auf Freispruch, und als offizielle Erklärung wurde angegeben, Esmeralda müsse von einem Vagabunden erschlagen worden sein.
Der Totengräber erhängte sich kurze Zeit später vor Kummer an dem Baum, und auch Seth Timberlake, der Ehemann, nahm sich später das Leben, auch er mit dem Strick und auch er an diesem Baum. Ein Judasbaum ist das übrigens, haben die anderen herausgefunden, so genannt, weil es heißt, dass Judas sich nach seinem Verrat an Jesus an einem solchen Baum erhängt habe.

Seit dieser Zeit jedenfalls herrschen Hass und Fehde zwischen den Carliles und den Timberlakes, auch heute noch. So erzählt Tanee empört, dass das Kino hier, das von den Carliles betrieben worden war, vor einiger Zeit durch den Timberlake-Bürgermeister geschlossen worden sei, angeblich wegen mangelnder Sicherheit. Die junge Frau besteht sehr vehement darauf, dass an diesen Vorwürfen rein gar nichts gewesen sei und es sich nur um kleinliche Machtspielchen der Timberlakes gegen die Carliles gehandelt habe.

Tanee ist etwas nervös, rückt bei allem Erzählen über die romantische Geschichte damals erst nicht mit der vollen Wahrheit heraus. Es ist etwas Überzeugungsarbeit vonnöten, bis Samantha – da ist es wieder, Sams Wunder von Einfühlungsvermögen – aus ihr rauskriegt, was los ist. Tanee glaubt, dass mit dem Hanging Tree etwas nicht stimmt und dass Esmeraldas Geist noch in der Stadt umgeht. Sie hat lange Zeit – einige Jahre lang – den Boden um den Judasbaum herum gesalzen; solange, bis Angus Timberlake, ein Umweltschützer, das mitbekam und sie anzeigte. Angus gewann das Verfahren, und die Unterlassungsklage ging durch. Tanee musste die Verfahrensgebühr zahlen und dufte den Boden in dem Naturschutzgebiet nicht mehr salzen. Heimlich machte sie trotzdem weiter, wurde dabei erwischt und musste jetzt eine richtige Strafe zahlen. Nun steht sie ohne Geld da und, schlimmer noch, sie traut sich nicht länger, Salz zu streuen. Deswegen also der schuldbewusste Gesichtsausdruck vorhin: Tanee macht sich Vorwürfe, dass sie die drei Selbstmorde zu verantworten hat, denn hätte sie den Boden weiter gesalzen, wäre es nicht soweit gekommen, denkt sie.

Außerdem ist sie überzeugt davon, dass Esmeraldas Geist noch da ist, und sie glaubt, dass sie vor einer Weile kurzfristig von Esmeraldas Geist besessen war. Auch das ist etwas, dass sie sich kaum zu erzählen traut, bis die Jäger ihr versichern, dass sie sie nicht für verrückt halten. Wegen ihrer Recherchen für die Ausstellung war Tanee nämlich vor einer Weile an dem alten Haus und der Kirche, sagt sie, und plötzlich überkam sie das Gefühl, sie müsse unbedingt jemanden treffen. In der Kirche selbst schrieb sie dann einen Zettel und legte ihn in ein Gebetbuch, und als sie dann die Kirche verließ und zurück zum Wohnhaus ging, bekam sie plötzlich riesige Angst. Dann wurde ihr kurz schwarz vor Augen, und sie hatte das Gefühl, jetzt sei alles vorbei, aber dann kam sie wieder zu sich, und alles war wieder normal, die seltsamen Eindrücke verschwunden.

Dass etwas nicht stimmen kann, zeigt sich auch am Hanging Tree selbst. Der kommt nämlich immer wieder, erzählt Tanee. Nach Seth Timberlakes Selbstmord wurde der Baum gefällt, aber er trieb wieder aus. Etwa 1901 erhängte sich das nächste Opfer; danach wurde der Baum wieder gefällt, diesmal sogar samt Wurzeln aus dem Boden gerissen. Dennoch muss irgendwo ein Trieb geblieben sein, denn der Baum wuchs nach. In der Mitte des 20 Jahrhunderts wurde er dann ein drittes Mal entfernt, und zwar nicht nur restlos ausgerissen, sondern der ganze Hügel, auf dem der Baum steht, etwa bis zur Hälfte abgetragen und die Erde auf den Feldern ringsum verteilt. Aber nicht einmal das hinderte den Baum daran, wiederzukommen.

Zu den drei Selbstmördern befragen die Jäger die junge Bibliothekarin auch. Al Vernon war ein guter Freund, aber nicht ihr Freund. Und sie kannte ihn seit dem Kindergarten, wie Ethan gleich nachfragt. Damit kann es nicht Alan sein. Einen Moment lang schließt Ethan die Augen, und ihm entfährt ein tiefer Seufzer der Erleichterung. Oh dem Himmel sei Dank. Den zweiten Toten kannte sie nur flüchtig: Peter Sutter war ein Schweizer, Student, der zu den Umweltschützern gehörte, die das Gelände bewachen, seit Tanees Aktionen mit dem Salz herauskamen. Und Ray Morales, der erste, der sich am Baum erhängte, war ein Zimmermann. Den kannte Tanee allerdings so gut wie gar nicht. Sie weiß auch nicht, ob Albert und Ray sich kannten. Aber Morales sei offenbar gut mit Holt Warren befreundet gewesen, dem örtlichen Sheriff, vielleicht wisse der ja mehr.

Ob es die Häuser noch gebe, in denen das Ganze damals passiert sei, wollen die Jäger wissen. Ja, antwortet Tanee, die gibt es. Es sind nur drei Gebäude, aber die Gegend, wo sie zu finden sind, wird großspurig ‚Ghosttown‘ genannt. Na dann sollten sie sich diese ‚Ghosttown‘ doch mal ansehen.

Draußen vor dem Kino tritt Caleb an Ethans Seite. „Hör mal“, fängt der Ältere an. „Wenn du nicht willst, dass ich bleibe, dann hau‘ ich ab.“
Ethan wirft dem anderen einen vorsichtigen Blick zu. Beißt die Zähne etwas zusammen, zwingt sich dann aber zum Durchatmen. Das ist doch albern. Es ist Jahre her. Er ist erwachsen, sie sind beide erwachsen. Sie müssen doch verdammt nochmal zusammenarbeiten können, egal, was damals war. Verlangt keiner, dass sie Händchen halten. Ethan schüttelt leicht den Kopf. „Lass. Jetzt bist du schon mal –

– hier“, beendet Ethan seine Erzählung. Sonderlich lange hat sie nicht gedauert, auch wenn er anfangs öfter ins Stocken kam und zögernd zu dem Typen rüberschaute. Aber der hat ihn weder unterbrochen noch für verrückt erklärt, und so wurde Ethans Bericht irgendwann flüssiger.

„Verstehe“, nickt der Mann. „Wie heißt du, Junge?“
„Ethan“, murmelt er. „Ethan Gale.“
Der Typ nickt wieder. „Ich hab da so einen Verdacht. Muss den nur erstmal bestätigen.“
Er sieht auf die Straße, klappt gegen die tiefstehende Sonne des fortschreitenden Nachmittags die Sichtblende nach unten. „Du kannst was schlafen. Wenn wir anhalten, sag ich bescheid.“

Der Mann hält Wort. Ein Rütteln an der Schulter holt Ethan wieder ins Jetzt. Sie rollen gerade auf den Parkplatz einer Burgerkette. „Du hast bestimmt Hunger.“
Ethan nickt eifrig – eifriger, als er vorhatte. Aber sein Magen knurrt auch heftiger, als er sich das eigentlich hatte anmerken lassen wollen.
Während Ethan heißhungrig erst zwei große Burgermenüs samt Cola, dann hinterher noch ein Eis verdrückt, führt der Mann ein Telefonat. „Problem“, fängt er nach der Begrüßung an und liefert seinem Gesprächspartner dann eine kurze Zusammenfassung dessen, was Ethan über das Ding erzählt hat. „Ich vermute mal, das könnte ein– genau. Ja genau, das war mein Gedanke.“ Dann nickt und mmhmt er vor allem und wirft ein, zwei Kommentare ein, aus denen Ethan aber ohne Zusammenhang nicht sonderlich schlau wird. Mit einem letzten „Alles klar. Yep. Danke. Ich melde mich.“ legt der Typ dann auf, steckt sein Telefon weg und wendet sich seinem jungen Mitfahrer zu.
„Wie ich mir dachte. Du hast einen Harrdhu am Hals. Hässlich.“ Täuscht Ethan sich, oder ist da beinahe sowas wie Respekt im Blick des Älteren zu erkennen?
„Geben nicht auf, wenn sie mal hinter was her sind.“ Der Typ schnaubt ironisch. „Wie du gemerkt hast. Ziemlich zäh. Aber nicht unbesiegbar.“

Ethan sieht seinen Fahrer aus großen Augen an. „Sie… Sie glauben mir? Und Sie… Sie wissen, was das für ein Ding ist? Und… und was man dagegen machen kann?“
Das jähe, völlig unerwartete Gefühl der Hoffnung, das ihn mit einem Mal durchflutet, ist unbeschreiblich. Erst jetzt wird Ethan so richtig klar, wie sehr er in all den Monaten auf der Flucht tief im Inneren eigentlich völlig davon überzeugt war, dass er für den Rest seines Lebens fliehen würde. Dass er alles geben würde, was er nur hatte, dass es über kurz oder lang aber völlig aussichtslos wäre. Dass er eigentlich schon längst tot war, es nur noch nicht wahrhaben wollte. „Aber nicht unbesiegbar.“ Dieser eine kurze Satz, dieser eine kleine Hoffnungsschimmer, bringt sein Herz beinahe zum Stillstehen. Und die lapidare Antwort des Mannes auf seine Frage, die ihm bekräftigt, dass er sich nicht verhört hat, fast noch mehr.
Der Mann grinst. „Klar. Verwirren, indem man seinen Geruchssinn lahmlegt. In einen Kreis einschließen, aus dem es nicht rauskommt. Und dann abstechen.“

Ethan nimmt einen zittrigen Atemzug. Reißt sich dann zusammen und nickt dem Mann zu. „Okay… Und… wie?“
„Iss mal fertig. Wir müssen paar Sachen besorgen. Kannst du fahren?“
Ethan nickt wieder. Seinen Führerschein hat er letzten Herbst gemacht, kurz nach seinem sechzehnten Geburtstag.
„Gut. Wir müssen in Bewegung bleiben, die ganze Nacht. Wer nicht fährt, schläft. Morgen besorgen wir den Kram: Veilchen, Silbernitrat, eine Waffe aus Messing. Und dann suchen wir uns einen Ort, wohin wir das Mistvieh kommen lassen. Und dann…“ Der Mann zuckt mit den Schultern und zerschneidet mit der Hand die Luft.
Ethan nickt ein drittes Mal. Er wagt nicht zu fragen, warum der Mann das alles für ihn tut. Er muss doch Besseres mit seiner Zeit vorhaben. Eine Familie, zu der er unterwegs war. Oder selbst wenn nicht – warum will er sich für einen fremden Jungen in die Gefahr begeben, auch von dem Ding zerrissen zu werden? Aber der Typ sieht aus, als wisse er, was er tue. Ihn umgibt eine Aura der kühlen, praktischen Kompetenz. Wenn er sagt, dass sie das Ding – diesen Harrdhu – mit Veilchen, Messing, und was war das Dritte? Silbernitrat? besiegen können, dann glaubt Ethan ihm das. Denn selbst wenn es nicht stimmt und das Ding ihn umbringt, wenn sie es stellen. Oder wenn der Typ ihn verarscht und ihm doch was Böses will. Tot ist er auch, wenn er sich alleine wieder auf den Weg macht.
„Wie heißen Sie eigentlich?“
Der Mann zündet sich eine Zigarette an. „Caleb Fisher. Nenn mich Cal. Und hör mit dem ‘Sie’ auf.“

Die alte Kirche ist der nächstgelegene Ort. Je näher sie dem verlassenen Gebäude kommen, um so nervöser reagiert der kleine Hund. Der Hund, der zu Ethans Erstaunen zu Cal zu gehören scheint. Caleb ist ihm nie wie ein Typ vorgekommen, der einen Hund haben würde. An Sam scheint das Tier einen besonderen Narren gefressen zu haben. Als würde es die Jägerin schon länger kennen. Ethan atmet tief durch. Geht ihn nichts an.
Hier ist irgendwas. Hunde haben ein Gespür für solche Dinge. Die Hündin wird mit jedem Schritt Richtung Kirche unruhiger und beschützerischer. Mit gesträubtem Fell, Marke ‚Lass meine Menschen in Ruhe!‘, hält sie sich zwischen Sam, Cal und der Präsenz.

Samantha beschleunigt ihren Gang, eilt auf die Kirche zu. Ethan spürt es auch. Etwas. Ein… Ein Sehnen. Er kann Sam da nicht alleine reingehen lassen. Will an ihrer Seite sein, wenn sie – wenn sie was? Egal. Er will an ihrer Seite sein. Mit langen Schritten geht er ihr nach.

Drinnen sehen sie den Geist. Esmeralda. Eine blonde Frau von kühler, spröder Schönheit in der Kleidung einer wohlhabenden Städterin aus jener Zeit. Das ernste Gesicht von den Fotos aus Tanees Ausstellung wird hier von einem seligen Lächeln erhellt, während die Erscheinung einen Zettel schreibt und diesen in einem Gesangbuch versteckt, das sie dann zuunterst in den Stapel schiebt, ehe sie wieder aus dem Gebäude eilt.

Sobald Esmeralda verschwunden ist, vergeht auch dieses eigenartige Gefühl der Sehnsucht. Sam tritt an das Regal und zieht das Gesangbuch aus dem Stapel. Der Zettel ist mit einer zierlichen, verschnörkelten Frauenhandschrift beschrieben. „9 p.m., wie immer.“ Das Papier fühlt sich erst völlig real an, aber nach kurzer Zeit verblasst es, wird immer substanzloser, bis es schließlich ganz und gar vergangen ist. Ethan nickt leicht. Das haben Geistergegenstände öfter mal so an sich.

Ethan stellt sich in die Eingangstür. Sieht nach draußen und ruft. „Esmeralda?“ Für einen kurzen Moment erscheint die Gestalt in dem langen Kleid wieder, sieht erst Ethan traurig an und dreht sich dann weg, reckt sehnsuchtsvoll die Hände in Richtung der kleinen steinernen Hütte, die ein Stück weiter zu sehen ist. Das muss das Haus des Totengräbers gewesen sein. Als Ethan den Blick von der verfallenen Kate abwendet, ist Esmeraldas Geist schon wieder verschwunden.

Am nächsten Abend ist es soweit. Sie haben alles bekommen, von dem Cal sagte, dass sie es brauchen. Und einen Ort gefunden, wo sie dem Ding auflauern können. Eine Wiese mitten im Nichts, wo sie hoffentlich niemanden gefährden außer sich selbst und wo sie einen guten Blick in die Umgebung haben, wenn das Ding kommt. Aber mit einer alten Holzhütte als Deckung.
„Also. Der Harrdhu jagt dich, und momentan nur dich. Der wird sich erstmal auf dich konzentrieren, das werden wir ausnutzen.“ Cal deutet auf die Hütte. „Du tust so, als wärst du völlig erledigt. Und wenn er dann kommt…“

Harrdhui orientieren sich beinahe ausschließlich nach ihrem Geruchssinn, hat Cal gesagt. Also ist es wichtig, als allererstes den auszuschalten. Ethan lauert, an die Außenwand der Hütte gelehnt, in einer Hand die Flasche mit der Veilchenessenz, in der anderen die Waffe. Hin und wieder muss er sich bewegen, damit ihm die Beine nicht einschlafen. Und weil ihm mulmig zumute ist. Ach was. Viel, viel mehr als mulmig. All die Monate ständig auf der Flucht, und jetzt? Jetzt soll er einfach hier sitzen und darauf warten, dass das Ding, vor dem er so lange weggelaufen ist, ihn einholt? Alles in ihm schreit danach, auf den Plan zu pfeifen. Wie lange hockt er jetzt schon hier? Stunden. Es ist längst dunkel.

Ethan wird immer nervöser. Er ist kurz davor, tatsächlich den Rückzug anzutreten, da riecht er es. Den unverwechselbaren, widerlichen Gestank, der sich in sein Gedächtnis eingebrannt hat wie nichts zuvor. Der Harrdhu ist hier. Mit einem Mal klopft sein Herz bis zum Hals, und er zittert.
Der Harrdhu schnuppert. Seine gelben Augen leuchten in der Dunkelheit, und Ethan glaubt, Worte in dem Geschnüffel ausmachen zu können. Er kommt näher… näher… gleich wird er springen, er kann doch Entfernungen urplötzlich überbrücken… das Ding ist nah, viel zu nah, warum hat er sich nur darauf eingelassen, jetzt hat es ihn erwischt – und ehe er es sich versieht, ehe er überhaupt selbst weiß, dass er es tun wird, schleudert er dem Monster den Inhalt der Flasche entgegen. Intensiver Veilchengeruch dringt an seine Nase, überdeckt beinahe den ekelerregenden Gestank des Dings. Aber in seiner Panik war er zu früh. Die Hälfte der Flüssigkeit schwappt nicht dem Harrdhu in die Nase, sondern an ihm vorbei, und das Monster schreit wütend auf und springt auf Ethan zu. In den Kreis aus Silbernitrat hinein, den sie vorher um Ethan herum gezogen haben, aber es ist nicht so behindert, wie es hätte sein sollen. Ethans Schlag mit der sorgfältig geschärften Messinglanze streift die schwarze, schrumpelige Haut nur, statt sie zu durchstechen, und rasiermesserscharfe Krallen rammen sich in Ethans Schulter.

Vorbei, es ist vorbei, lieber Gott vergib mir, und beschütze Mom und Da –

Eine zweite Messinglanze durchbohrt das Monster von der Seite, und die Bestie schreit auf, hoch und markerschütternd und nicht enden wollend, und es dringt noch einmal ein besonders widerlicher Schwall von der Ausdünstung des Harrdhu an Ethans Nase, ehe die gelben Augen verlöschen und die Kreatur mit einem letzten Röcheln zu Boden fällt und stillliegt.

Ethan zittert am ganzen Leib. Er wirft einen Blick auf den toten Harrdhu, und mit einem Mal ist der Gestank so überwältigend, dass er sich heftig übergeben muss. Cal zieht die Lanze aus dem Biest heraus, wischt die Waffe mit knappen Bewegungen sauber, während Ethan verlegen zu Boden sieht.

„Ich… ich hab’s verbockt…“
Cal lässt die Lanze sinken, kommt zu ihm herüber.
„Keiner von uns ist tot. Das werte ich als Erfolg.“
Ethan nickt unbeholfen.
„Aber wenn Sie nicht gewesen wären…“
Cal lacht. „Und? Deshalb war ich doch hier. Aber klar, nächstes Mal kannst du das Monster alleine erlegen.“
Er holt eine Schachtel aus der Tasche und schüttelt eine Zigarette heraus. Zündet den Glimmstengel an und nimmt einen tiefen Zug. Dann hält er Ethan die Packung hin. „Auch eine?“
„Nein, ich…“ Ethan zögert. Seine Schulter tut höllisch weh, er hat im Mund den Geschmack von Erbrochenem, und er zittert noch immer. „Ja, bitte“, murmelt er und greift nach der Packung.

Cal war nicht mit in der Kirche. Jetzt stößt er wieder zu den anderen, deutet hinter das Gebäude. „Hab den Friedhof gefunden“, brummt er. Das scheint nur der alte Friedhof des Ortes zu sein, erklärt er dann, denn die Gräber gehen nur bis in die 1950er Jahre. Irgendwo muss es noch einen neuen Friedhof geben. Aber immerhin hat Cal die Gräber des Ehepaares gefunden. Das von Robert Webster, dem Totengräber, aber nicht. Mist.

Bei dessen Kate spüren sie wieder alle einen Anflug von etwas, aber so richtig greifbar ist es nicht. Die kleine Hündin reagiert auch nicht groß auf die Umgebung. Das ändert sich schlagartig, je näher sie dann dem Haus kommen, wo das Ehepaar Timberlake gelebt hat. Da fängt das Fellknäuel wieder an zu knurren und sich wachsam umzusehen und sich zwischen die unsichtbare Gefahr und seine Menschen zu stellen.

Die Strahlung, der Einfluss, wie auch immer man es nennen will, scheint aus dem Garten zu kommen. Dort hinten stehen zwei alte, schmale Pfosten mit je einem rostigen Haken darin, wie sie vielleicht früher einmal verwendet wurden, um eine Wäscheleine dazwischen aufzuspannen. Ethan runzelt die Stirn und geht sich das einmal ansehen.

In dem Moment, wo er zwischen den Pfosten steht, überkommt es ihn: Ein Gefühl der Wut und der Aggression, so stark, dass es ihm beinahe den Atem raubt. Ethan ballt die Fäuste und stapft zurück zu den anderen. Das zornige Brodeln in seinem Bauch wird davon nicht weniger.

Er presst die Zähne zusammen und deutet zurück zu den Pfosten. „Da nicht hin“, knirscht er. „Was ist da?“ fragt Sam neugierig und setzt sich in Bewegung – natürlich genau in die Richtung, vor der er sie eben gewarnt hat! „Nicht!“ fährt er sie an. „Gefährlich!“ Sam runzelt die Stirn, geht trotzdem weiter. Verdammt! Er will sie doch nur beschützen! Dahinten hat Seth Timberlake seine Frau umgebracht, Himmel noch eins, und da treibt sich noch immer dieser Geist herum!
Ruppig packt Ethan Sam an der Schulter, hält sie fest. „Nicht! Da hat er sie umgebracht!“

Cal baut sich vor ihm auf. Ausgerechnet Cal, der hat es nötig!
„Du solltest Sam ihre eigenen Entscheidungen treffen lassen.“
Ethan wirft dem Älteren einen vernichtenden Blick zu. „Weil du ja so viel Erfahrung damit hast, andere ihre eigenen Entscheidungen treffen zu lassen!“
Cal drängt sich so zwischen die beiden jüngeren Jäger, dass Ethan Sams Schulter loslassen muss. Sein Blick fährt kurz zu der jungen Frau, die verängstigt zurückweicht und den Hund hochhebt, dann mustert er Ethan, wachsam und angespannt. Seine Haltung lässt keinen Zweifel daran, dass er glaubt, hier eingreifen zu müssen.
„Wenn du dich mit wem anlegen musst, dann mit mir, aber lass‘ Sam in Ruhe.“
Scheiße. Meint der wirklich, Ethan würde… Verdammte Scheiße! So wie Cal dasteht, als Deckung zwischen ihm und Sam: Der meint allen Ernstes, Ethan könnte Sam etwas antun! Ethan will Samantha beschützen, verdammt nochmal! Eher würde er sich selbst die Hand abhacken, als dass er sie gegen Sam erhebt! Eher sterben, als ihr wehzutun! Allein der Gedanke daran lässt die Wut in seinem Bauch noch höher kochen. Was bildet der sich ein! Wie er vor ihm steht, genauso überzeugt von sich wie eh und je, Caleb Fisher allein hat die ganze Wahrheit für sich gepachtet, gar keine Chance, dass die Dinge jemals irgendwie anders liegen könnten, als Caleb Fisher sie einschätzt! Der große, allmächtige Caleb Fisher, der glaubt, die Leute zu dem zwingen zu müssen, was er für richtig hält, selbst wenn –

„Ich hätte dich gebraucht, du…!“
Ansatzlos holt Ethan aus, und seine Faust rast auf Calebs Gesicht zu. Keine Finte, keine Ablenkung, einfach nur eine Gerade, die sich aus zehn Meilen Entfernung ankündigt. Cal sieht den Schlag kommen, natürlich sieht Cal ihn kommen – und trotzdem macht Cal keinerlei Anstalten, auszuweichen oder sich zu verteidigen. Dass Cal einfach nur reglos stehenbleibt, dringt sogar durch Ethans siedenden Zorn. Im allerletzten Moment federt er seinen Schlag ein wenig ab und zieht ihn ein Stück nach oben. Cals Augenbraue platzt davon auf, Blut läuft ihm das Gesicht hinunter – und die ganze Wut fließt mit einem Mal aus Ethan ab, als habe man einen Stöpsel gezogen.

Ethan lässt die Hände sinken, fällt förmlich in sich zusammen. Greift mechanisch nach dem Verbandbeutel in seiner Tasche, sucht nach einem Pflaster.
„Scheiße, Mann. Tut mir leid.“
Cal winkt ab. „Ich hab’s ja verdient.“
„Das… Das ist dieser Ort. Er… hier…“ Ethan deutet hinter sich zu den Wäschepfosten. „Da hinten. Der Mord.“
„Hauen wir ab. Dieser Ort ist nicht gut.“

Sam hat die ganze Konfrontation mit schreckensbleichem Gesicht verfolgt. Sie hält die kleine Promenadenmischung fest, die sich an sie kuschelt, als wolle sie gleichermaßen Trost spenden wie empfangen. Gideon wirkt gelassener, Marke ‚die müssen da wohl was auskaspern, lassen wir sie mal‘, aber Sam macht einen richtig entsetzten Eindruck. Starr vor Panik. Als sie sich von dem Farmhaus entfernen, hält sie, die Hündin noch immer auf dem Arm, sorgfältig Abstand von Ethan. Er verzieht das Gesicht. Stich in sein Herz.

Ethan zündet sich eine Zigarette an, tritt dann neben Samantha, die ihm einen misstrauisch-bangen Blick zuwirft. Noch ein Stich. Verdammt.
„Tut mir leid, dass ich dir Angst eingejagt habe“, beginnt er unsicher. „Dieser Ort, er… er hat mich… wütend gemacht.“
„Es war nicht nur der Ort, oder?“ fragt sie leise.
Ethan schüttelt verlegen den Kopf. „Nein“, erwidert er zögernd. „Könnt mich jetzt drauf rausreden, aber… nein. Nicht –

– nur.“
Cal lächelt sardonisch. „Ach nein? Sondern?“
„Naja“, druckst Ethan, „klar ist sie hübsch. Total hübsch. Aber auch klug. Und nett. Und geistreich. Und sie hat einen tollen Humor.“
„Na dich hat’s ja schwer erwischt.“
Ethan nickt etwas verlegen. „Glaub schon. Du musst sie unbedingt kennenlernen, Cal. Ich glaube, du wirst sie mögen.“
Der Ältere wirft ihm einen kurzen Blick zu und starrt dann an ihm vorbei in die Ferne. „Warum sollte ich sie kennenlernen?“
Völlig perplex sieht Ethan seinen Mentor an. „Wa– Aber natürlich solltest du!”
„Was willst du ihr denn erzählen? ‘Hey, das ist der Typ, der mir gezeigt hat, wie man einem Vampir den Kopf abschlägt und wie man eine Leiche so zerstückelt, dass man keine Aufmerksamkeit erregt’?” Cals Grinsen zeigt etwas zu viele Zähne. „Klingt nach einer echt tollen Idee.”
„Nein, das…” Ethan schüttelt heftig den Kopf. „Das müssen wir doch nicht erwähnen! Du bist einfach ein Freund von mir, oder? Ich meine, irgendwann…” Er blinzelt, bricht ab, als ihm klar wird, dass er in Gedanken gerade fünf Schritte vor dem ersten getan hat. „Ähm. Also nur gesetzt den Fall, das, ähm…”, er räuspert sich, „… das wird was. Dann ist es doch klar, dass du sie irgendwann triffst!”
Cal starrt ihn für einen Moment an und sagt noch einmal, langsamer: „Wozu? Sei kein Idiot. Was sollte das bringen?“ Dann dreht er sich um und steckt sich eine Zigarette an. Ruhiger, mit dem Ausatmen des Rauches, sagt er: „Ich freue mich für dich, ehrlich. Aber wenn du das wirklich willst, wenn du so richtig mit ihr zusammen sein willst, und nicht nur ein bisschen vögeln, dann ist das hier vorbei.“ Er macht eine Handbewegung, die das Auto, ihn, die Straße umfasst. „Jagen und ein Mädchen oder eine Familie, das läuft nicht. Vergiss es.“
„Also, ich…” Verlegen zündet Ethan sich ebenfalls eine Zigarette an. „Ist ja nicht gesagt, dass das überhaupt was wird. Aber wenn…” Er sieht aus dem Fenster, auf die Berge ringsum und den mächtigen Fluss, an dem sich die Straße entlangzieht, ehe er den Blick wieder Cal zuwendet. „Warum läuft das nicht? Wegen des vielen Umherziehens?” Sie sind jetzt schon seit über einer Woche hier in der Gegend, aber es stimmt schon. In den letzten beiden Jahren haben sie nur selten mehr als zwei, drei Nächte an ein und demselben Ort verbracht.
Cal schnaubt. „Nein. Weil es verdammt noch mal gefährlich ist. Es hat seinen Grund, dass die meisten Jäger Einzelgänger sind. Du solltest doch selbst am besten wissen, wie schnell sich ein Monster an deine Fersen heftet. Nur macht das Ding dann nicht nur dich fertig, sondern auch den Zivilis…“ Er bricht kurz ab, als sich das Militärsprech seines Vaters in seine Worte schleicht. „…deine kleine Freundin. Oder brauchst du Beispiele? Ich habe genug Beispiele.“
Autsch. Ja klar. Da hat Ethan gerade gehörig auf dem Schlauch gestanden. Genau das war ja der Grund, warum er nicht mehr nach Hause konnte. Warum er sogar, nachdem der Harrdhu tot war, nie wieder Kontakt zu seiner Familie aufgenommen hat. Sachte schüttelt er den Kopf. „Verstehe schon.”
Den Rest der Fahrt über ist Ethan ziemlich schweigsam und nachdenklich. Als sie gegen Nachmittag an dem Motel ankommen, wo sie die letzten Tage übernachtet haben, zieht Ethan sich sofort in sein Zimmer zurück. Aber da hält es ihn nicht, und so macht er sich ziemlich bald auf einen Streifzug durch die weitgehend unberührte Landschaft in der Nähe. Beim Gehen oder Laufen die Gedanken frei schweifen zu lassen, diese Angewohnheit hat er noch nicht so recht abgelegt – und wird er möglicherweise auch nie ganz ablegen, egal, wie lange es her ist.
Eine Stunde später ist er zu einem Entschluss gekommen. Er wird es tun. Carla ist es wert. Nicht nur wert. Sie ist diejenige. Sie ist diejenige, und Ethan wird mit diesem Leben aufhören.

Paradoxerweise scheint die ehrliche Antwort eine beruhigendere Wirkung auf Sam zu haben, als wenn Ethan alles nur auf den Einfluss des Geistes geschoben hätte, denn sie nickt, atmet einmal tief durch und bewegt sich nicht mehr so steif und vorsichtig in seiner Gegenwart. Den Stein, der ihm vom Herzen fällt, kann man mit Sicherheit im nächsten County noch plumpsen hören.
„Ich hatte Angst, weißt du“, erklärt sie. „Zum Teil kam sie vielleicht von Esmeralda, aber zum Teil…“
Er schluckt. Ja. Zum Teil kam die Angst, weil auch sie selbst, Sam, dachte, er würde sie jetzt umbringen. Oder wenigstens handgreiflich gegen sie werden. Nicht du. Niemals du. Ich könnte dir niemals etwas antun. Aber das kann er nicht sagen. Er nickt. „Es tut mir leid.“

Die Frage ist, sollen sie erst zum Sheriff gehen und den wegen des ersten Selbstmörders befragen oder lieber gleich zum Judasbaum? Sie entscheiden sich für letzteres; immerhin stand auf Esmeraldas Zettel etwas von neun Uhr, und so früh am Nachmittag ist es gar nicht mehr.

Auf seinem Hügel hebt sich der Hanging Tree in starkem Kontrast gegen die texanische Nachmittagssonne ab. In dem Licht sehen die rosafarbenen Blüten am Stamm besonders ungewöhnlich aus. An den Baum gelehnt sitzt der Totengräber: eine hochgewachsene Gestalt mit kurzgeschorenem dunklem Bart, schwarzem Anzug und Zylinder. Erst als sie näherkommen, erkennen sie, dass es doch nicht Websters Geist ist, sondern ein junger Mann. Blonde, kurze Haare, dunkle Augen. Und ein völlig übermüdetes, verzweifeltes, tränenüberströmtes Gesicht. Von Schluchzern geschüttelt. Tanees Beschreibung nach sieht er aus wie… „Angus Timberlake?“ fragt Gideon.

Der junge Mann sieht auf. „Wer sind Sie denn? Hat sie Sie etwa geschickt? Wollen Sie etwa auch die Umwelt zerstören? Oder was –

– machst du hier?“ Cal starrt Ethan eisig an. Kein „Hallo“. Kein „Wie geht es?“. Kein „Wie geht es Carla?“
Er lässt den Kofferraum mit seinen Waffen zufallen und schiebt ein neues Magazin in die Beretta. „Ist das dein Ding? Lässt du dein Mädchen alleine zu Hause rumsitzen, während du beim Jagen Spaß hast?“
Ethan, der eben schon angesetzt hat, um seinen Freund und Mentor zu begrüßen, klappt den Mund wieder zu. Kurz irrlichtert es in seinen Augen, undefinierbar, und etwas, ein hilfesuchender, verzweifelter Ausdruck darin, erlischt. Einen Moment lang beißt er die Kiefer so fest aufeinander, dass er meint, gleich bricht ein Zahn.
„Total”, presst er mit Mühe heraus.
Cal schnaubt verächtlich. „Ich hab’s dir gesagt, entweder – oder. Aber ist ja deine Entscheidung.“ Er zuckt mit den Achseln und schiebt sein Bowiemesser in die Scheide. „Ich dachte, du wärst froh, dass sich eine mit dir abgibt. Hast doch immer davon geredet, dass du dich um sie kümmern willst.“ Cals Tonfall klingt seltsam. So als sei ihm selbst nicht ganz klar, ob er über sich selbst spricht oder über Ethan.
Aber das bemerkt der kaum. Ein Zahn ist eben nicht gebrochen. Aber etwas in in ihm. Etwas, das bis hierher noch irgendwie gehalten hat, gerade so. Er ballt die Fäuste in den Taschen. Presst die Zähne nochmal aufeinander. Atmet tief durch – nein. Es ist ein bitteres, hoffnungsloses Schnauben. “Genau. Meine… Entscheidung.”
Er nickt dem Älteren zu, knapp und kühl. Zieht den Panzer der Unnahbarkeit noch etwas enger um den Schmerz und die Schuld und den Selbsthass.
„Ich geh dann.” Fick dich, will er sagen. Aber die Worte finden den Weg nicht nach draußen. So viele Worte haben in den letzten Wochen ihren Weg nicht nach draußen gefunden. Fast gar keines mehr. Er sieht sich nicht um, während er zu seinem eigenen Wagen zurückgeht. Sieht nicht zurück, als er vom Parkplatz fährt. Fixiert den Blick starr auf die Straße, bis er nach Meilen an einem abgelegenen Rastplatz ankommt. Aussteigt. Seinen Schmerz in die Landschaft brüllt, als würde das auch nur im Ansatz etwas helfen. Ob es Carlas Name ist oder einfach ein endloser, wortloser Schrei, das kann er selbst nicht sagen.

„Umwelt zerstören?“
Angus Timberlake nickt heftig.
„Den Boden mit diesen Unmengen Salz vergiften! Das ist es doch, was diese Hexe will? Hat sie Sie etwa auch bezaubert, wie sie das mit Al gemacht hat?“
Timberlakes Verzweiflung und seine Verstocktheit sind eindeutig nicht normal. Der Junge ist weder bereit, sich mit Tanee zusammenzusetzen, noch einzusehen, dass die Mengen Salz, die sie gestreut hat, dem Boden nicht so sehr schaden, wie er das anzunehmen scheint. Seit er herausgefunden hat, dass Tanee das Land vergiftet, dass sie irgendwann sogar Albert in ihren perfiden Plan mit einbezog, halten sie hier Wache.
‚Sie‘, das waren eigentlich seine Freunde von Greenpeace und er, aber seit Peter Sutter sich hier umgebracht hat, sind die meisten anderen abgehauen, und nur noch er und Emilia sind übrig. Ah. Deswegen der Schlafmangel.

Ausruhen will Angus sich aber auch nicht. Will seinen Posten nicht verlassen. Nicht, bis seine Ablösung kommt. Gideon leuchtet ihm in die Augen und nickt seinen Begleitern dann zu. Auch Ethan sieht das orangefarbene Aufblitzen, das die besondere Stablampe des Sanitäters zum Vorschein bringt: Der Junge ist besessen. Allerdings scheint es weniger zu werden, je länger er sich mit anderen Leuten unterhält. Und glücklicherweise dauert es nicht sehr lange, bis die Ablösung, von der er gesprochen hat, tatsächlich aufkreuzt: Eine junge Studentin, die überaus eifrig bei der Sache ist und sichtlich für Angus schwärmt. Jetzt ist Timberlake endlich bereit, sich von Sam nachhause fahren zu lassen. Ethan sieht den beiden nach und beißt die Zähne zusammen. Natürlich fährt Sam Angus heim, sie hatte den besten Draht zu dem Jungen.

Stellt sich nur die Frage, ob man das Mädchen einfach so hier lassen kann, oder ob sie eventuell auch von Websters Geist beeinflusst werden könnte. Ethan glaubt nicht: Für ihn sieht es so aus, als ob Männer, je nach Ort, nur von Seth oder Robert besessen würden und Frauen nur von Esmeralda. Aber sicher ist sicher, also leuchtet Gideon dem Mädchen ebenfalls in die Augen. Nichts. Ganz normal. Gut. Dann können sie die Studentin hoffentlich unbesorgt hier Wache stehen lassen.

Sobald Sam wieder zu ihnen gestoßen ist, planen sie, was sie nun tun sollen. Klar. Die drei Geister zur Ruhe legen. Nur: Das wird nicht so leicht. Die Gräber des Ehepaares Timberlake sind auf dem Friedhof, aber das von Robert Webster? Auf ihr Nachfragen erzählt Tanee, dass der Totengräber als Selbstmörder nicht nur keinen Platz auf dem Friedhof bekam, sondern der Bürgermeister auch dafür sorgte, dass seine Knochen zermahlen und das Mehl als Dünger unter dem Judasbaum verteilt wurde. Und noch schlimmer: Da der Hügel irgendwann zur Hälfte abgetragen und die Erde auf den Feldern ringsum verteilt wurde, liegen Websters Überreste nun überall verstreut. Keine Chance, die je wieder komplett zu finden und einzusalzen und zu verbrennen.

Aber wie wäre es, wenn sie nur Seth Timberlake weiterschicken? Dann finden die Geister der beiden Liebenden vielleicht endlich zueinander und können auf diese Weise ihren Frieden erlangen.
Ein schneller Blick auf die Uhr: Sie können es noch schaffen. Am Friedhof legen sie einen Salzkreis um das Grab und machen sich dann an die Arbeit. Natürlich erscheint Timberlakes Geist und will sie daran hindern, ihn zu bannen, aber der Salzkreis hält, und sie sind zu viert. Mit einem beinahe hörbaren Kreischen vergeht der Ehefrauenmörder in den Flammen seiner Überreste.

Die vier Jäger eilen zum Hanging Tree zurück. Emilia Rodriguez, die junge Studentin, hat sich in den Wohnwagen am Rand des Naturschutzgebiets zurückgezogen, das ihr und Angus als Wachtposten dient. Gut so. Da stört sie nicht.
Am Hügel ist Robert Websters Geist zu sehen: eine schattenhafte Gestalt, die unruhig vor dem Baum hin- und herläuft. Eindeutig auf etwas wartet. Es dauert eine Weile, aber dann erscheint Esmeraldas Geist tatsächlich. Die beiden Schemen gehen aufeinander zu, zögerlich erst, als könnten sie es nicht glauben. Dann fliegen sie einander in die Arme und beginnen einen langsamen Tanz um den Baum herum. Dieser endet damit, dass sie anhalten, einander innig küssen und verblassen, bis schließlich keine Spur mehr von ihnen zu sehen ist.

Ethan ist neben Samantha zum Halten gekommen, und während alle fasziniert auf die Tänzer schauen, stehlen sich plötzlich, beinahe wie von selbst, ihre Hände ineinander. Mit leisem Druck verflechten sich ihre Finger, streicht die Kuppe seines Daumens sachte über ihren Handrücken. Doch dann sind die Geister verschwunden, und die Blicke der anderen wandern zu Sam und Ethan. Gideon schaut wohlwollend-amüsiert, als er deren Händehalten bemerkt; Cal macht eine kritische Miene. Sofort lösen sie sich voneinander, und beide Jäger schauen verlegen in jeweils eine andere Richtung.

„Lass einen trinken gehen, das habe ich jetzt nötig“, schlägt Gideon vor. Oh ja, sie auch, sie kommt mit, erklärt Sam sofort. Aber der Sanitäter nimmt die junge Jägerin beiseite, murmelt ihr etwas zu. Ethan kann nur Bruchstücke verstehen, aber es ist ihm schon klar, was der Bostoner sagt: Er muss was mit Cal privat besprechen, zwinker zwinker, und bis morgen. Irgendwie sowas in dem Stil.
Sam ist das fürchterlich unangenehm, Ethan auch, aber er kann sie ja jetzt nicht alleine stehen lassen. Also, ja, gehen auch die beiden in eine kleine Kneipe. Und es ist wieder genau dasselbe wie damals am See in Dana Point: Ethan fühlt sich hingezogen zu ihr, sehr sogar, wahrt aber gleichzeitig sorgfältig seine Distanz.

Sie merkt, wie hin- und hergerissen er ist. Drecksmist. Natürlich merkt sie das. Sie ist ja nicht blind. Im Gegenteil, sie hat ein sehr feines Gespür für Untertöne, wie er jetzt schon mehrmals gemerkt hat. Schließlich bietet sie ihm ein offenes Ohr an, falls er darüber reden wolle. Ethan zögert. Atmet tief durch. Öffnet schon beinahe den Mund, um ihr alles zu sagen. Bekommt dann aber doch nur ein halbes Lächeln zustande. „Ja. Hast es verdient. Nur…“ Er macht eine hilflose Handbewegung. „Nicht…“ Er seufzt. „Irgendwann.“

Kein Wunder, dass danach die Stimmung im Keller ist. Sie trinken ihr Bier aus und gehen ins Bett. Jeder in sein eigenes natürlich. Treffen sich am nächsten Tag nochmal. Stellen am Baum sicher, dass die selbstmörderischen Schwingungen, die Präsenzen, die sie alle gespürt haben, verschwunden sind. Lernen Tanees Mutter kennen und erfahren von der, dass auch sie über viele Jahre die Erde um den Baum gesalzen hat. Sie ist zwar keine Jägerin, aber Tanees Vater war einer. Er blieb auf der Durchreise eine Weile in Dimmitt hängen, lange genug, um Tanees Mutter über die Existenz von Geistern aufzuklären und ein Kind zu zeugen. Wo er heute ist, ob er überhaupt noch lebt, weiß Mrs. Carlile nicht.

Dann brechen sie auf. Zum Sheriff sind sie jetzt doch nicht mehr gekommen, aber was Ray Morales zu dem Baum und unter Websters Einfluss gebracht hat, ist im Endeffekt auch eigentlich relativ egal. Der Abschied von Gideon ist jedenfalls herzlich, der von Cal ein kühl-neutrales Nicken und der von Sam ein verlegenes „bis dann“. Und auch auf der Heimfahrt wieder fliegen die Gedanken unkontrolliert in Ethans Kopf umher.

Am Abend, im Motel, schreibt er Samantha einen Teil seiner Überlegungen. Dass er es ihr hätte erzählen sollen. Dass es ihm leid tut. Dass es aber nicht das richtige Thema für eine Kneipe war. Dass er Angst davor hatte, wie sie reagieren würde, das schreibt er nicht. Aber dass er es ihr noch erzählen wird, versprochen. Ehe er sich durch Druck auf die ‚Löschen‘-Taste davon abhalten kann, klickt er auf ‚Senden‘.

Es dauert einige Tage, bis Sam antwortet. Ethan weiß nicht genau, was er als Reaktion erwartet hat, aber ihre Nachricht trifft ihn unverhofft und wie ein Schlag in die Magengrube. Wie ein Guss eiskalten Wassers über den Kopf, der ihn zur Besinnung bringt.
„Ok… ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat, aber du musst dich mir gegenüber nicht zu irgendwas verpflichtet fühlen. Wirklich. Alles locker. Wir sehen uns…“

Ethan schluckt schwer. Drecksmist. Er hat sich da in was reingesteigert. Samantha nicht. Und sie hat recht damit. Es geht ja ohnehin nicht. Er muss verdammt nochmal aufhören, in ihr etwas zu sehen, das sie nicht sein kann. Wenn das nur nicht so elend schwer wäre. Das Gefühl des kurzen Momentes, als Sams Hand in der seinen lag, lässt ihn nicht los. „Ich hab drüber nachgedacht“, hat er ihr geschrieben. „Du gehst mir nicht aus dem Kopf“, heißt das im Klartext. „Du bist immer in meinen Gedanken. Mal weiter vorne, mal weiter hinten. Aber immer da.“ Nur das konnte er natürlich nicht schreiben. Und das kann er ihr auch nicht sagen. Wenn er trotz aller Disziplin schon nicht in der Lage ist, diese Gefühle zu unterbinden, dann kann er zumindest dafür sorgen, dass sie nichts davon mitbekommt. Um ihrer beider willen. Davon darf sie nie erfahren.

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