[Karneval der Rollenspielblogs] Januar 2018: Vom Füllen von Lücken

Ich habe eine ganze Weile überlegt, was für einen Beitrag ich für den aktuellen Karneval der Rollenspielblogs schreiben könnte, der sich im Januar mit dem Thema „Anfänge und Übergänge“ beschäftigt. Etwas schreiben wollte ich aber auf jeden Fall: Immerhin gehöre ich nach dem letzten Karneval im Dezember – diesmal gemeinsam mit Niniane von storiesandcharacters – nicht nur wieder zu den Ausrichtern des Umzugs, sondern hatte auch den Vorschlag für das Monatsthema gemacht.

Nachdem ich erst keine Ideen hatte und dann den einen oder anderen flüchtigen Gedanken wieder verworfen habe, kam ich darauf, dass ich doch anhand eines praktischen Beispiels zeigen könnte, wie ein sehr simples, nur für einen One-Shot gestricktes Charakterkonzept im Laufe der Zeit immer mehr Fleisch auf die Knochen bekam und zu einem komplexen Ganzen wurde.

Die Grundlage: Charakterplanung

An fing alles mit unserem traditionellen Hühner-Halloween. In der so genannten ‚Hühnerrunde‘, die so heißt, weil sie nur aus Frauen besteht, veranstalten wir in unregelmäßigen Abständen zumeist spielleiterloses Drama™ in unterschiedlichsten Settings, für das wir unsere Charaktere, um das Dramapotential auch auszuschöpfen, in den allermeisten Fällen vor dem Spiel miteinander verknüpfen. Zu Halloween wählen wir natürlich thematisch passende Runden – so entschieden wir uns 2015 für eine Session im Setting der TV-Serie ‚Supernatural‘. Wie alle Hühnerrunden sollte auch diese Halloween-Session ein One-Shot werden, und wie bei allen Hühnerrunden wollten wir neben der Monsterjäger-Action auch Charakterinteraktion und Drama, also mussten die Charaktere natürlich miteinander verknüpft werden.

Ein erster Ansatz, um die Gruppe gleich gemeinsam an einem Ort zu haben, war die Entscheidung, dass alle Charaktere irgendwie mit einer jagenden Studentenverbindung zu tun haben sollten. Eine Mitspielerin wollte eine Dozentin spielen, die sich mit dem Übernatürlichen auskennt, drei weitere entschieden sich für Studenten, während ich selbst ein Kontrastprogramm zu meinem damaligen Hauptcharakter, einem gebildeten und wortgewandten Sozialcharakter, haben wollte. Sprich: Ich plante einen eher hartgesottenen Hunter, den ich mir als den etwas ruppigeren, ungeschliffenen Typen vorstellte, der gar nicht studiert hatte, sondern für die Verbindung als Handwerker arbeitete, wenn er nicht gerade als Jäger für sie unterwegs war. Außerdem sollte er nicht aus einer alten Jägerfamilie kommen, denn das taten die anderen alle schon. Als Grund, warum er nicht mal einen High School-Abschluss hatte, dachte ich mir, dass er mit 16 von irgendeinem Monster angegriffen wurde, das er irgendwie besiegen konnte und dann ins Jägerdasein rutschte, weswegen er die Schule nie abgeschlossen hatte. Was das für ein Monster gewesen sein könnte, darüber machte ich mir für den One-Shot keine Gedanken.

Ansonsten sollte es ja, wie gesagt, Verknüpfungspunkte und Dramapotential geben, also beschlossen die Spielerinnen der drei Studenten, dass die beiden Mädels in denselben Jungen verknallt sein sollten, während er deren Gefühle gar nicht so groß erwiderte, sondern sich hauptsächlich für sein Studium interessierte. An das Übernatürliche glaubte er, obgleich Sproß einer alten Jägerfamilie, auch nicht, während alle anderen zumindest grob im Bilde waren.

Die Spielerin der Dozentin und ich überlegten uns, ganz im Sinne der Dramatauglichkeit, dass unsere Charaktere vor einiger Zeit einmal etwas miteinander gehabt haben sollten. Weil es aber ein Supernatural-Abenteuer sein sollte, vor allem aber nur ein One-Shot, bei dem man den Klischeefaktor ruhig ein bisschen hochdrehen konnte, beschloss ich, dass mein Charakter unter einem Fluch stehen sollte, der es ihm verbot, öfter als zweimal mit ein- und derselben Frau zu schlafen, weil diese beim dritten Mal sterben würde. Deswegen hatte er die Dozentin nach deren zweitem One Night Stand, als sich abzeichnete, dass sich da gefährliche Gefühle entwickelten, ohne Erklärung, sondern nur mit dem klassischen „es liegt nicht an dir, es liegt an mir“ sitzen lassen. Was genau es mit dem Fluch auf sich haben sollte, von wem er gekommen war und unter welchen Umständen, das ließ ich für den One-Shot genauso offen wie das Monster, das ihn in die Jägerlaufbahn gezwungen hatte.

Der One-Shot

Für den One-Shot stand also neben Name, Aussehen und Alter an Hintergrund lediglich fest: keine etablierte Jägerfamilie, mit 16 wegen eines Monsters von zuhause weg, verflucht, Raucher (auf die Idee, dass der Charakter rauchte, wäre ich selbst so direkt wahrscheinlich nicht gekommen, aber der Typ auf dem Charakterbild, das eine Mitspielerin für mich fand, hatte eine Zigarette im Mund, also war das etabliert, und es passte ja auch perfekt zu dem, was mir vorschwebte). Die wenigen Fakten reichten für diese eine Session auch vollkommen aus: Das angestrebte Drama samt der erhofften Aussprache zwischen Jäger und Dozentin fand statt, und die traumatischen Ereignisse, an deren Ende nur noch die beiden übrig waren, während sie die drei ihnen anvertrauten Studenten alle verloren hatten (einer gestorben, zwei in einer Parallelwelt verschwunden), ließen sie sogar wieder zueinander finden.

Obwohl ich mir das vorher gar nicht so genau überlegt hatte, spielte ich den Charakter in der Session als überaus wortkarg. Das passte in meinen Augen einfach zu der Tatsache, dass er vorher nicht über seinen Fluch geredet hatte, sondern kommentarlos abgehauen war. So musste natürlich der Anstoß zu der Aussprache von der Dozentin ausgehen, während Ethan selbst sich dann sehr schwer damit tat, die Worte zu finden. Und auch in der Interaktion mit den Studenten machte es mir großen Spaß, den Charakter als grimmig-ruppig und einsilbig agieren zu lassen; als jemanden, der seine Schützlinge als Klotz am Bein und diese ihn als Spaßbremse erachteten, obwohl er mit Mitte 20 gar nicht so viel älter war als sie.

Die Kampagne

Drei Hühner hatten 2011/2012 mit ein paar anderen Leuten und wechselnder Spielleitung eine relativ kurzlebige Kampagne in dem Setting gespielt, die nach 15 Sessions aber leider eingeschlafen war. Jetzt überlegten sie, die Runde wieder aufleben zu lassen und fragten mich, ob ich nicht mit meinem Halloween-Charakter neu einsteigen wollte. Und klar wollte ich: Ich mag das Setting, ich mag die Mischung aus Action und Drama, und auch mein Charakter hatte mir in der einen Session schon sehr viel Spaß gemacht. Für das Kampagnenspiel musste er natürlich von Turbo-Fate auf Fate Core umgebaut werden, aber das war relativ schnell gemacht, zumal die Aspekte ja größtenteils gleich bleiben konnten. (Hier fällt mir übrigens auf, dass das ja beinahe auch ein bisschen das Übergangs-Thema des Karnevals bedient: um so besser.)

Mit den neuen Werten bewaffnet, aber noch immer mit demselben grob gehaltenen Hintergrund ging es in die Kampagne, in der wir schon wenige Wochen später unser erstes Abenteuer nach dem Reboot spielten. Bei diesem ersten Abenteuer kam Ethans Hintergrund bis auf ein kleines Zusammenzucken seinerseits, als irgendwann ein Geister-NSC die Weisheit von sich gab, dass die Liebe nicht alles heilen könne, noch nicht wieder zur Sprache.

Der Fluch

In Ethans zweitem Abenteuer geschah auch nichts, was die Lücken in seinem Hintergrund groß weiter aufgefüllt hätte – nur dass eine gute NSC-Hexe den Fluch an Ethans Schatten sehen konnte und anbot, Nachforschungen darüber anzustellen, ob und inwieweit man ihn wieder loswerden könnte. Wobei, doch. Den grundlegenden Rahmen für ein extrem wichtiges Detail legte ich in diesem Abenteuer fest: Wie und warum es zu Ethans Fluch gekommen war. Als die besagte gute NSC-Hexe wissen wollte, was es damit auf sich habe, erklärte Ethan ihr, eine Frau habe etwas von ihm gewollt, er aber nicht von ihr, worauf sie ihn verflucht habe: Wenn sie ihn nicht haben könne, solle auch keine andere ihn bekommen.

Die SL dieser Session schlug dann im Nachgang vor, dass Ethan über die reine Stimme hinaus keinerlei Erinnerung an die Fluchwirkerin mehr haben solle: Sie hatte angefangen, sich einige Gedanken zu dem Fluch und dem Metaplot und zum Fluchlösen zu machen, und ein Gedächtnisverlust schien wohl zwingend zu ihren Ideen zu gehören. Das war aber völlig in Ordnung für mich, denn Genaueres dazu hatte ich ja ohnehin noch nicht festgelegt.

In unserer dritten Session wurde es dann hintergrundtechnisch richtig interessant. Dieses Abenteuer spielten wir bei einer anderen SL (in der Gruppe wechseln wir munter die SLs durch, je nachdem, wer von uns gerade die Idee für ein Szenario hat), die zur Vorbereitung auf die Sitzung von jedem Charakter eine Schuld wissen wollte, die ihn umtreibe. Für Ethan musste ich gar nicht lange überlegen, was das für eine Schuld sein könnte, auch wenn ich das vorher noch nicht explizit festgelegt hatte: Natürlich hing die Schuld mit seinem Fluch zusammen, und natürlich – maximales Drama! – war aufgrund des Fluchs seine damalige Freundin gestorben. Einen Namen – Carla – bekam diese Freundin bei der Gelegenheit auch gleich.

Natürlich wurden unsere jeweiligen Schuldaspekte während des Spiels angetriggert, was mich dazu brachte, mir über Carlas Wesensart und ihr Aussehen ein paar Gedanken zu machen und festzulegen, dass der Fluch sich in Blut aus der Nase geäußert hatte. Außerdem rettete die Gruppe in der zeitlosen Höllendimension, in die es uns in dem Abenteuer verschlug, einen Jungen, der dort seit ca. 90 Jahren gefangen und in dieser Zeit ununterbrochen auf der Flucht gewesen war und dem gegenüber Ethan einen ganz unmittelbaren, heftigen Beschützerinstinkt an den Tag legte. Dieser fühlte sich im Spiel einfach richtig an, aber warum Ethan so beschützerisch reagierte, dafür gab es so per se zunächst gar keine direkte Erklärung.

Das Monster

Danach tat sich an Ethans Hintergrund ein paar Abenteuer lang erst einmal nichts weiter, außer dass ich während einer Sitzung spontan festlegte, dass Ethan an der Highschool Basketball gespielt hatte. Aber dann kam eine Geschichte, in deren Verlauf Ethan darauf angesprochen wurde, dass er wohl noch ziemlich jung gewesen sein musste, als er die Jägerlaufbahn einschlug, wenn er den Job schon seit 10 Jahren machte. Dies führte dazu, dass ich mir überlegte, was das eigentlich für ein Monster gewesen sein könnte, dem er als Junge begegnet war, und in das zugehörige Diary eine entsprechende Rückblende einbaute, die erste Reminiszenz dieser Art. Mit einem bisschen Nachdenken kam mir die Idee für eine Kreatur, die nicht aus dem Supernatural-Kanon stammte, sondern die ich mir selbst ausdachte: ein Monster, das sich unerbittlich an die Fersen seines einmal auserkorenen Opfers hängt und keine Ruhe gibt, bis es dieses nicht gerissen hat. Ethan war dem Viech irgendwie ein paar Monate lang entkommen, musste währenddessen aber ständig in Bewegung bleiben. Das war dann nämlich auch gleich die Erklärung, warum Ethan so vollständig hatte untertauchen müssen, dass er seinen Highschool-Abschluss darüber verpasste – und warum er seine Familie seit seiner Flucht nicht mehr gesehen hatte, wie ich mir eine Weile vorher auch schon überlegt hatte. Die Familie hatte ich in dem Zusammenhang auch irgendwann definiert: Eltern, drei Kinder, von denen Ethan der Älteste war, ein jüngerer Bruder und eine kleine Schwester. Als Ethan mit 16 fliehen musste, hatte ich mir überlegt, war sein Bruder 13 und die kleine Schwester 8 Jahre alt.

Und auf einmal machte es auch Sinn, warum Ethan in dem Weihnachtsabenteuer so instinktiv und so heftig auf Artie reagiert hatte: Der Kleine war genauso alt, wie sein Bruder Alan es gewesen war, als Ethan von zuhause weg musste. Und schon nur knapp fünf Monate lang ununterbrochen auf der Flucht gewesen zu sein, war die reine Hölle gewesen – Artie hingegen hatte das mehrere Jahrzehnte lang mitgemacht.

Ungefähr um diese Zeit kamen wir in der Gruppe auf die Idee, Ethan mit Caleb Fisher, einem der Altcharaktere aus der ursprünglichen Runde, zu verknüpfen. Dessen Spielerin hatte beim Reboot zwar mitgemacht, aber bislang mit einem anderen, neuen Charakter. Jetzt wollte sie diesen Ursprungscharakter doch wieder auspacken, und da der, ein altgedienter Jäger in den 40ern, im Alter von 16 Jahren selbst von einem Mentor unter dessen Fittiche genommen worden war und außerdem von seinen Charaktereigenschaften durchaus einige Ähnlichkeiten mit Ethan aufwies, die dieser leicht von dem Älteren übernommen haben konnte, ergab sich der Schluss, dass Ethan von diesem anderen Jäger vor dem Monster gerettet und anschließend von ihm ausgebildet worden war, beinahe von selbst. Aber die beiden Charaktere waren einander bisher ja in-game nicht begegnet, und während der Ursprungskampagne hatte es logischerweise auch nie eine Erwähnung von Ethan gegeben. Außerdem mussten auch der Fluch und der Tod von Carla noch irgendwo untergebracht werden – diese Ereignisse mussten ja wohl irgendwann nach Ethans Flucht und nach der Begegnung mit Cal stattgefunden haben. Daher (und außerdem: maximales Drama!) beschlossen wir, dass es zwischen den beiden zu einem Zerwürfnis gekommen sein musste. Was für ein Zerwürfnis das gewesen war bzw. wie es genau ausgesehen hatte, das definierten wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht im letzten Detail. Wir legten nur fest, dass es vermutlich irgendwie mit Carla zu tun gehabt haben musste; vielleicht, weil Caleb der Ansicht gewesen war, Jagen und eine feste Beziehung vertrügen sich nicht, das sei zu gefährlich. Wie genau Cal Ethan gegen das Monster geholfen hatte, das legten wir ebenfalls noch nicht fest.

Einige Zeit später trafen die beiden Charaktere dann endlich zum ersten Mal in-game aufeinander. Das Abenteuer selbst war wieder mal eine sehr geniale Mischung aus Action und Drama, auch und gerade wegen des Konflikts zwischen den beiden Jägern. Im Diary zu dieser Session dann nutzte ich erneut die Gelegenheit für einige Rückblenden: Wie Ethan und Caleb einander kennengelernt hatten, wie sie gemeinsam mit Ethans Monster fertiggeworden waren, wie Cal Ethan zum Rauchen brachte und wie sie sich im Guten trennten, als Ethan Carla kennenlernte, wie es dann aber nach Carlas Tod zu dem Zerwürfnis zwischen den beiden kam. Diese Fakten gemeinsam mit Calebs Spielerin festzuzurren, machte mir riesigen Spaß, und sie, tatsächlich beinahe wie in einer Fernsehserie, als Rückblenden in das Diary einflechten zu können, war besonders genial. Die Rückschau auf seine monatelange Flucht zementierte zudem Ethans in den Spielsitzungen und der Korrespondenz immer stärker zutage getretene Vorliebe für die Wildnis. Und ich konnte zwei kleine, eigentlich nebensächliche Fakten, die in zuvor gespielten Sessions vorgekommen waren, in den Rückblenden aufgreifen und somit gewissermaßen den Grundstein für diese bereits bestehenden Fakten legen. Das war auch sehr lustig.

Die Familie

Damit lagen so ziemlich die meisten Eckdaten von Ethans Vergangenheit jetzt fest. Dass er nach seiner Flucht seine Familie nicht mehr gesehen hatte und seine Leute ihn für tot halten mussten, war ja bereits seit einer Weile als Fakt gesetzt. Auch die Mitglieder von Ethans Familie standen bereits seit längerem fest, aber eine Weile später kam ganz zufällig ein weiteres kleines Detail dazu. Als ich anfangs einen Namen für den Charakter suchte und ihn Ethan Gale nannte, tat ich das, weil ich den Klang dieses Namens ziemlich schmissig und passend zum geplanten Charakterkonzept fand. Ich hatte keinerlei Ahnung, dass die Hauptfigur in L. Frank Baums ‘Zauberer von Oz’, die ich die ganze Zeit nur als ‘Dorothy’ im Kopf hatte, tatsächlich Dorothy Gale heißt. Als ich das nun zufällig erfuhr (ich weiß gar nicht mehr, in welchem Zusammenhang eigentlich), beschloss ich sofort, das in den Charakterhintergrund einzubauen und mit einer weiteren Rückblende auch offiziell zu machen: Ich legte fest, dass die Kenntnis der Oz-Romane gewissermaßen eine Familientradition darstellte, dass die Familie natürlich alle Bände der Reihe besaß, dass die Geschwister als Kinder häufig ‘Oz gespielt’ hatten und dass der Kosename, mit dem Ethans Vater seine Frau immer bedachte, ‘Dorothy’ war.

Einige Abenteuer später spielten wir dann eine hoch emotionale Session, in der Ethan endlich wieder mit seiner Familie in Kontakt trat. Hier übernahmen vier Mitspielerinnen aus der Runde Ethans bis dahin nur grob definierte Familienmitglieder als Gast-NSCs und gaben ihnen deutliche Kontur, was sehr, sehr cool war.

Der Fluch zum Zweiten

Ein wichtiges – wenn nicht das wichtigste – Puzzleteil an Ethans Hintergrund war allerdings noch immer nicht festgezurrt: Was genau hatte es mit dem Fluch auf sich? Warum war er verflucht worden? Wer hatte ihn verflucht?
Das einzige, das dazu feststand, war ja bisher die Aussage “Wenn ich dich nicht haben kann, soll auch keine andere dich haben” gewesen, dazu die Tatsache, dass Ethan sich an die verfluchende Hexe nicht erinnern konnte.

Neben dem normalen Kampagnenspiel haben wir in unserem Forum auch einen Korrespondenzthread am Laufen, in dem Charaktere oder NSCs einander zwischen den Abenteuern gelegentlich Nachrichten schreiben, weil durch den Poolcharakter der Gruppe ja immer unterschiedliche Charaktere an den jeweiligen Abenteuern teilnehmen. Manchmal haben diese Nachrichten reinen Fluff-Charakter, idealerweise sollten sie aber doch irgendwas zum Spiel und zum Fortgang der Geschichte beitragen.
Kurz nach der Spielsitzung, in dem Ethan und Caleb einander wieder begegneten, erfuhr Ethan aus einer solchen Nachricht von der weißen NSC-Hexe, die versprochen hatte, wegen seines Fluchs Nachforschungen anzustellen, dass Flüche oftmals nach sieben Jahren von selbst endeten, Ethans Fluch aber so stark war, dass es bei ihm dafür keinerlei Anzeichen gab. Zwei Abenteuer später fand Ethan, der natürlich inzwischen selbst auch eigene Nachforschungen aufgenommen hatte, Hinweise darauf, dass der Fluch am 5. Juli gewirkt worden sei. Die SL der Session meinte, sie habe das Datum völlig willkürlich gewählt, ohne sich groß Gedanken darum zu machen, aber für mich passte das tatsächlich perfekt: Es war die Gelegenheit für eine weitere Diary-Rückblende, in der Ethan und Carla gemeinsam den Unabhängigkeitstag feierten und er dann kurz nach Mitternacht den Fluch abbekam. Dass der Fluch sich in einem Aneurysma geäußert hatte, kam auch ungefähr zu dieser Zeit heraus – Ethan wurde in-game gefragt, woran Carla gestorben war, und ich musste etwas finden, was auf die Beschreibung „Blut aus der Nase“ aus dem Weihnachtsabenteuer passte. Außerdem kam mir ein Aneurysma als durchaus stimmige Lösung vor.

Bis dahin hatte ich eigentlich gedacht, Ethan sei vielleicht so zwei bis drei Jahre lang mit Cal durch das Land gezogen und schleppe seinen Fluch so seit etwa fünf bis sechs Jahren mit sich herum, habe Carla also verloren, als er so ungefähr 21 Jahre alt war. Fest definiert hatte ich das allerdings noch nicht, und jetzt, wo die Hexenplot-SL den Fakt mit dem ‘der Fluch besteht seit mindestens 7 Jahren und wurde im Juli gesprochen’ geschaffen hatte, musste ich kreativ werden und Daten jonglieren, damit meine von mir vorher festgelegten Fakten trotzdem alle noch stimmten.

Fest stand: Ethan war mit 16 von zuhause weg und – unterbrochen von einer längeren, aber nicht im letzten Detail definierten Auszeit mit Carla – seit etwas über 10 Jahren als Jäger unterwegs. In der Rückblende von der Begegnung mit Caleb hatte ich definiert, dass Ethan ‘im Herbst, kurz nach seinem sechzehnten Geburtstag’ seinen Führerschein gemacht hatte und dass es Mitte April war, als er Cal traf. Aus der Rückblende von seiner ersten Begegnung mit dem Monster ging hervor, dass diese im Winter stattgefunden hatte.
Wenn aus dem fixen Zeitraum von 10 Jahren allerdings bereits 7 Jahre für den Fluch und mehrere Monate für die Flucht vor dem Monster veranschlagt werden mussten, dann konnte weder das Herumziehen mit Cal noch die Idylle mit Carla so lange gedauert haben, wie ich bisher angenommen hatte, und Ethan musste bei Carlas Tod etwas jünger gewesen sein als eigentlich geplant.
Da wir ungefähr in Echtzeit spielen und weil mir das Ausknobeln in Verbindung mit echten Jahreszahlen tatsächlich leichter fiel als ohne, stand nach einigem Überlegen und Hin- und Herschubsen von Daten am Ende folgende Zeitleiste:

  • Oktober 1989: Ethans Geburtstag
  • Ende November/Anfang Dezember 2005: Flucht vor dem Monster
  • Mitte April 2006: Ethan trifft Caleb
  • ca. Mitte Dezember 2007: Ethan begegnet Carla, geht im Guten mit Cal auseinander
  • 5. Juli 2008: Ethan wird verflucht
  • ca. Mitte Juli 2008: Carla stirbt; Zerwürfnis mit Cal; Ethan zieht wieder los
  • Frühjahr/Sommer 2015: Ethan nimmt den Job bei der jagenden Studentenverbindung an
  • Halloween 2015: Spielbeginn

Es folgten etliche Abenteuer ohne großen Bezug auf Ethans Hintergrund, aber dann trieb die Hexenplot-SL in einem eigens darauf zugeschnittenen Szenario die Fluchsache voran. Bis dahin hatte Ethan bereits den Vornamen der Hexe erfahren und ein Foto von ihr bekommen, und es hatte sich herausgestellt, dass sie in der sesshaften Zeit mit Carla eine Arbeitskollegin Ethans gewesen war. Außerdem hatte die weiße NSC-Hexe ihm einen Hinweis darauf gegeben, welche Zutaten alles zum Fluchlösen benötigt würden. Dazu gehörte unter anderem auch ‚etwas von der Hexe‘, was die Gruppe sich in diesem Abenteuer beschaffen wollte.

Die Konfrontation mit der Hexe, die Ethan verflucht hatte, war die beste Gelegenheit, sich darüber Gedanken zu machen, wie das mit dem Fluch denn nun eigentlich genau gelaufen war. Im Laufe des Spiels hatte ich mir überlegt, dass tatsächlich nur Carla an dem Fluch gestorben war und Ethan seither immer sehr darauf geachtet hatte, den Fluch kein weiteres Mal auszulösen, sprich: sich seither immer strikt auf One-Night-Stands oder, wie bei der Dozentin aus dem One-Shot, auf maximal zwei Begegnungen beschränkt hatte. (Dies war übrigens auch die perfekte Erklärung dafür, warum er sich in sämtlichen Spielsitzungen, wo das ein Thema gewesen war, in Sachen Alkohol immer moderat gegeben hatte: Das Risiko, sich abzuschießen und dann im Vollsuff den Fluch zu ignorieren, war keines, das er einzugehen bereit war.)

Aber irgendwie musste Ethan ja erfahren haben, dass überhaupt ein Fluch auf ihm lastete. Die in der ersten Rückblende festgelegte Aussage „Wenn ich dich nicht haben kann, soll dich auch keine andere bekommen“ war kein direkter Hinweis auf einen Fluch, und vor allem nicht darauf, wie dieser wirkte. Und auch die Tatsache, dass Carla, wie bereits definiert, an einem Aneurysma gestorben war, sagte noch nichts darüber aus, dass der Fluch von dreimaligem Sex ausgelöst wurde. Wenn ich nicht wollte, dass Ethan sich erst durch mehrfache schreckliche Erfahrung irgendwann die Zusammenhänge erschlossen hatte (und dazu war ich nicht bereit; das hätte mir den Charakter unspielbar gemacht oder zumindest das Konzept, wie ich es mir vorstellte und bis dahin im Spiel entwickelt hatte, völlig umgeworfen, weil der Charakter dann noch viel, viel kaputter hätte sein müssen, als er das durch das Erlebnis mit Carla ohnehin schon war), dann musste er irgendwie eindeutig mitbekommen haben, was genau lief. Aber erst nach Carlas Tod, denn hätte er vorher davon gewusst, dann hätte er es so weit nicht kommen lassen. In-game hatte ich ihn allerdings schon einige Male erwähnen lassen, dass er die Sache ’nicht ernst genommen‘ habe – also musste er vorher schon eine kleine Ahnung gehabt haben, aber eben nicht genug, um die richtigen Schlüsse zu ziehen oder auch nur zu ahnen, was es damit tatsächlich auf sich hatte.
Mit diesen Gedanken im Hinterkopf kam ich darauf, dass mit dem Fluch vielleicht zwei Dinge verbunden waren: erstens, dass Ethan mit jedem Mal als leises Stimmchen im Kopf eine zunehmende Warnung hörte, dass es aber auch ein Teil des Zaubers war, dieses leise Stimmchen als unwichtig abzutun oder zu denken, dass es von draußen kam oder dergleichen, es jedenfalls nicht als bedeutsam zu erachten, bis es zu spät war.

Und noch einen zweiten Zweck muss das leise Stimmchen im Kopf erfüllen: Wenn er den Fluch loswerden sollte (und ich hoffe doch schwer, dass er ihn irgendwann einmal loswird – von den drei für das Fluchlöseritual nötigen Zutaten sind zwei bereits beschafft), dann muss Ethan wissen, und zwar ganz klar und mit eindeutiger Sicherheit wissen, dass der Fluch nicht mehr besteht. Denn sonst würde er ja das Risiko des dritten Mals im Leben nicht eingehen, oder vielleicht physisch gar nicht dazu imstande sein, das Risiko einzugehen, auch wenn man ihm wer weiß wie glaubhaft versichert hätte, dass das Ritual erfolgreich war. Dafür braucht es dann schon einen echten Beweis.

Das Diary von der Konfrontation mit der Hexe war auch die beste Gelegenheit für die drei noch fehlenden Rückblenden im Zusammenhang mit dem Tod von Carla, die hier auch endlich einen Nachnamen bekam. Und diese Rückblenden klärten, wo Ethan sein Kommunikationsproblem eigentlich her hatte. Nach dem ersten Abenteuer hatte ich mir für den Charakter nämlich eine ganz besondere Sprechweise angeeignet: nicht nur schweigsam, sondern, wenn er denn mal den Mund aufmachte, tatsächlich abgehackt, unvollständig und jede nur mögliche Silbe einsparend. Schon relativ am Anfang hatte ich in einem Diary mal die Formulierung „als Worte noch keine Tonnen wogen und ihr Gewicht in reinem Gold kosteten“ verwendet, und in einem noch früheren Diary stand bereits etwas davon, dass es „mit manchen Leuten komische Sachen macht, wenn jemand stirbt, den sie lieben – dafür sorgen, dass sie sich in sich zurückziehen und das Reden verlernen, zum Beispiel“. Dass es also natürlich mit Carlas Tod zu tun hatte, stand demnach schon lange fest – aber in diesen Rückblenden definierte ich jetzt endlich, wie und warum genau.

Apropos Rückblenden. Da die Spielerin der Dozentin nach dem One-Shot erst einmal nicht weiter dabei war, beschlossen wir, dass die beiden Charaktere nach dem Halloween-Abenteuer es zwar für eine Weile miteinander versucht hatten, nach einigen Wochen dann aber feststellten, dass da nicht genug Gefühle für eine reine Händchenhalten-und-Kuscheln-Beziehung waren. Wie genau das abgelaufen war, überlegte ich mir gut ein Jahr später, als die Spielerin einer der verschwundenen Studentinnen auch wieder in die Runde einstieg und ihren Charakter aus der Parallelwelt – die wir im Nachhinein als das Fegefeuer umdefinierten, um settinggetreuer zu sein – zurückkommen ließ. Das Abenteuer, bei dem die ehemalige Studentin und Ethan sich erstmals wiedertrafen, hatte beabsichtigte Parallelen und Déjà Vu-Effekte zum Halloween-Oneshot, weswegen das die perfekte Gelegenheit war, im Diary zu dem Abenteuer mittels Rückblende auf den Oneshot, für den ich damals kein Diary verfasst hatte, einzugehen und außerdem die Trennung von der Dozentin noch einmal etwas genauer zu beleuchten.

Ach ja, übrigens, wo ich es ja anfangs auch mal kurz vom Übergangsthema (von Turbo-Fate zu Fate Core) hatte: Ein weiterer Übergang war definitiv auch mein Wechsel des Charakterbildes. Für den One-Shot hatte mir ja, wie einfangs erwähnt, eine Mitspielerin ein Charakterbild vorgeschlagen, mit dem ich den Charakter ca. 9 Monate lang spielte. Aber dann spielten wir ein Abenteuer, bei dem es die Charaktere auf einen mondänen Galaabend verschlug. Die anderen hatten alle Bilder von Schauspielern für ihre Charaktere gewählt und suchten jetzt für diese Fotos im Smoking bzw. Abendkleid heraus. Das hätte ich für Ethan gerne auch gemacht, konnte aber nicht, weil sein bisheriges Charakterbild nur ein generisches Foto aus DeviantArt war. Zur Gala-Runde selbst klappte es zwar nicht, aber kurz darauf fand ich tatsächlich erst ein Foto, das super passte, dann noch ein zweites, das den Charakter geradezu ideal einfing. Und aus einem anderen Film mit dem Schauspieler gab es als kleinen Extra-Bonus sogar ein Bild mit Zigarette. Ha. Übergang gelückt.

Fazit

Ich will bei weitem nicht behaupten, dass es immer und für alle Charaktere und Spielertypen die richtige Wahl ist, so vorzugehen. Aber zumindest in diesem Fall klappte das Prinzip, den Charakterhintergrund zu Spielbeginn nur ganz lose zu erstellen und die Lücken im Verlauf des Spiels zu schließen, sobald sie relevant wurden, einfach perfekt. Ich persönlich fahre mit dieser Vorgehensweise ohnehin meistens ziemlich gut, aber Ethan ist tatsächlich derjenige meiner Charaktere, wo es bisher am besten klappte: wo aus überhaupt kaum einer Info am Anfang über die Zeit ein richtig komplexer und voll ausgebauter Hintergrund wurde. Ich finde es toll, dass bei den Bausteinen seiner Geschichte alles so perfekt ineinander greift und sich alle Lücken nahtlos schlossen, ohne dass ich auch nur ein vorher bereits festgeschriebenes Detail in irgendeiner Form groß hätte umbauen müssen. Vielleicht ist das auch der Grund, warum der Charakter mir so viel Freude bereitet und ich auch so großen Spaß daran habe, seine Erlebnisse als Diaries festzuhalten – auch und gerade inklusive Rückblenden. Wobei… die wirklich wichtigen Rückblenden sind inzwischen soweit alle abgefrühstückt: Die einzige, die zum momentanen Zeitpunkt noch fehlen könnte, oder zumindest die einzige, die mir einfällt, ist vielleicht eine, die beleuchtet, wie und warum Ethan sein Nomadenleben aufgab und den festen Job bei der Studentenverbindung annahm. Aber dazu habe ich bisher noch keine richtige Idee – ein paar ungeordnete Gedanken, dass ein flüchtig erwähnter Job im nördlichen Maine vielleicht dazu geführt haben könnte. Aber das lasse ich einfach noch ein bisschen gären und die genauen Umstände undefiniert – irgendwann wird der richtige Moment für eine solche Rückblende (oder auch irgendeine andere) schon kommen. Ich werde ihn erkennen, wenn er mir begegnet.

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